58. Berlinale 2008
Aufmerksam unterwegs |
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Dies könnte Willmann, unser rasender Berlinale-Reporter sein. In Wirklichkeit aber ist es Simon Yam in Johnnie Tos Wettbewerbsfilm Sparrow | ||
(Foto: MFA) |
Von Thomas Willmann
Liebe Berliner Verkehrs-Gesellschaft, liebe Berliner Polizei,
als Gast in Ihrer schönen Hauptstadt bin ich unlängst auch einmal U-Bahn gefahren und habe mich dabei von den hübschen Monitoren unterhalten lassen, die da während der Fahrt dafür sorgen, dass man nicht zu lange in die wirkliche Welt starren muss. Was ja gerade für den Berlinale-Besucher verheerende Folgen haben kann, der nach vier, fünf, sechs Filmen täglich erst nach Festivalende mittels eines sanften Reintegrationsprogramms wieder tauglich gemacht werden muss für den Schock des
Nichtmediierten. Und also las ich da so dies und jenes, wurde dann aber zwischen den Nachrichten aus aller Welt und Veranstaltungshinweisen und Werbung wachgerissen durch folgende, unter der Überschrift »Aufmerksam unterwegs« eingeblendete, nicht weiter eingschränkte Aufforderung: Bitte melden Sie Ihre Beobachtungen den BVG-Angestellten und der Polizei.
Zunächst war ich, zugegebenermaßen, verblüfft. Dachte ich mir doch: Was interessieren die meine nichtswürdigen,
oft auch als eher obskur und skurril bekannten Beobachtungen? Aber dann dachte ich an den Titel eines Dokumentarfilms über Wolfgang Tilmans, der auf der Berlinale lief: If One Thing Is Important, Then Everything Is Important. Und ja, klar: In diesen schwierigen und gefährlichen Zeiten, wo die Bedrängnis und Bedrohung naht von allen Seiten, wo der Terrist (G. Beckstein) in jeder Ritze sitzen kann und sich hinter tausend Masken verstecken, wo die bösen, fremden
Kulturen, deren Zeichen wir womöglich nicht zu lesen verstehen, die unsere angreifen – ja wie will denn ich Laie da erkennen und entscheiden, was wichtig, möglicherweise lebenswichtig ist?!
Nein, das muss ich schon den Experten überlassen. Der BVG und der Berliner Polizei. Die werden schon das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen verstehen. Hauptsache, keiner kann nachher sagen: Der Willmann, der ist schuld! Wenn der rechtzeitig seine Beobachtungen gemeldet hätte, dann
wäre nachher das ganze Schlamassel nicht passiert, mit dem Weltkrieg und so...
Und deshalb ist es mir nicht nur Auftrag, sondern eine Ehre, meinen Pflichten als wachsamer Bürger nachzukommen. Und Ihnen Folgendes mitzuteilen:
Eines Abends (ich glaube, es war der erste Berlinale-Samstag, aber nageln Sie mich da nicht fest, man verliert so leicht das Zeitgefühl im Rausch der Bilder...), da ging ich nach dem Spätfilm die übliche Strecke vom Kino zur Bushaltestelle (die vom M41, am Potsdamer Platz). Und da ist doch dieser Brunnen, Sie wissen schon – also eigentlich eher so ein flaches, granitplattenverkleidetes Wasserbecken. Wenn man bei den Potsdamer Platz Arkaden links die kleine Passage geht, an
dem Restaurant vorbei. Dieses Wasserbecken, wo die Kunst-am-Bau-Installation drin steht mit den zwei auf dem Hinterrad aufgebäumten Fahrrädern, deren Konturen mit bunten Neonröhren nachgezeichnet sind. Wo jetzt neuerdings das eine davon flackert. (Was, wenn ich da jetzt so drüber nachdenke, ja eigentlich auch sehr verdächtig ist! Sabotage? Sind die Neonfahrräder erst der Anfang?)
Und jedenfalls war es also Nacht, nicht mehr viele Leute unterwegs, die bunten Neonfahrräder
spiegelten sich in der ruhigen, dunklen Wasserfläche. Und da schwamm, bzw. dümpelte ein Entenpärchen im Wasser.
Und das war ein sehr schönes Bild.
