Tausend Zeilen

Deutschland 2022 · 93 min. · FSK: ab 12
Regie: Michael Herbig
Drehbuch:
Kamera: Torsten Breuer
Darsteller: Elyas M'Barek, Jonas Nay, Michael Ostrowski, Michael Maertens, Jörg Hartmann u.a.
High Noon für den  deutschen Journalismus
(Foto: Warner Bros.)

Signifikantes Systemversagen

Michael »Bully« Herbigs Mediensatire über den Fall »Relotius« überzeugt vor allem im zweiten Teil mit bissiger Kritik an bestehenden Verhältnissen

»Tausendmal berührt
Tausendmal ist nix passiert
Tausend und eine Nacht
Und es hat Zoom gemacht«

1000 und 1 Nacht, Klaus Lage Band

Manchmal braucht es eine gewisse Zeit, bis man das, was man von einem Film erwartet, aus dem Kopf kriegt, sich vom eigenen Film im Kopf ab- und wieder der Leinwand zuwendet. Manchmal gelingt das auch gar nicht. Im Fall von Michael »Bully« Herbigs Tausend Zeilen brauchte es eine knappe halbe Stunde, bis mein Entsetzen von Interesse und schließ­lich Wohl­wollen abgelöst wurde.

Herbig hat einen der größten jour­na­lis­ti­schen Skandale des letzten Jahr­zehnts verfilmt, den Fall Claas Relotius, an den sich die meisten noch erinnern dürften. Nicht nur weil es erst vier Jahre her ist, sondern weil es damals neben einigen anderen Tages­zei­tungen und Magazinen vor allem eines der seriö­sesten poli­ti­schen Magazine Deutsch­lands, den »Spiegel« traf, dessen Star­re­porter Relotius zu diesem Zeitpunkt war. Der damals den Fall zahl­rei­cher schlichtweg erfun­dener Texte und Repor­tagen aufde­ckende Reporter Juan Moreno war ein Kollege von Relotius und hat in seinem Buch »Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Jour­na­lismus« (2019) seine Sicht des Falles geschil­dert und die Film­rechte bereits vor Fertig­stel­lung des Buches verkaufen können. Trotz zahl­rei­cher Vorwürfe wegen unsau­beren Recher­chen und einer am Ende aber nicht einge­reichten Klage basiert Herbigs Film auf Morenos Buch.

Aller­dings nicht auf dessen Tonfall, der vor allem sachlich ist, immer wieder jedoch auch die Wut und die Frus­tra­tion von Moreno über die Schwach­stellen des deutschen Jour­na­lismus durch­bli­cken lässt. Herbig entscheidet sich jedoch vor allem im Anfangs­teil für den sati­ri­schen Tonfall, für die Komödie, die er beherrscht, mit der er immer wieder Ausnah­me­er­folge hat feiern können, wie etwa mit dem Schuh des Manitu. Dieser Ansatz ist dem Thema auch durchaus ange­messen, denkt man etwa an Adam McKays The Big Short, in dem ein anderes Lügen­system mit pulve­ri­sie­rendem Humor und bissigen Brecht'schen Verfrem­dungs­ef­fekten kongenial entlarvt wurde. Zwar arbeitet auch Herbig mit Verfrem­dungs­ef­fekten, richtet Moreno (Elyas M’Barek) sich immer wieder in direkter Ansprache an den Zuschauer, doch statt zu beißen, wird gerade im Anfangs­teil grotesk gebellt, sehen wir das Star­jour­na­lismus-Syndrom und ihre Förderer, die Chefetage des Spiegel (im Film als »Chronik« tituliert und statt rot in blau darher­kom­mend) im Blödel­modus eines anderen großen Fälscher­skan­dals und seiner Verfil­mung demas­kiert, die Fälschung der Hitler-Tage­bücher und die Auswer­tung durch den »Stern« und Helmut Dietls filmische Umsetzung des Skandals mit Schtonk! (1992).
Das ist durchaus irri­tie­rend, denn im Grunde geht der Relotius-Skandal weit über einen Einzel­fall hinaus, gab es nicht nur schon vor Relotius Fälle wie Michael Born und Tom Kummer, sondern hat sich in den letzten über die Instru­men­ta­li­sie­rung des Jour­na­lismus durch popu­lis­ti­sche Politik (»Lügen­presse«), seine »Influ­en­ceri­sie­rung« und eine zuneh­mende Boule­var­di­sie­rung des Jour­na­lismus, die z.B. Rüdiger Suchsland in seinem letzten Cinema Moralia auf artechock bzgl. des Film­jour­na­lismus beklagt hat, bis heute eine ernst­zu­neh­mende Krise ausge­prägt, die auch ernst­ge­nommen gehört und zumindest im Zusam­men­hang mit dem Falls Relotius erwähnt werden sollte und für die die Arbeits­weise von Adam McKay ideal gewesen wäre.

