Siberia

Italien/D/MEX 2020 · 92 min.
Regie: Abel Ferrara
Drehbuch: ,
Kamera: Stefano Falivene
Darsteller: Willem Dafoe, Dounia Sichov, Simon McBurney, Cristina Chiriac, Daniel Giménez Cacho u.a.
Willem Dafoe: lost in landscape
(Foto: Port au Prince)

Mit dem Hundeschlitten in die menschliche Seele

Wahrnehmung, subjektiv und chaotisch

»Verrückte, fremd­ar­tige Bilder, weder urban noch modern.« So beschreibt Abel Ferrara seinen neuesten Film. Siberia ist ein expe­ri­men­teller Psycho­trip, in dessen Zentrum der Wahlexi­lant Clint (Willem Dafoe) steht, der, vom Leben gezeichnet, in Sibirien die Einsam­keit sucht. Abge­schieden lebt er in einem zuge­schneiten Tal und betreibt ein einsames Café, in das sich nur selten jemand verirrt. Trotzdem findet Clint keine Ruhe. Er spannt seine Hunde vor den Schlitten und startet in die Wildnis. Zusammen mit Clint gleitet man über Schnee­wehen hinweg direkt in die verwor­rene Welt seiner Träume. Die einein­halb Stunden Film führen direkt ins Bewusst­sein von Clint.

Siberia ist die sechste Zusam­men­ar­beit zwischen Ferrara und Dafoe, die zwischen 1998 (New Rose Hotel) und 2019 (Tommaso) regel­mäßig zusam­men­ar­bei­teten. Das Drehbuch schrieb Ferrara gemeinsam mit Christ Zois, mit dem er ebenfalls schon mehrmals kolla­bo­riert hat. Zum Schreib­pro­zess merkt Ferrara an, dass es weniger darum ging, ein perfektes Drehbuch zu schaffen, sondern »Bilder zu sammeln und Erin­ne­rungen anzu­zapfen«.
Das Motiv der Erin­ne­rungen zieht sich durch den Großteil des Films. Clints abge­drehte Visionen von wilden Bären und singenden Wüsten­völ­kern sind mit wieder­auf­tau­chenden Gestalten aus seiner Vergan­gen­heit verflochten, wie seinem verstor­benen Vater (ebenfalls gespielt von Willem Dafoe) und seiner Exfrau (Dounia Sichov).

Der Drehort Südtirol gibt ein beein­dru­ckendes Sibirien ab, durch das die präzis-dyna­mi­sche Kamera von Stefano Falivene, der bereits in Pasolini mit Ferrara zusam­men­ar­bei­tete, Clint, der auf seinem Husky­schlitten über den Schnee dahin­fliegt, verfolgt. Für ihn, erklärte Ferrara auf der Pres­se­kon­fe­renz der Berlinale, stehe Sibirien für Exil, Einsam­keit und Kälte, es sei aber auch gleich­zeitig ein exoti­scher und magischer Ort.

Als eine Art »Jack-London-Welt« beschreibt er die Welt von Siberia. Jack Londons Aben­teu­er­ro­mane sind bereits unzählige Male verfilmt worden, und werden es immer noch. Während »Der Ruf der Wildnis« beispiels­weise 1935 mit Clark Gable in der Haupt­rolle erschien, lief noch im März, als Siberia ursprüng­lich starten sollte, Chris Sanders' Verfil­mung des Buch­klas­si­kers mit Harrison Ford in den Kinos.

Siberia und »Der Ruf der Wildnis« spielen tatsäch­lich in auf den ersten Blick sehr ähnlichen Welten.
So erzählt »Der Ruf der Wildnis« die Geschichte eines kali­for­ni­schen Hundes, der in Alaska landet, immer mehr verwil­dert, und sich schließ­lich einem Wolfs­rudel anschließt. Das Motiv des Wolfs­hundes wird in Siberia zahl­reiche Male zitiert. Das Ensemble von Huskies, die Clints Schlitten ziehen, wird so oft gezeigt, bis man glaubt, die Hunde­ge­sichter wie mensch­liche lesen zu können. Auch inhalt­lich ist hier eine Parallele zu sehen. Clint, ein Ameri­kaner, den es nach Sibirien verschlagen hat, scheint sich allein in der Wildnis auch immer mehr von der Mensch­heit zu entfernen. Doch anders als in klas­si­schen Jack-London-Verfil­mungen nutzt Ferrara diese wilde Welt nicht als Hinter­grund für einen Aben­teu­er­film, sondern mehr als Instru­ment für eine Reise in das Bewusst­sein des Prot­ago­nisten.

