10.09.2009
66. Filmfestspiele von Venedig 2009

Die Abendröte des Westens

Between Two Worlds
Between Two Worlds
(Foto: trigon-film)

Lust am Untergang: Beim Filmfestival von Venedig schwelgen die Filmemacher in diesem Jahr vor allem in Endzeitvisionen verschiedenster Art

Von Rüdiger Suchsland

Die letzten Tage der Menscheit sind ange­bro­chen. Zumindest wenn man dem Kino glaubt, und den Regis­seuren aus aller Welt, die derzeit auf dem Film­fes­tival von Venedig ihre neuesten Werke vorstellen. Ob aus Amerika, aus Asien, oder aus Europa, ob Spielfilm oder Doku­men­ta­tion – Endzeit­vi­sionen sind das eine große verbin­dende Thema des dies­jäh­rigen Programms. Der Anspruch der Filme­ma­cher ist dabei durchaus grund­sätz­lich. Zum Beispiel in dem neuesten Film des ameri­ka­ni­schen Dokustars Michael Moore: Capi­ta­lism: A Love Story.

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Rom als Metapher. »Rome was the largest and most beautiful city of the ancient world. The magni­fi­cent fassade of the empire, however could not conseal the seeds of decay.« – diese Sätze über das alte Rom leiten den Anfang des Films ein: Das alte Rom, warum ging es unter? stellt Moore eine sehr tradi­ti­ons­reiche Frage. Die Antwort liefert er gleich mit: Vom Skla­ven­hal­ter­staat ist die Rede, von Caes­a­ren­wahn, von allge­meiner Dekadenz. Die Parallele zur Gegenwart stellt Moore dadurch her, dass er in die Bilder aus alten Holly­wood­san­da­len­filmen Bilder von George W. Bush und seinem Kabinett hinein­schneidet, und Bilder der Banken­krise. Der Bezug ist klar: Die Banken- und Finanz­krise, von der sein Film eigent­lich handelt, ist nur Symptom eines allge­meinen kultu­rellen und poli­ti­schen Verfalls. Und im Folgenden malt Moore dann mit Wut, aber auch mit spürbarer Lust ein grelles Szenario des mora­li­schen wie mate­ri­ellen Desasters, dass die USA aus seiner erfaßt hat. Immer wieder zeigt er platt­ge­machte Fabriken und zuge­na­gelte Häuser – die Ruinen des Kapi­ta­lismus. Und Rom als Metapher. Aber für was?

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Versteckter Staats­streich. Stil und Filmkunst kümmern den ameri­ka­ni­schen Dokustar ja bekannt­lich sowieso eher wenig, um so mehr kraft­volle Botschaften. Auch in seinem neuen Dokuessay, Capi­ta­lism: A Love Story legt der Regisseur von Bowling for Columbine und Fahren­heit 9/11 den Finger in die offenen Wunden der USA. Diesmal geht es um Geschichte und Gegenwart der Finanz­wirt­schaft, insbe­son­dere darum, wie auf dem Höhepunkt der Banken­krise 2008 Gesetze durch den US-Kongreß gepeitscht wurden, durch die der Staat für die Schulden der Wall Street haftbar gemacht wird – »eine Art versteckter Staats­streich« lautet Moores Fazit. Leider bietet sein Film ausschließ­lich ameri­ka­ni­sche Nabel­schau. Würde Moore mit einer ähnlichen Kombi­na­tion aus Neugier und Sendungs­be­wusst­sein zum Beispiel in Deutsch­land von Abwrack­prämie, Commerz­bank-Einstieg und Garantien für zahlungs­un­fähige Unter­nehmen erzählen, dürfte er auch fündig werden. Statt­dessen häuft er diverse Beispiele für den Untergang der US-Wirt­schaft und die schlei­chende Enteig­nung der Bürger auf – das ist etwas zu viel und etwas zu durch­ein­ander, sodass die wirklich brisanten Infor­ma­tionen leicht übersehen werden: Etwa die, dass zwischen 1936 und 1981, zu Zeiten des größten Wohl­stands der USA in den 50er Jahren höhere Einkommen mit niemals weniger als 70, zum Teil mit bis zu 94 Prozent besteuert wurden!

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Moore, der im im gut gelaunten Unter­hal­tungs­ton­fall eines Propa­gan­da­films ein depres­sives Bild mit der frohen Botschaft kombi­niert, Wandel sei möglich, war der Beifall sicher – so richtig auf die Füße getreten wurde hier keinem der Anwe­senden, und der Grass­roots- und Bürger­auf­stands­op­ti­mismus, der im Film die Lösung aller Probleme sein soll, war jeden­falls sympa­thisch.

