07.09.2009
66. Filmfestspiele von Venedig 2009

Ground Zero am Lido

Life During Wartime
Todd Solondz' Life During Wartime

Venedig ist eine Baustelle: Die Filmfestspiele eröffnen mit Tornatore und bieten viel Politik

Von Rüdiger Suchsland

Der erste Eindruck: Was für ein heilloses Chaos. Man kommt an und traut seinen Augen nicht. Dort, wo bislang jedes Jahr die Film­fest­spiele von Venedig statt­fanden, klafft ein unglaub­lich breites Loch, umgeben von einem zumeist hässlich weißen Bauzaun, der an wenigen Stellen einer Art Begrünung weicht. Was ist geschehen?

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»Es muss sich alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist« – an diesen Satz des berühmten Sizi­lia­ners Tomaso de Lampedusa (aus seinem Roman Der Leopard, Visconti hat ihn später verfilmt) muss man denken in diesem Jahr am Lido, dass in jeder Hinsicht äußerlich eines des Übergangs und Umbruchs ist, zugleich aber zumindest nominell mit einem der stärksten Programme der letzten Jahre aufwarten kann. Denn das älteste Film­fes­tival der Welt ist eine Baustelle, die alte Dame »Mostra« wird geliftet und rund­erneuert, wie stolz eine Pres­se­mit­tei­lung verkündet: Ein aufge­pepptes Design soll auch Venedig zur »Marke« machen, die innere Struktur des Festivals – Wege, Räume, Kino – wurden umge­stellt, zum Teil neu geschaffen, und im großen Loch zwischen dem alten Festi­val­pa­last und dem male­ri­schen Lido­strand entsteht der neue volu­minöse Festi­val­pa­last – zum 150. Jubiläum der italie­ni­schen Einigung 2011 soll er fertig sein.
Ein Grund mehr, im Kinosaal zu sitzen. Wenn man auf die Leinwand starrt, vergisst man, wie des draußen aussieht.

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Das Chaos setzt sich aber drinnen leider fort. Die ersten Tage des dies­jäh­rigen Festivals erin­nerten an 2004, das erste Jahr unter der Direktion von Marco Mueller: Pleiten, Pech und Pannen bei fast jeder Vorstel­lung. Am aller­ersten »richtigen« Tag des Festivals, nach der Eröffnung lagen gleich zwei Entschul­di­gungs- bzw. Erklärungs­schreiben bei den Jour­na­listen im Pres­se­fach. Bei der Pres­se­vor­stel­lung von Jessica Hausners Lourdes gab es eine 40-minütge Verspä­tung. Der Projektor war zusam­men­ge­bro­chen. In der Pres­se­mit­tei­lung heißt es im besten DDR-Deutsch: »Das Technik-Team inter­ve­nierte augen­blick­lich um das Problem zu lösen. Die Lösung erfor­derte die Ersetzung der Infor­ma­ti­ons­ein­heit des Projek­tors und danach die Konfi­gu­ra­tion. Norma­ler­weise würde diese Prozedur drei Stunden dauern, in diesem Fall aber gelang es in 40 Minuten.« Wir sollen uns also alle auch noch glücklich schätzen. Während der Wartezeit war Mueller persön­lich irgend­wann vorbei­ge­kommen, aber nur um die zwei Jour­na­listen, die ihn persön­lich anspra­chen laut zu beschimpfen: »Ein gecken­hafte Depp in seinen Lack­schuhen« schimpfte ein Kollege. In Cannes wäre so etwas jeden­falls nicht passsiert, und auch Kosslick in Berlin hätte mindes­tens ein paar charmante Worte zur Entschul­di­gung gefunden. Nur um die geht es. Das Dinge mal nicht klappen können, weiß ja jeder.

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Hoffent­lich entschul­digt Mueller sich wenigs­tens bei den Regis­seuren. Zweite Beob­ach­tung am ersten Tag, zweite Pres­se­mit­tei­lung: Bei der Vorstel­lung von Todd Solondz kamen die – italie­ni­schen – Unter­titel über etwa die Hälfte des Films um ca. eine halbe Minute versetzt. Das war ärgerlich genug. Aber immerhin war der Film auf Englisch. Verschärft wurde das alles durch die unschöne Reaktion der italie­ni­schen Kollegen (es geht wie gesagt nur um Kritiker und Indus­trie­ak­kre­di­tierte in der geschlos­senen Vorstel­lung). Offenbar können sie alle kein Englisch, und machten ihrem Unmut durch lautes Grunzen, Jaulen und Schreien Luft – woraufhin auch die englisch­spre­chende Hälfte im Saal nichts mehr verstand.
Bisher kam es nach persön­li­cher, natürlich unre­prä­sen­ta­tiver Beob­ach­tung noch zu Projek­ti­ons­pannen in den Filmen von Oliver Stone, Guo Xiaolu, die zahl­rei­chen Verspä­tungen – ohne Info vom Festival – wollen wir mal verschweigen.

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Lieber noch zu den Filmen: Life During Wartime von Solondz (Happiness) war sehr über­zeu­gend. In schönen, prächtig insze­nierten Bildern zeigt dieser jüngere, zyni­schere Bruder von Woody Allen das Leben in Zeiten der Bush-Ära, dessen Geist noch nicht vertrieben scheint: Ein Land im kollek­tiven Wahnsinn.