Dieses Bewusst­sein wird auch durch eine Verbin­dung von visuell starken Bildern und etwas Philo­so­phie und Symbo­lismus darge­stellt. Ein dunkler Magier zitiert Nietzsche, Clints böser Zwilling taucht in einer Wasser­ober­fläche auf und hinter­fragt höhnisch dessen seeli­schen Zustand.
»Do you actually believe you’ll find your soul here?« – das Spie­gel­bild von Willem Dafoes einge­fal­lenem Gesicht flackert über das Wasser, die Sonne taucht es in rotes Licht. Man kann seine Augen kaum ausmachen. Die Schatten, die über ihnen liegen, lassen sie wie zwei dunkle Höhlen wirken und graben dunkle Furchen in seine Züge. Der Schädel, der unter der erschlafften Haut liegt, schimmert gespens­tisch durch. Man hört das Plät­schern und Rauschen des Wassers, die Stimmen rauschen in der Grotte. »My soul is within me«, antwortet das Spie­gel­bild schließ­lich.

Siberia ist ein gelun­gener Versuch, die mensch­liche Wahr­neh­mung abzu­bilden, subjektiv und chaotisch. Der Film erklärt hierbei nichts und macht keine Aussagen. Man begegnet Clints Erin­ne­rungen, seinen Ängsten, Fantasien sowie vielem, was für den Außen­ste­henden nicht einzu­ordnen ist. Je tiefer man in das Innere der Figur eindringt, desto weniger ist das Geschehen auf der Leinwand verständ­lich. Es ist aber auch nicht nötig, das Gesehene zu verstehen. Siberia lässt es einen einfach erleben.

Schmerzensmann am Abgrund

Bad guy: Abel Ferraras neuester Streich

Clint (gespielt von Willem Dafoe) ist ein Mann, der sowohl geogra­phisch als auch psycho­lo­gisch in einem Zustand der Selbst­iso­lie­rung lebt. In einer abge­le­genen schnee­be­deckten Region Sibiriens betreibt er eine zusam­men­ge­baute Bar-Hütte. Seine wenigen mensch­li­chen Kontakte sind durch sprach­liche Barrieren einge­schränkt.
Clint ist ein selbst­ge­wählter Einzel­gänger.

Dies soll nicht bedeuten, dass Clint sozial gestört ist. Er ist weit davon entfernt, ein unhö­fli­cher Provo­ka­teur zu sein. Er ist gast­freund­lich, sogar warm­herzig, und macht seinen Besuchern schnell ein Getränk zurecht, aber der hohle Blick hinter seinen Augen spricht für mehr, als es ein Gespräch je könnte.

Zu Beginn des Films stellt sich noch die Frage, ob die Welt, in der Clint lebt, real ist; doch nach zwanzig Minuten taucht der Film ganz in die Abstrak­tion und surreale Phan­ta­sien ein.

Abel Ferrara, das katho­lisch-buddhis­ti­sche Enfant terrible, versucht in seinem neuen Film, weiter in die Komple­xität der mensch­li­chen Abgründe einzu­tau­chen. Siberia ist eine Studie über die Verflech­tung von Duali­täten – einige komplex und heraus­for­dernd, einige scheinbar einfach: der Tag und die Nacht, die Tundra und die Wüste.

Siberia ist ein dantesker Wahntrip, ein Abstieg in Traum- und Albtraum­welten, wie wir sie vom Regisseur von Bad Lieu­tenant gewohnt sind. Dies ist ein unter­halt­samer Film, getragen von selbst­be­wusstem Surrea­lismus. In Hallu­zi­na­tionen und Träumen wird Clint zu einer Art Reise­führer durchs Gelände von Schuld­ge­fühlen, Ängsten und Wünschen.