Im Interview, und das finden wir weniger sympa­thisch, erzählt Moore dann später, er habe einige Szenen des Films nur für einen einzigen Menschen gemacht... Bedeu­tungs­volles Schweigen...: für Präsident Obama. Welche Szenen es denn seien? Die über seinen Finanz­mi­nister. Die über Goldman-Sachs. Über die Verstri­ckungen der Problem­löser der Demo­kraten mit den Verur­sa­chern. Da wird Obama bestimmt was Neues erfahren haben! Mensch, Michael, wenn er das früher gewußt hätte. Obama und ich – das ist der heimliche Titel dieses und der kommenden Filme von Michael Moore. Wir dürfen noch auf manches gefaßt sein. Und da sind wir dann – Sympathie hin, Argumente her – wieder beim alten Rom, wo Hybris nicht weit weg liegt vom Caes­a­ren­wahn.

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Vater und Sohn. Einen Schritt weiter noch geht John Hollcoats The Road, eine nicht völlig gelungene Verfil­mung des vielfach ausge­zeich­neten gleich­na­migen Romans von Cormac McCarthy (dt.: Die Straße): Ein Vater und sein Sohn gehen auf einer Straße. Ohne Nahrung. Ohne Wasser. Leichen liegen am Weg. Die Welt in diesem unor­tho­doxen Science-Fiction-Film ist grau und tot, eine öde Mond­land­schaft – irgend­wann nach einer nicht weiter defi­nierten Kata­strophe. Ein hoch-pessi­mis­ti­sches, tief­trau­riges Szenario. Schreck­lich und darin schön.

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So hell wie das Lächeln der Stars im Blitz­licht­ge­witter, so dunkel sind bisher die Filme. Und doch auf ihre Art auch von strenger Schönheit. Eine merk­wür­dige Faszi­na­tion und Lust am Untergang scheint die Filme­ma­cher des Westens zur Zeit erfasst zu habe – so als müsse das Kino die Summe der Geschichte ziehen und uns einstimmen auf die schlech­teren Zeiten, die da kommen werden. »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr...« Rilke-Melan­cholie (s.u.) ist das Mindeste, was einen hier erwartet – und tatsäch­lich ist ja keine schönere Kulisse für Unter­gangs­themen denkbar, als Venedig, das schon Thomas Mann entspre­chend inspi­rierte.

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Between Two Worlds (»Zwischen Zwei Welten«) heißt der bisherige Über­ra­schungs­films in Venedig. Er kommt aus Sri Lanka und stammt von dem unbe­kannten Regisseur Vimukthi Jaya­sun­dara. Und auch er zeichnet das Panorama eines Welt­un­ter­gangs: Denn im Hinter­grund der Reise eines jungen Mannes durch die Provinz scheinen am Horizont merk­wür­dige Ereig­nisse auf: In den Städten gibt es Unruhen und Plün­de­rungen, das Fernsehen bricht zusammen – was den Menschen bleibt, sind archai­sche Riten und die Natur selbst.

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Gleich drei Zombie-Horror-Filme laufen in Venedig – allesamt zwar in grellen Bildern, aber doch mehr oder weniger subtile Bestand­auf­nahmen eines Lebens­ge­fühls, in dem viele Mitmen­schen nur noch als lebende Tote erscheinen. Neben Survival of the Dead, dem sechsten Zombie-Film von Altmeister George A. Romero kommen sie aus Spanien und aus Frank­reich.

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Aus Frank­reich stammt auch der bisher eindrucks­vollste Film im Wett­be­werb von Venedig: White Material von der Französin Claire Denis. Schau­platz ist ein namen­loser schwarz­afri­ka­ni­scher Staat. Isabelle Huppert spielt Maria, die Besit­zerin einer Kaffee­plan­tage. Es gibt einen Aufstand im Land, mörde­ri­sche Kinder­sol­daten-Banden der Rebellen ziehen durch den Busch, und drohen jeden Weißen zu massa­krieren. Die Farm soll evakuiert werden, aber Maria will mit ihrer Familie nicht gehen. »Unsere Schwarzen«, glaubt sie, werden uns doch nichts tun, »die kenne ich doch seit Jahren.« Was folgt, ist die Chronik einer angekün­digten Kata­strophe: Denn mehr und mehr regiert das Chaos, fallen die fest­ge­fügten Struk­turen des Lebens ausein­ander, brechen die Dämme der Zivi­li­sa­tion, bis auf der Farm zuerst Wahnsinn, dann Mord und Totschlag das Kommando über­nehmen.
Denis' Film ist nicht nur eine kluge Reflexion des Kolo­nia­lismus und der Verhält­nisse zwischen Schwarz und Weiß, der beide Seiten nicht schön färbt. White Material ist auch und vor allem eine facet­ten­reiche Bestands­auf­nahme des Westens und seiner Werte. Die Bilanz fällt nicht gut aus, und die Zukunft erscheint düster. Auf der Kino­lein­wand, auch das sollte man nicht vergessen, ist all das para­do­xer­weise wunder­voll anzusehen: Genau, klar, von finsterer funkelnder Schönheit. Dieser Film ist ein schwarzer Diamant. Pracht und Schrecken vereinend.