Eine andere Form von Wahn betrachtet die Öster­rei­cherin Jessica Hausner: Lourdes spielt im gleich­na­migen Wall­fahrtsort, und handelt von einem Wunder: Plötzlich kann die lebens­lang gelähmte Christine gehen. Was macht das Wunder mit ihren Mitmen­schen, mit unserem Blick auf sie? Ein erlesen insze­nierter Essay über Reli­gio­sität, für den die Regis­seurin die selten erteilte Dreh­erlaubnis in Lourdes erhielt – Solondz und Hausner sind erste Preis­kan­di­daten, auf die wir noch zurück­kommen müssen.

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Ein Novum erlebte man am Freitag: Dass ein Regisseur mit gleich zwei Spiel­filmen im Wett­be­werb um den Goldenen Löwen vertreten ist, und dann noch am gleichen Tag, hatte es auch in der Erin­ne­rung sehr erfah­rener Besucher der Film­fest­spiele von Venedig noch nicht gegeben: Doch Werner Herzog hatte schon immer einen Hang zum Skurrilen, und so passte es ganz gut, dass der deutsche Regisseur das sonder­bare Kunst­stück schaffte.

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Dabei hätte der eine Film eigent­lich schon genügt, um Herzog, seit seinen Filmen Aguirre und Fitz­car­raldo der inter­na­tional am stärksten verehrte, lebende deutsche Filme­ma­cher – ja, eindeutig vor Wim Wenders –, fast zehn Jahre nach seinem letzten Spielfilm wieder zurück auf die große Kinobühne zu kata­pul­tieren: The Bad Lieu­tenant heißt sein neuer Film – ja, genau, wer jetzt stockt, weil ihm das sonderbar vertraut vorkommt, liegt ganz richtig: Ein Remake des schnell berühmte, aber immer umstrit­tenen Films von Abel Ferrara aus dem Jahr 1992, ein katho­li­sches Drama in ebenso opulenten, wie manie­rierten Bildern, in dem Harvey Keitel einen korrupten, drogen­süch­tigen New Yorker Ermittler spielt.

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»Nein, auf keinen Fall ein Remake« behauptet Herzog, und stellte sich in vor der versam­melten Welt­presse in Venedig konse­quent dümmer als er ist: »Wer ist denn dieser Abel Ferrara? Ist er ein italie­ni­scher Regisseur? Franzose? Ich habe keinen einzigen Film von Ferrara gesehen.« Voraus­ge­angen war der gestrigen Premiere schon in den letzten Wochen ein heftiger und ziemlich bösar­tiger Schlag­ab­tausch zwischen beiden Regis­seuren via Medien: »Ich wünsche diesen Leuten, dass sie in der Hölle sterben« sagte Ferrara, offen­kundig wenig amüsiert, »Ich hoffe, sie sitzen alle im gleichen Auto und fliegen in die Luft.«

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Wer nun Herzogs Film gesehen hat, nimmt ihm die naive Pose keine Sekunde ab – Herzogs Film ist natürlich ein Remake, wenn auch in Atmo­sphäre und Haltung, auch im Stil völlig anders. So ähnlich sich die Figur ist – bei Herzog gespielt von Nicholas Cage –, und einzelne Szenen, so unter­schied­lich ist die Story: Aus Ferraras Reise in den Abgrund macht Herzog eine Erlö­sungs­ge­schichte: Sein Lieu­tenant läutert sich, und kommt mit des Zufalls (oder Gottes?) Hilfe heil von seiner Höllen­fahrt zurück – als besserer Mensch. Der Alptraum­trip endet mit einem Happy End, und was anfangs viel europäi­sches Flair geatmet hatte, endet als ein konven­tio­neller ameri­ka­ni­scher Film – wer hätte ausge­rechnet dies von Werner Herzog erwartet? Das ist sympa­thisch und schön anzusehen. Zugleich bleibt bis nach dem Abspann etwas unklar, warum Herzog eigent­lich gerade diese Geschichte erzählt hat.

Zwischen­durch entfaltet The Bad Lieu­tenant einige Inten­sität. Ein post-Katrina-Film, ange­sie­delt in New Orleans. Es gibt sehr schöne Bilder und Momente: Eine Schlange, die durchs Wasser schlän­gelt, Leguane in den Wohnungen, ein Zusam­men­stoß zwischen einem Autor und einem Alligator – das sind Bilder, die im Kopf bleiben. Oder Cage, nach einer Verhaf­tung: »I love it. I just love it.« Überhaupt spielt Cage im Vergleich zu manch anderem Auftritt für seine Verhält­nisse zurück­hal­tend. Aber anfangs dauert es lange, zu lange, bis alles in Fahrt kommt, und gegen Ende zerbricht der Film dann ziemlich in seine Einzel­teile.

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Nach diesem mit einer so ausge­wo­genen wie zurück­hal­tenden Mischung aus leisem Beifall und leisem Buh bedachten Film, gab es am späten Abend noch den ersten von zwei »Über­ra­schungs­filmen«: My Son, My Son, What Have You Done. Laut deutschem Verleih (Kinowelt) handelt es sich dabei um einen »Thriller über einen myste­riösen Mord und seine Hinter­gründe...« Haupt­rollen spielen Michael Shannon (Oscar-nominiert für seine Neben­rolle in Revo­lu­tio­nary Road), Willem Dafoe, Chloë Sevigny und Grace Zabriski. Und David Lynch fungiert als ausfüh­render Produzent. Was von alldem zu halten ist, und wie es sich ansieht, darüber bald mehr.