15.09.2022
Cinema Moralia – Folge 282

Wer stirbt zuerst?

King Kong Schoedsack / Cooper
Auch von der neuen Skandalinflation betroffen: Marie Kreutzer und Corsage
(Foto: Alamode)

Blind ermittelt in Wien und klare Thesen statt Gesülze: Gefahren und Chancen für Filmkritik, Filme und Festivals – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 282. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Das Kino stellt keine Fragen. Das Kino gibt keine Antworten.«
- Jean-Luc Godard (1930-2022)

Es ist immer, so dass der Übergang zwischen dem Film­fes­tival in Venedig und dem von San Sebastian fließend ist. San Sebastian wird nur fünf Tage, nachdem Venedig zu Ende ist, eröffnet, und dazwi­schen liegt auch noch Oldenburg. In diesem Jahr erlaube ich mir zum ersten Mal überhaupt dieses Herbst-Triple.

Bin gespannt auf Oldenburg, das manche als »Sundance von Deutsch­land« beschreiben. Aber so wurde auch schon mal Mannheim-Heidel­berg beschrieben.
In jedem Fall hätte dieses Festival die Aufmerk­sam­keit, die es verdient, würde es etwas besser und nicht in der Mitte des Sandwich zwischen zwei A-Festivals liegen. Und wenn die Film­kritik in besserem Zustand wäre.

Wir werden auf artechock berichten, erst recht aber ab Samstag von San Sebastian, wo neben aufre­genden Welt­pre­mieren auch eine komplette Claude-Sautet-Retro­spek­tive laufen wird.

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Auf Festivals und auf hoher See gibt es keine Gesetze.

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In Oldenburg bin ich bei einer feinen kleinen Veran­stal­tung über Film­kritik beteiligt, zu der Oldenburg-Chef Torsten Neumann angeregt hatte.
Es geht darin um Folgendes:

Seit es das Kino gibt, gibt es die Film­kritik. Doch so wie Kritik gesell­schaft­lich in Verruf geraten ist und man lieber der Schwarm­in­tel­li­genz des Main­stream und der Algo­rithmen vertraut, so geht es gegen­wärtig erst recht der Film­kritik. Sie ist heute fast voll­kommen zum Dienst­leister, zur Service­insti­tu­tion geronnen, die dem Publikum ein gutes Gefühl, den Kinos ein paar Zuschauer und allen gemeinsam »werbend wertende« Inhalte und Einnahmen bringen soll. Kritik hingegen, die sich und ihren Gegen­stand als Kunst ernst nimmt, die will man nicht – am wenigsten in den Redak­tionen, die sich einst mit ihr schmückten.
Das Publikum hingegen will und braucht Kritik sehr wohl. Mindes­tens als unab­hän­gigen Ratgeber und Frei­zeit­ku­rator, der nicht im Sold irgend­einer Industrie oder Insti­tu­tion steht. Am besten als kriti­schen Freund oder »liebsten Feind« (Werner Herzog), mit dem man produktiv streiten, dem man vertrauen kann.

Ein unab­hän­giges Festival wie Oldenburg will unab­hän­gige Kritik. Darum inter­es­siert man sich dort nicht nur für Zuschau­er­zahlen (bei Festivals immer steigend. Quizfrage: Wie kommts?) und das ebenfalls zum Fetisch gewordene Publikum, das ja angeblich immer recht hat (Spoiler: Natürlich nicht!), sondern für Fragen, die wir, die ich für brennend aktuell halte: Wozu Film­kritik? Wer braucht Film­kritik? Gibt es überhaupt noch Film­kritik? Oder nur noch Service – den aber bitte ohne Spoiler.

Wir sind überzeugt: Wenn die Film­kritik verschwindet, dann verschwindet auch das Kino und bald auch unab­hän­gige Festivals in der Verwech­sel­bar­keit. Insofern ist diese Frage eine Über­le­bens­frage, und wir wollen sie am Freitag nicht pseudo-unpar­tei­isch stellen, sondern auf der Basis einer klaren Part­ei­nahme: Für Film­kritik, die ihren Namen verdient, weil sie unver­wech­selbar ist und mutig, die sich streiten möchte, weil Streit ein Teil jeder Kultur ist. Die sich selber als Kunst versteht, weil man auch über Geschmacks­fragen nur streiten kann, wenn man selber Geschmack hat.

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Traurige Tatsache: Mehr und mehr Film­kri­tiker bespre­chen keine Filme mehr, oder dürfen und können sie nicht mehr bespre­chen, sondern geben dafür der allge­meinen Neigung nach, überall Skandale zu finden und Filme, besser noch ihre Macher zu skan­da­li­sieren. Diese Skan­da­lin­fla­tion führt vor allem dazu, dass man sich für die tatsäch­li­chen Skandale nicht mehr inter­es­siert.

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Vorletztes Beispiel: Der sommer­liche angeb­liche #MeToo-Skandal um Marie Kreutzer und ihren Film Corsage.
Das ist pikant, weil Marie Kreutzer selbst ranghohe Propo­nentin bei FC Gloria ist. In die Kritik kam sie, weil gleich zwei ihrer Darsteller der sexuellen Gewalt verdächtig wurden.

Der Stil und das unpo­li­ti­sche Gedruckse der Betei­ligten machen einen weitaus ratloser als die Sache selbst.

