21.02.2008
58. Berlinale 2008

Rambos von Rio bis Abu Ghraib

UNITED RED ARMY
Meisterlich: United Red Army
(Foto: Wakamatsu Productions)

Costa-Gavras setzt sich durch: Auf der Berlinale triumphiert das gewohnte Politkino – Berlinale Impressionen, 4. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Interview mit Hong Sang-soo zu dessen Wett­be­werbs­film Night and Day. Neben dem Regisseur steht eine kaum faust­große Buddha-Figur. Sie wirkt schon ziemlich abge­griffen. Auf eine Frage hin nimmt sie der »korea­ni­sche Rohmer« zur Erläu­te­rung zwischen zwei Finger: »Jeder hat seinen eigenen Buddha im Kopf«. Während man ihm zuhört, die verwun­derte Über­le­gung, ob er sie wohl immer mit sich herum­trägt. Am Ende des Gesprächs traut man sich dann endlich zu fragen, was es mit der Figur auf sich hat. Die Antwort ist lautes Gelächter: »Keine Ahnung. Ich sehe sie zum ersten Mal. Ich habe eben grünen Tee bestellt, und da stand sie mit auf dem Tablett. Ich habe mich auch sehr gewundert.« Ein Augen­blick von kultu­rellem Vers­tändnis über alles Mißver­s­tänd­nisse hinweg.

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Meine persön­li­chen zwei Berlinale-Regeln haben wieder voll ins Schwarze getroffen: Fast alle dies­jäh­rigen Preis­träger liefen in der Pres­se­vor­füh­rung um 9 Uhr morgens, morgens, und sogar alle (!!) an den ersten fünf Tagen.

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Kunst in Cannes, Politik in Berlin – die Berlinale bleibt ihrem Ruf auch sonst treu. Mit José Padilhas Tropa de Elite gewinnt wie in den Jahren zuvor ein Film in Berlin, der poli­ti­sche »Relevanz« über künst­le­ri­sche Inno­va­tion stellt. Tropa de Elite ist so politisch brisant, dass er in seiner Heimat für nach­hal­tige Kontro­versen über Staats­ge­walt und Selbst­justiz führte, filmisch ist er zumindest intel­li­gent gemacht. Ein Reißer, der – ähnlich übrigens wie Tirador, der phil­ip­pi­ni­sche Gewinner des Caligari-Preises aus dem Forum – quasi-doku­men­ta­ri­sche Bilder und die Ästhetik einer schwin­delnden Hand­ka­mera mit Soap-Elementen mischt. Das Werk handelt von einem trau­ma­ti­sierten Poli­zei­of­fi­zier in den Slums von Rio. Beklem­mend gelingt die Verun­si­che­rung des Zuschauers, der bis zum Schluß nicht weiß, ob er sich mit diesem Rio-Rambo iden­ti­fi­zieren soll. Ein pessi­mis­ti­scher Film.
Tropa de Elite bündelt gleich mehrere Trends aus den verschie­denen Berlinale-Sektionen: Den Trend zur Vermi­schung von Doku­men­ta­tion und Fiktion, der zum Schau­platz Slum, der zur digitalen Wirbel-Hand­ka­mera und schnellem Schnitt.

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Jury­schelte ist trotzdem ange­bracht. Denn das Gesamt­bild reprä­sen­tiert weder thema­tisch noch quali­tativ den dies­jäh­rigen Wett­be­werb. Es scheint, als hätte nach der unter­war­teten Absage der zwei Jury-Frauen Sandrine Bonnaire und Susanne Bier in der Restjury endgültig die Alther­ren­riege um Polit­thriller-Veteranen Konstantin Costa-Gavras durch­ge­setzt: So gingen die vier wich­tigsten Preise nach Amerika, drei davon in die USA. Hinzu kam der immerhin hoch­ver­diente »Alfred-Bauer-Preis« für Fernando Eimbckes surreal-tragische Komödie Lake Tahoe, die auch den Kriti­ker­preis der Fipresci erhielt.