Ein Bild der Ruhe und Geborgenheit inmitten unwirtlicher Umgebung. Und ein Bild dafür, wie der Natur die Kunst am Arsch vorbei geht.
Ein Bild, das eigentlich in einen Film gehört hätte.
Das aber bisher in keinem Film zu sehen war, nicht auf der Berlinale und nicht sonst.
Vielleicht kann der BVG da mal was machen?
Wenn Sie jetzt doch meinen: Na ja, das ist aber eine sehr unwichtige Beobachtung – dann muss ich halt schwerere Geschütze auffahren. Eine Beobachtung habe ich gemacht, da braucht es keine Experten, um gleich zu wissen: Da ist Gefahr im Verzuge!
Der Vorfall ereignete sich, als bei der Pressevorführung von Madonnas Regiedebut Filth And Wisdom eine gute Hundertschaft an Journalisten wegen Überfüllung des Saals keinen Einlass mehr fanden (darunter
leider auch meine Wenigkeit), und dann nach längerem Hin und Her und Herumgewarte verkündet wurde, dass es dennoch keine Zusatzvorstellung geben würde.
Da hörte ich aus dem Mund einer französischsprachigen Kollegin – und es ist in diesem Zusammenhang wohl zur Verdeutlichung der Brisanz notwendig zu erwähnen, dass ihre äußere Erscheinung den Verdacht nahelegte, dass in ihrem Stammbaum diverse arabische Individuen kräftig mitgemendelt haben –, hörte ich also aus
dem Mund dieser Kollegin die vehement vorgetragene Meinung, das sei »vachement merdique«. Und da fragen Sie jetzt mal jemand, der Französisch kann, was das genau heißt, weil solche Unfeinheiten übersetze ich Ihnen hier nicht.
Übersetzen aber kann ich die an diese Meinungsäußerung anschließende Bekundung »Je déteste ce festival, et je déteste les Allemands«: Das heißt nämlich »Ich hasse dieses Festival, und ich hasse die Deutschen«. Und glauben Sie mir: Die Dame hatte dazu definitiv
Gewaltbereitschaft in den Augen!
Da würde mich nicht wundern, wenn da was passiert! Wenn dann aber was passiert (dass die Dame nämlich z.B. zum Einlasspersonal ganz unfreundlich ist, oder dass sie draußen vor dem Kino Fahrräder umwirft, oder dass sie in den Umschlag mit den Namen der Preisträger Grippebazillen rotzt) – dann muss man fairerweise sagen, dass die Berlinale da eine gewisse Teilschuld nicht leugnen kann.
Denn kann es wirklich derart überraschend gekommen
sein, dass in diesem Fall ein BISSERL mehr Andrang herrschen würde als bei anderen Filmen der Panorama-Reihe? Sie, liebe BVG, setzen ja zu gewissen Zeiten und auf gewissen Strecken auch Doppeldeckerbusse ein. Vielleicht können Sie da das nächste Mal einen Ihrer Experten zum vorausschauenden Umgang mit Massenandrang beratend zur Verfügung stellen...
Ihren Entschlüsselungsexperten von der Berliner Polizei hingegen brauche ich das ja nicht zu sagen: Geheimcodes funktionieren oft darüber, dass sich in der Redundanz einer scheinbar normalen Botschaft eine zweite Nachricht verbirgt.
Ich werde deshalb von mal zu mal das Gefühl schwerer los, dass sich im Anti-Pirateriehinweis vor jedem Berlinale-Film etwas versteckt hat. Ich meine, ich habe den im Lauf der Jahre mittlerweile hundertfach gesehen. Und ich verstehe nach wie vor
nicht, weshalb er lautet: »Film piracy is illegal, violates existing copyright laws and will not be tolerated.«
Ist die Definition von illegal nicht genau, dass etwas gegen Gesetze verstößt? Und besteht wirklich die Gefahr, dass jemand glaubt, Filmpiraterie würde lediglich Gesetze verletzen, die nicht mehr, noch nicht existieren, oder die ganz der Fantasie entsprungen sind? Was also sagt uns das »violates existing copyright laws«, was uns das »is illegal« nicht schon hinreichend
bedeutet? Und warum ist in den Piktogrammen darüber zwar das stilisierte Handy ganz durchgestrichen, die Videokamera aber ÜBER den Verbotsschildbalken platziert?