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Von vielen weiteren Filmen, die Venedig gezeigt werden, könnte man auch noch erzählen. Aber was steckt eigent­lich hinter dieser Lust am Untergang? Zum einen der gewisse Kitzel: Denn der neue Geschmack an Alptraum-Blüten ist nicht zuletzt ein ästhe­ti­sches Phänomen. In der schönen neuen Nachwelt unserer Gegenwart reizen die Wonnen der Gänsehaut das Bewusst­sein der letzten Menschen im Westen. Als Motor für Künste und Philo­so­phien ist das Kultur­phä­nomen des apoka­lyp­ti­schen Denkens und die aktuelle Ästhetik des Unter­gangs in jedem Fall überaus produktiv. Zugleich aber scheint, sie man die Fülle dieser Filme, noch etwas mehr dahinter zu stecken: Es scheint klar, dass das Kino auch in diesem Fall wieder einmal als Seis­mo­graph funk­tio­niert: In diesem Fall für Zweifel und Unsi­cher­heit, die unter­gründig wachsen. Dass wir im Westen das Selbst­ver­trauen verlieren. Es ist, als spürten die Gesell­schaften des Westens, dass ihre beste Zeit vorbei ist, als ahnten sie, dass sie selbst das ancien regime sind, in diesen letzten Jahren vor der nächsten Großen Revo­lu­tion.

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The Good, the Gay and the Ugly. ?und das am frühen Morgen: Mysterien der Liebe von Patrice Chéreau. Es beginnt mit Szenen in einem Pariser U-Bahn-Waggon: Eine Frau bettelt die anderen Fahrgäste an: »1 Euro«. Einem blickt sie ins Gesicht: »Arschloch«. Eine andere Fremde bekommt unver­mit­telt Schläge ins Gesicht. Die Welt ist schlecht und ungerecht. Hässliche Menschen sind hässlich zu Menschen in diesen ersten Minuten von Patrice Chéreaus neuem Film Perse­cu­tion, gleich am frühen Sams­tag­morgen im Wett­be­werb von Venedig. Die Hand­ka­mera zeigt Ernied­rigte und Belei­digte, die neuen Misera­bles von Paris, zeigt viel Leiden und Dreck, immer wieder. Bis zum Schluss sind der Dreck und das Leiden sehr schön in Szene gesetzt, manchmal richtig lackiert. »Ich weiß nicht, wie ich es schaffe« sagt ein Freund zum anderen. Und wir im Publikum sollen mitleiden. Das sind so die Filme, die am Ende Preise kriegen.
Eigent­lich eine Menge Klischees für die wenigen Minuten, die der Film erst dauert: Die Armen, die im Dunkel, die wir nicht sehen, und im Licht des Beleuch­ters die Intel­lek­tu­ellen in einem Rive-Gauche-Café. Die klugen starken Frauen, und die schönen Männer, alle mit ihren gleich langen Drei­ta­ge­bärten wie Poster aus einem Schwu­len­ma­gazin. Der einzige, der da rausragt ist der, der im Film wirklich schwul ist: Jean-Hugues Anglade spielt ihn als coolen Schweiger, wie aus einem Italo-Western. Es gibt auch noch einen sanften Schwarzen, den alle mögen, der mit seiner Sanftheit, seinen vielen humanen Dialogsätzen und seiner Zurück­hal­tung, auch nur rassis­ti­sches, philo-negroides Klischee ist. Ansonsten sind die Wohnungen hier provi­so­risch, und das Leben im Zweifel etwas nach­lässig und etwas schmutzig. Dauert stolpert einer, lässt einer Bier­fla­schen, Wein­gläser oder Milch­tüten fallen, ohne danach aufzu­wi­schen, dauernd geht irgend­etwas zu Bruch. Nur Symbol ist das alles natürlich für die Unacht­sam­keit, die die Menschen auch in ihrem Gefühlen an den Tag legen, ihrem Leben überhaupt.