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Aber wo blieb Europa, wo Asien? Seit Jahren ging erstmals kein Preis nach Deutsch­land, und keiner nach Frank­reich, und auch die Auszeich­nung für Sally Hawkins machte all dieje­nigen nicht glücklich, die Kristin Scott-Thomas' glanz­vollen, aber stillen Auftritt in Phillippe Claudels Il y a longtemps que je t'aime erlebt hatten. Der Dreh­buch­preis für den Chinesen Wang Xiao Shuai war hoch­ver­dient, gelingt ihm doch mit In Love We Trust eine subtile, glei­cher­maßen traurige wie ironische Geschichte über Mutter­liebe – wie die Haupt­figur um ihr leukä­mie­krankes Kind zur retten ihren längst wieder­ver­hei­ra­teten Ex-Mann zu über­zeugen sucht, ein weiteres Kind als Knochen­mark­spender zu zeugen – das war eine mit ihren subtilen Mitteln jenseits aller TV-»Dramatik« insze­nierte Tragödie, die weit über den engen poli­ti­schen Horizont der chine­si­schen Ein-Kind-Politik hinaus­geht, und univer­sale Fragen berührte.

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Da hält man sich lieber an die Neben­reihen des Panorama und des Forum, wo oft das wildere, gefähr­li­chere, heraus­for­dern­dere Kino zu sehen ist, zudem Filmwerke, die man wirklich hier sehen muss, weil sie nicht oft den Weg ins normale Kino finden. Die Berlinale, die am Sonntag nach der Verlei­hung der Goldenen Bären zuende ging, ist weit mehr, als das Rennen nach den begehrten Trophäen, erst recht in Jahren wie diesen, in denen der biedere Wett­be­werb trotz einzelner starker Filme doch viele Wünsche offen lässt. Das »Panorama« glänzte vor allem durch bekannte Namen und bedeu­tende Themen. Neben dem Dänen Soeren Kragh-Jacobsen, einst für MIFUNE im Wett­be­werb gefeiert, der in seinem Film passend zur Francesco-Rosi-Hommage das totge­glaubte Genre des europäi­schen Polit­thril­lers wieder zum Leben erweckt, war es der fran­zö­si­sche Film COUPABLE von Laetitia Masson und Kino aus Nahost, das heraus­stach: Etwa der israe­li­sche Film Lemon Tree von Eran Riklis. Er zeigt anhand eines Grund­stücks neben der Grenze zu Palästina höchst anschau­lich das ganze Dilemma des Nahost­kon­flikts.

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Zehn Pfer­de­köpfe, von Schnee­wehen geweißt, ragen aus dem Eis heraus. Zum Teil sind ihre Münder noch aufge­rissen vom Schrecken ihrer Todes­se­kunden – das ist eines der eindrück­lichsten Bilder in Guy Maddins My Winnipeg einem komplexen Film-Essay des Regis­seurs über seine Heimat­stadt, voller Nostalgie und Sehnsucht – der Eröff­nungs­film des dies­jäh­rigen »Inter­na­tio­nalen Forums des Neuen Films«.
Wer echte künst­le­ri­sche Gren­z­er­fah­rungen sucht, der muss sich im tradi­ti­ons­rei­chen Forum umsehen, wo man schon viele Meister der Zukunft entdeckte. Einer der hier besten Filme war der deutsche Beitrag Nacht vor Augen von Brigitte Maria Bertele. Die Regis­seurin packt ein Tabuthema an: Deutsche Soldaten, die Dienst in Krisen­re­gionen getan haben. Was geht eigent­lich in ihren Köpfen vor, wenn sie nach Tod- und Gewalt­er­fah­rungen zurück in die friedlich-wattierten Verhält­nisse der deutschen Mittel­stands­ge­sell­schaft kommen? Die Regis­seurin zeigt es am Beispiel von David, der sich nicht mehr in die alten Verhäl­nisse zurück­finden kann. Ein inten­sives Heim­kehr­erdrama und die beklem­mend insze­nierte Geschichte einer Vers­törung.

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Einen unge­wöhn­li­chen Blick nach China wirft Sweet Food City von Gao Wen-dong. Er zeigt das China abseits von faszi­ne­rendem Wirt­schafts­wunder-Boom und der Exotik alter Kaiser­paläste. Die sexlose Liebes­ge­schichte zwischen einer Prosti­tu­ierten und einem Arbeits­losen in einer herun­ter­ge­kom­menen Traban­ten­stadt wird erzählt als Parabel kleine Hoff­nungen inmitten sozialer Ödnis. Halb­do­ku­men­ta­risch inzeniert, gefällt der Film durch nüchterne Beiläu­fig­keit und viel Gefühl.
Summer Book vom türki­schen Regisseur Seyfi Teoman stellt einen Jungen ins Zentrum. Mit seinen Augen lernt man während der Sommer­fe­rien seine Familie kennen – und auf diese Weise auch viel über die ganze türkische Gesell­schaft – ein heller Sommer­film mit Tiefgang.