Ich sage ihnen: Da ist was im Busch! Da werden unter der Hand illegale Botschaften gesendet, die gegen existierende Gesetze verstoßen! Ich finde, die Berliner Polizei sollte das nicht länger tolerieren.
Was ich Ihnen fürderhin zu berichten habe, das sind jetzt eigentlich mehr zwei Begebenheiten als regelrechte Beobachtungen. Aber wenn Sie bis hierher durchgehalten haben, ist Ihnen das vermutlich auch schon wurscht.
Jedenfalls: So ein Filmfestival im Allgemeinen und die Berlinale im Besonderen ist ja stolz darauf, eine Veranstaltung zu sein, bei der man die Stars aus »nächster Nähe« (sprich gleichzeitige Anwesenheit auf den selben 100 Quadratmeter) erleben kann. Und
freilich sind sie auch immer schön, diese inszenierten Begegnungen: Die Roten Teppiche, belagert von geduldigem Fußvolk. Die Pressekonferenzen mit ihrer Dramaturgie – wo man immer erst einmal über die festgesetzte Zeit hinaus warten muss; dann der hausmeisterartige Mensch, der kurz vor dem tatsächlichen Beginn nochmal alle Simultanübersetzungs-Kopfhörer auf dem Podium überprüft. Ein Vorbote er für die Ankunft der Stars, bei der zunächst draußen vor dem Konferenzsaal
das Blitzlichtgewitter (ein abgeschmacktes Wort, fürwahr, aber hier trifft kein anderes) losprasselt und das »Madonna, please, over here!«-Geschrei anhebt. Wo man dann weiß, wenn dies abgeebbt ist, dass besagte Stars in einem Gang verschwinden, der sie um die Wand des Saals herumführt – ein Gang, das Fernsehen hat das mal gezeigt, der mit roten Vorhängen dekoriert ist und aussieht wie ein Set aus Twin Peaks. Auf dass sie dann auf der diametral gegenüberliegenden Ecke des Saals aus der Tür auftauchen, von einem erneuten Trommelfeuer des Fotografen-Klackerdiklackers und meist auch Applaus empfangen werden, Platz nehmen, und... So weiter und so fort, Sie haben das vermutlich zumindest schon mal am Bildschirm gesehen. Und darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus.
Nein, der Punkt ist: So nett all diese organisierten
Audienzen sind – viel schöner noch sind immer die zufälligen Begegnungen. Diese Momente, wo jene, die nicht unter Rundum-Bewachung stehen, einem unerwartet und in Kontexten über den Weg läuft, die nicht dazu eingerichtet wurden, um den Status des Stars zu inszenieren.
Mir zum Beispiel hat dieses Jahr einmal Udo Kier die Tür aufgehalten. Und beim Händewaschen nach dem Aufsuchen jenes Ortes, respektive Örtchens, wo sich laut Redensart selbst der Kaiser zu Fuß hinbegibt (und eben
auch der Weltstar) merkte ich beim Blick in den Spiegel, dass neben mir Karl-Heinz Böhm mit eben jener Tätigkeit (also dem Händewaschen, dass da nichts missverstanden wird!) beschäftigt war.
Was ein in etwa gleichem Maße nettes und absurdes Gefühl ist.
Und um vielleicht doch noch mit einer Beobachtung zu schließen: Einen großen Schauspieler und Menschenfreund erkennt man halt nicht nur daran, wie elegant er die Sissi in die Arme nimmt, wie manisch er das Messer am Stativ seiner
Kamera in Damenkehlen, oder wieviele Brunnen er andererseits in Afrika bohrt. Den erkennt man auch daran, wie er mit Stil eine solch alltägliche Verrichtung wie das Händewaschen absolviert. Jawoll.
Liebe Berliner Polizei. Die nächste, mit einem Anliegen verknüpfte (und für heute letzte) Beobachtung ist etwas heikel. Bitte genau hinlesen, denn es ist jetzt ganz wichtig, dass wir uns richtig verstehen.
Fern läge es mir, die Freiheit der Kunst einschränken zu wollen, noch ferner, deutschen Behörden die Macht darüber geben zu wollen, was auf Leinwänden geschehen darf und was nicht. Pfui, sage ich da ausdrücklich, pfui!