Herbig entscheidet sich gegen die gesell­schaft­liche Analyse, er entscheidet sich auch dagegen, Relotius, der hier Lars Bogenius (um möglichen Klagen von vorne­herein auszu­wei­chen) genannt und von Jonas Nay verkör­pert wird, ein komple­xeres Profil zu verleihen, was durch das lange Interview mit Relotius mit dem Magazin »Repor­tagen« durchaus möglich gewesen wäre. Denn hier hat Relotius neben dem seinem Verhalten Vorschub leis­tenden und im Film im Zentrum stehenden Arbeits­um­feld vor allem auf seine psycho­ti­sche Dispo­si­tion (Denk- und Wahr­neh­mungs­stö­rungen, Hallu­zi­na­tionen sowie Wahn­vor­stel­lungen) aufmerksam gemacht.

Doch wie schon eingangs erwähnt, hilft es manchmal, sich von seinen eigenen Erwar­tungs­hal­tungen zu distan­zieren und nach einer halben Stunde umzu­sat­teln und das anzu­nehmen, was hier serviert wird. Und das ist dann zunehmend nicht mehr die Daddel­komödie, die es am Anfang war, sondern ein Film, der die wenigen, verblie­benen komö­di­an­ti­schen Pointen mit perfektem Timing setzt und das inves­ti­ga­tive Rennen zwischen Juan Moreno (der hier Juan Romero heißt) und Claas Relotius um die Wahrheit ins Zentrum stellt. Dass dieses Rennen dann immer mehr einem Western-artigen Duell gleicht und die Fokus­sie­rung auf das »Tausend Mal ist nichts passiert« immer zentraler wird, stört nicht, denn die Schau­spieler machen das wieder wett. Vor allem Elyas M’Barek eman­zi­piert sich nicht nur in den dysfunk­tio­nalen Fami­li­en­szenen mit seinen Kindern und seiner Frau wie schon vor kurzem in Liebes­dings einmal mehr von seinen alten Rollen­ste­reo­typen, auch Jonas Ney gelingt es durch sein linki­sches Spiel, dem »Fälscher« ambi­va­lente Nuancen einzu­hau­chen, die die Rela­ti­vität von Wahrheit im gegen­wär­tigen Jour­na­lismus sinnvoll betonen.

Zwar wird damit nicht die grund­sätz­liche Frage um die Bedeutung von »Fake News« geklärt, wie es z.B. die hervor­ra­gende Verfil­mung von Balzacs Verlorene Illu­sionen zeigt, die es als jour­na­lis­ti­sche Ursünde in die Anfänge der Massen­me­dien in den 1830ern verortet, aber gerade im Schluss­teil entwi­ckelt Herbig durchaus eine gnaden­lose Bissig­keit gegenüber bestehenden Hier­ar­chien und deutet zumindest an, dass hinter Relotius und seiner singu­lären Hoch­sta­pelei ein signi­fi­kantes System­ver­sagen lauert.

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Jour­na­lismus. Rowohlt, Berlin 2019, ISBN 978-3-7371-0086-1