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Die größte Sensation eines starken Forums­jahr­gangs war aber der Tribut für den japa­ni­schen Regisseur Koji Wakamatsu. Drei ältere Filme des heute 74-jährigen Outsiders wurden gezeigt, darunter sein Klassiker Secrets Behind the Wall, der 1965 auf der Berlinale ausge­zeichnet wurde, und in Japan durch seine kraft­volle Kritik an der japa­ni­schen Nach­kriegs­ge­sell­schaft einen großen Skandal verur­sachte.
Wakamatsus neuester Film heißt United Red Army und hatte auch im Forum Premiere, obwohl er gut in den Wett­be­werb gehört hätte. Das Werk handelt von dem Pendant zur deutschen RAF. Auch der japa­ni­sche Links­ter­ro­rismus entwi­ckelte sich als radikaler Ausläufer der Studenten- und Bürger­rechts­be­we­gung der Sechziger. In drei Akten zeichnet Wakamatsu ihre Geschichte in einer Mischung aus Spielfilm und Doku­men­ta­tion nach: »Ich wollte fair sein. Keiner weiß heute noch, was damals geschehen ist. Wir müssen die Erin­ne­rung wach halten.«, so Wakamatsu im Gespräch.

Sein Film startet schnell geschnitten, mit zahl­rei­chen Über­blen­dungen, und präsen­tiert in einer Stunde die Geschichte der japa­ni­schen Studen­ten­be­we­gung und ihrer Radi­ka­li­sie­rung im Schnell­durch­lauf. Der zweite Akt beginnt am 1. Januar 1972. Auf einer Hütte in den verschneiten Bergen bereiten sich knapp 30 Angehö­rige der Unter­grund­gruppe »Vereinte Rote Armee« zum Kampf gegen das Kaiser­reich vor. Schnell eskaliert die Grup­pen­dy­namik dieser Isolierten zur Selbst­kritik mit tödlichen Folgen, der 14 Menschen zum Opfer fallen. Vor allem als Psycho­gramm einer Gruppe von Einge­schlos­senen, als Unter­su­chung über Klaus­tro­phobie und Verschwörungs­theorie besticht der Film. Auch der letzte Akt, in dem man fünf Übrig­ge­blie­benen bis zum Showdown mit der Polizei folgt, zeigt die Gescheh­nisse konse­quent aus der Innen­sicht der Gruppe, ohne sich je mit ihr gemein zu machen. United Red Army ist ein Meis­ter­werk des poli­ti­schen Kinos und war ein Highlight im Berlinale-Forum.

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In der Bunuel-Retro noch der Film Centinela Alerta von 1936/37, mitten im Spani­schen Bürger­krieg. Ein Film wie ein kurzer frischer Früh­lings­hauch, witzig, anti­mi­li­ta­ris­tisch, aber patrio­tisch, und im Rückblick voller Wehmut. Eine volks­tüm­liche Komödie und fast ein Musical von Bunuel, glei­cher­maßen fern allen Surrea­lismus und aller poli­ti­schen Agitation, dafür mit vielen Gesangs­ein­lagen. Vor allem die uner­war­tete Skizze eines Starkinos der kurzen spani­schen Republik, und damit das Werk eines nie geschrie­benen Kino-Kapitels. Die verges­sene Seite des Chamä­leons Bunuel, der zugleich in einer genialen kurzen Feuer­wehr­ein­satz-Szene auf Doku­men­tar­ma­te­rial nach einem Bomben­ein­satz zurück­greift. Da lässt Bunuel kurz seine Lust am Spektakel aufblitzen.

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Dieter Kosslick hat also sein »verflixtes 7tes Jahr« über­standen. Es war besser als die beiden total miss­glückten Vorjahre, aber auch 2008 dominiert Mittelmaß, sind die Neben­reihen inter­es­santer, der Wett­be­werb oft entbehr­lich, die Auswahl mitunter banausisch – also ohne Sinn für ästhe­ti­sche Kriterien, dafür Name­drop­ping und Flucht in mora­li­sie­rende Themen­kino.
Hinzu kommt das Problem, dass die Nicht-Sektionen wie »Talent Campus« und Kochkino auch gegenüber der Presse aufge­blasen werden – hier werden aber gar keine Filme gezeigt, sondern nur laut­starke Rand-Events abge­feiert. Die Berlinale bleibt eine Baustelle.

Rüdiger Suchsland