Aber: Könnten Sie nicht bitte wieder die Zensur einführen?
Nur so ein kleines bisschen?
Das wäre hilfreich.
Dass Sie jetzt aber bitte nicht auf die selbe dämliche Idee kommen wie die New Yorker Gesundheitsbehörden, die letzte Woche (leider kein Witz!) gefordert haben, dass Filme, in denen Rauchen in einem positiven Licht gezeigt wird, keine Jugendfreigabe mehr erhalten sollen. Im Gegenteil!
Denn worum es mir ginge: Schauen Sie sich nochmal diese Szene in Johnny Tos Wettbewerbsbeitrag Man jeuk (Sparrow), wo Kelly Lin im Auto Simon Yam eine mit extradickem Lippenstiftabdruck versehene Zigarette zwischen die Lippen schiebt. (Überhaupt: Schauen Sie sich Man jeuk nochmal an! Diesen wunderbaren
Film, der vielleicht der musikalischste von allen war, ohne dass er direkte Musikszenen gehabt hätte...) Diese Szene – und ich sage das als Nichtraucher – war die erotischste, die ich während des gesamten Festivals gesehen habe.
Solch schöne Szenen aber gibt es doch zumeist nur, wenn die Zensur untersagt, expliziter zu werden. Wenn heutige Filmemacher uns sagen wollen »Die beiden poppen jetzt«, dann rücken sie zumeist genau das ins Bild. Was aber meistens nur
funktional, formelhaft und fantasielos wird. So eine öffentliche Unzucht auf der Leinwand erregt doch niemanden mehr.
Wie kitzelnd aber das Spiel mit Andeutungen und Doppeldeutigkeiten, wie prickelnd der Reiz des Verbotenen und die Leerstellen, die man mit der eigenen verdorbenen Fantasie füllen darf.
Ich habe auf dem Festival keine verschweintere Sexszene gesehen als die in Luis Buñuels La mort en ce jardin – wo man gar nichts sieht. Da wacht Georges Marchal auf, um neben sich im Bett Simone Signoret zu finden, deren Arbeitsstätte in diesem Film sozusagen dieses Bett ist. Und nach ein wenig Smalltalk nimmt er sie dann in die Arme, beugt sich über sie – und Schwarzblende, wie es 1956 an dieser Stelle anders kaum denkbar war. Buñuel aber, das begnadet perverse Ferkel, hält diese Schwarzblende. Und hält sie. Und hält sie. Und damit auch jeder mitkriegt,
dass die jetzt deutlich länger dauert, als nach gewöhnlichen Schnittregeln erlaubt, lässt er dazu auch noch eine Uhr ticken.
Da bekommt man doch eine ganz andere Vorstellung davon, was da Außergewöhnliches und Atemberaubendes abgeht, als wenn da vor der Kamera ein bisserl Beischlaf simuliert würde.
Und, na ja, was manchen Filmen heute fehlt ist der Zwang, ein bisschen einfallsreicher, spielerischer, mehrdeutiger werden zu müssen, um gewisse Dinge zum Ausdruck zu
bringen. Das funktioniert oft nur noch im Historienfilm: In The Other Boleyn Girl – einem Wettbewerbsbeitrag mit Natalie Portman und Scarlett Johansson, der ausnahmsweise einmal den begehrten Hollywoodstar-Faktor brachte, ohne sich seiner rein filmischen Qualitäten schämen zu müssen – in diesem Film also geht es eigentlich auch dauernd nur um Sex. Wobei Sex in der Welt des
Tudor-Hofs wenig mit Liebe zu tun hat und viel mit rein machtorientierter Fortpflanzungspolitik.
Und weil Regisseur Justin Chadwick dabei nicht ganz die Vornehmheit des Historien-Genres aufgibt, kommt umso schockierender, was da zwischen den Zeilen, mit beschönigenden Worten oder nur ein paar Blicken oft gesagt wird.
Ich sag es Ihnen, liebe Berliner Polizei: Das ist gleich viel interessanter, als wenn Leute ihr Gemächt in die Kamera wedeln.
Deshalb noch einmal die Bitte:
Könnten Sie die Zensur wieder einführen? Nur so ein kleines bisschen?
Danke!
Mit freundlichen Grüßen,
Thomas Willmann