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Daniel, einer der schönen Drei­ta­ge­bart-Männer ist unser Held. Er ist ein Narziss des Unglück­lich­seins, der sich aber auch alles so wahn­sinnig zu Herzen nimmt. Er ist ein Arschloch, das sagt nicht nur die Bettlerin vom Anfang, das sagen auch die Leute die er so kennen­lernt, und denen er gern den Abend vermiest, das sagen auch die Freunde von Sonia, seiner Freundin. Daniel verdient seinen Lebens­un­ter­halt, indem er Wohnungen renoviert, schwarz vermut­lich. Er gibt Freunden gern altkluge Ratschläge, er weiß immer wo es lang geht, außer in seinem eigenen Leben. Was er »eigent­lich« genau tut, weiß man nicht, wahr­schein­lich ist er »eigent­lich« ein Künstler. Seit einiger Zeit wird Daniel von einem Stalker verfolgt. Das ist eben jener namenlose Fremde, den Anglade so eindrucks­voll cool-lakonisch spielt. Der steht immer mal wieder in Daniels Zimmer und erklärt ihm seine Liebe: Absolut, ohne Reserve, völlig verwundbar.

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Das wirklich Inter­es­sante an Perse­cu­tion ist die Liebes­ge­schichte zwischen Sonia und Daniel, ist ihr Verhältnis. Das ist unkon­ven­tio­nell, nicht nur, weil Daniel gewis­ser­maßen die Frau in der Beziehung ist. Zumindest verhält er sich so, wie sich in Filmen meistens die Frauen verhalten: Eifer­süchtig, sprung­haft, irra­tional. Und sie, so wie die Männer: Rational, beru­hi­gend, ein Work­aholic, der sagt, sie brauche Zeit zum Allein­sein.

Es gibt in diesem Teil der Erzählung viele lohnende Aspekte, und kleine Beob­ach­tungen, Bemer­kungen. Etwa die Daniels zu einem Freund: »Ich denke, sie hat einen anderen. Sie ist zu ruhig. Leute, die etwas zu verbergen haben, sind so wie sie.« Der Film handelt von den Miss­ver­s­tänd­nissen, die sich in Bezie­hungen auftun, wenn alle von Außen etwas sehen, was man in der Beziehung nicht sieht – oder umgekehrt. Und er fragt danach, wie wichtig es ist, dass einen einer »braucht«. Daniels Problem mit Sonia: »She doesn’t need me. She doesn’t miss me.« Und der Stalker braucht ihn. Aber das hilft hier nicht. So gern man Anglade zusieht, so sehr ist diese schwule Rand­ge­schichte eine Schwäche dieses Films: Dass Sonias Konkur­rent keine Frau ist, macht die Konkur­renz schwächer.

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Jenseits der Liebes­ge­schichte aber, die nicht genug im Zentrum steht, bietet Perse­cu­tion ein bisschen zu viel von allem. Und das ein bisschen zu unin­ter­es­sant: Daniels Leben, seine Beziehung, sein Charakter, das Leiden überall, die ganze Stimmung. Auch die ist apoka­lyp­tisch auf ihre Art, und passt, nimmt man sie als Portrait west­li­cher Dekadenz, insofern zu vielem, was hier an den ersten Tagen in Venedig bereits zu sehen war. Aber auch diese Diagnose, wenn sie denn eine ist, wird nicht auf den Punkt gebracht. Statt­dessen setzt Cheréau immer noch einen mehr drauf: Daniel pflegt Alte in einem Heim. Er erzählt die Geschichte von seinem Vater, der das Leben nur ertrug, weil er heimlich gebetet hat. Und zwar zweimal am Tag: Eine Stunde morgens, eine Stunde abends. Geht Daniel auf der Straße, sieht er noch einen Kran­ken­wagen, der gerade jemand abholt. Dann ein Motor­rad­un­fall... Sollen wir Mitleid haben? Sollen wir auch beten? Hat Cheréau womöglich Probleme mit dem eigenen Altern?

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So übersteht man diesen Film nur mithilfe seiner vielen kleinen nütz­li­chen Lebens­weis­heiten. Etwa diese: »Never drag in in a womens room, you know. You never know, what you will find.« Und diese: »You can get tired of people and leave them. There are many ways of leaving.« Oder man denkt ange­sichts der vielen provi­so­ri­schen Wohnungen mal wieder an den guten alten Rilke: »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr...«

Am Ende dieser mit höchst frag­wür­digem Musik­ein­satz unter­malten Geschichte über das sich-Verfehlen spielt Cheréau dann Mysteries of Love von David Lynch und Angelo Bandal­a­menti. Das ist ja viel­leicht ein ganz gutes Schluss­wort.