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Marie Kreutzer selbst hat die Schere zwischen Gerech­tig­keit und Selbst­ge­rech­tig­keit folgen­der­maßen kommen­tiert: »Ich würde niemals auf Basis von Gerüchten einen Mitar­beiter, eine Mitar­bei­terin der Bühne verweisen oder ausladen, das wäre letzt­klassig; wir leben in einem Rechts­staat, und wenn es gegen jemanden weder konkrete Vorwürfe noch ein Verfahren gibt, würde ich mich, wenn ich darauf mit Konse­quenzen reagierte, als Richterin aufspielen. Aber die bin ich nicht.«

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Hinzu kommt, dass im Augen­blick viele, allen voran die selbst­er­nannten Inves­ti­ga­tiv­me­dien auf der eigent­lich wichtigen Ange­le­gen­heit ihr eigenes Süppchen kochen. Manchmal geht es um Karriere, manchmal nur um blöde Wich­tig­tuerei. Und um gar nicht mal zynischen, sondern naiven Narzissmus: Viele glauben, sie müssten jetzt irgend­etwas dazu sagen, obwohl sie selber nicht wissen, was sie dazu sagen sollen.

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Inter­es­sant an der Causa Corsage ist auch, dass die Regis­seurin, die mit einem raunenden, keine Namen nennenden Post in den sozialen Netz­werken die ganze Ange­le­gen­heit ange­stoßen hat, zufällig gerade selbst einen Film zum Thema fertig hatte, der bis dato (Anfang Juli) noch ohne Festi­val­ein­la­dung geblieben ist. Inter­es­san­ter­weise wurde die Tatsache, dass die Anklä­gerin einen Film zu diesem Thema fertig hat, der bald veröf­fent­licht wird, in keinem Bericht erwähnt.
Blind ermittelt.

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Wie fehl­ge­leitet und verquer unsere augen­blick­li­chen Diskurse sind, beweist gerade wieder die soge­nannte »Affäre« um den öster­rei­chi­schen Film­re­gis­seur Ulrich Seidl: Diffuse Vorwürfe, die falls sie überhaupt zutreffen, größ­ten­teils nicht straf­recht­lich relevant sind, die außerdem komplett unbe­wiesen sind und aus diffusen Quellen und von zwei­fel­haften Autoren stammen, genügen, um einen Filme­ma­cher öffent­lich fertig­zu­ma­chen. Sie genügen, damit sein Film – in diesem Fall Sparta – vom Film­fes­tival Toronto aus dem Programm gestri­chen wird, und Preise, die einem Film­künstler gelten, zurück­ge­zogen werden.

Es sind die falschen Leute und die falschen Kriterien, die unsere öffent­li­chen Debatten bestimmen. Dagegen muss man kämpfen.

Natürlich gilt das nicht nur für das Feld von Kino und Film, es gilt aller­dings insbe­son­dere für den ganzen Bereich der Kunst. Im Feld der Kunst, und das heißt, auf dem Rücken der Kunst­werke und der Künstler werden zur Zeit die Schlachten ausge­tragen, die man sich im poli­ti­schen Verhältnis nicht auszu­tragen traut; bzw. wo die atta­ckie­rende Partei, die Politisch-Korrekten, die Schlau­meier und Mora­listen, die Sprach­po­li­zisten schon längst verloren haben. Sie werden auch hier verlieren. Aber es wird mühsam.

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Toronto hat den Film in letzter Minute ausge­laden, in San Sebastian hätte er sowieso seine offi­zi­elle Welt­pre­miere gehabt und dort wird sie selbst­ver­s­tänd­lich auch statt­finden. Die Basken haben bittere eigene Erfah­rungen mit Zensur, sie sind also sensibel – was den politisch Über­kor­rekten eigent­lich gefallen müssen. Bloß halt in eine andere Richtung.
Man bewerte Festi­val­bei­träge ausschließ­lich nach ihrer ästhe­ti­schen Qualität, erklärt das Festival. »Wenn jemand Beweise für ein Verbre­chen hat, sollte er dies der Justiz melden. Nur ein Gerichts­be­schluss könnte dazu führen, dass wir eine geplante Vorfüh­rung aussetzen.« Recht haben sie.

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Eine befreun­dete Regis­seurin, die Seidl nur in seinem Werk kennt, hatte mich bereits vor zehn Tagen auf den skan­da­li­sie­renden Spiegel-Text hin ange­schrieben, und nach meiner Meinung gefragt.
Ihrem eigenen Kommentar stimme ich intuitiv zu: »Ich denke, das ganze hat einen ziemlich üblen Beige­schmack, diese Art wie da recher­chiert wurde. Die Mitspieler und ihre Eltern hatten offenbar kein Problem mit den Dreh­ar­beiten, bis die Jour­na­listen ihnen weis­ge­macht haben, es gehe um Pädo­philie. Und jetzt wollen sie sich erst durch diese mediale Wirkung distan­zieren vom Film. Ich finde das ziemlich daneben. Den Film hat ja offenbar keiner von denen gesehen, auch nicht die Jour­na­listen. Die nicht mal danach gefragt haben. Ich finde es ziemlich krass, wie da mit dem Seidl umge­gangen wird.«

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Man versteht sowieso nicht, was die Ankläger eigent­lich haben? Die Eltern sind nicht infor­miert worden? Bei der Suche soll die Produk­ti­ons­firma verschwiegen haben, dass es sich um die Geschichte eines Pädo­philen handelt.
Mei wie schreck­lich.

Jeder, der nur einen Film von Seidl gesehen hat, weiß, dass dessen Kino von der Provo­ka­tion, und zwar der ästhe­ti­schen lebt. Die muss man herstellen.

Aber die demo­kra­ti­sche Hofge­sell­schaft im neuen SPIEGEL­saal ist puri­ta­nisch.

Tatsäch­lich hat aber niemand, der jetzt Seidl den Schau­pro­zess macht, den Film überhaupt gesehen.

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Mehr Debatten, weniger Diskurse. Das würde uns gut tun.

(to be continued)