Clint wird dabei nicht allein von persön­li­chen, fami­liären Phantomen heim­ge­sucht – eines seiner wich­tigsten Traumata liegt in der offen­sicht­lich gestörten Beziehung zu seinem Vater –, sondern von der Gewalt-Geschichte der ganzen Mensch­heit. Darin erinnert der Film an Lars von Triers letztes Werk The House That Jack Built.
In einer Szene wird Clint Zeuge einer Massen­hin­rich­tung in einer Höhle. Die Täter sind Soldaten der NS-Wehrmacht.
Was Ferrara seinem Publikum zu vermit­teln versucht, sind eindeutig umfas­sen­dere Thesen über die Verderbt­heit des Menschen.

Wenn man als Zuschauer oder Zuschauerin hier aller­dings auf dem falschen Fuß erwischt wird, kann es einem schlecht ergehen in diesem Film: Dann fängt man an, zu entdecken, dass die Verweise mit dem Kochbuch der Küchen­psy­cho­logie zusam­men­ge­braut wurden: der Schnee steht für die Herzens­kälte der Welt, Wüste und Wälder für Einsam­keit, Höhlen und Keller für die Abgründe der Seele.

Im Zentrum steht das behaup­tete oder echte Leiden der Männer: Strenge Väter, begehrte Mütter, Frauen die nicht lieben wollen. Der arme, unver­stan­dene Mann.

Willem Dafoe gibt in der Haupt­rolle eine sehr gute Vorstel­lung ab. Seine Figur erfordert eine große Band­breite – und Dafoes Körper­lich­keit passt ideal: Sein Körper scheint mit der Laufzeit des Films mehr und mehr zu zerknit­tern und damit das Spie­gel­bild einer versehrten Psyche zu werden.

Insgesamt ist Siberia also ein heraus­for­dernder, ungleich­ge­wich­tiger Film, der zwei disparate Erzähl­stränge nicht immer über­zeu­gend verbindet: Siberia ist großartig als eine nuan­cierte, klug abstrakte Erfor­schung der Trauer, die aus der Einsam­keit entsteht und der Einsam­keit innewohnt.
Die univer­salen psycho­lo­gi­schen und philo­so­phi­schen Thesen wirken dagegen unaus­ge­goren.

Halbgarer Seelentrip

Ferrara hat seine beste Zeit hinter sich

Der New Yorker Abel Ferrara galt von den frühen 1980er-Jahren bis zur Mitte der 1990er-Jahre als einer der wich­tigsten ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Regis­seure. Doch spätes­tens seit dem neuen Jahr­tau­send ist es recht still um den Filme­ma­cher geworden. Siberia wird dies nicht ändern.

Sein neuer Film zeigt den alternden Clint (Willem Dafoe), der sich vor seiner Vergan­gen­heit in die Wildnis zurück­ge­zogen hat. Dort betreibt er in einer einsamen Hütte eine kleine Bar, die zumeist nur von verein­zelten Einhei­mi­schen besucht wird. Irgend­wann bricht Clint mit seinen Schlit­ten­hunden auf zu einer Reise, die in die Tiefen seines Unter­be­wusst­seins hinein führt.

Siberia beginnt mit kalten, blau-mono­chro­ma­ti­schen Bildern von der Berg­land­schaft, in der Clint lebt. Ebenfalls vom Blau dominiert sind die Innen­auf­nahmen von der kleinen Bar, in der er arbeitet. Nur eine Sexszene setzt einen warmen Farb­ak­zent. Sie entstammt wahr­schein­lich bereits der Fantasie von Clint, der sich im Verlaufe der Handlung immer mehr den Tagträumen überlässt. Clint träumt davon, wie er von einem zähne­flet­schenden Husky ange­fallen wird und wie er in einer Fels­grotte einer nackten Zwergin und einer ebenfalls nackten tanzenden korpu­lenten Dame begegnet. Dann begegnet er einer sonnen­be­brillten Spie­ge­lung seiner selbst und schließ­lich wichtigen Figuren aus seiner Vergan­gen­heit, wie seinen Eltern, seiner Ex-Frau und seinem Kind.

Anfangs unter­bre­chen die einzelnen Traum­se­quenzen immer wieder punktuell die karge Rahmen­hand­lung. Doch mit der Zeit verwan­delt sich Siberia in einen einzigen großen asso­zia­tiven Seelen­trip, der nur selten von der Rahmen­hand­lung in den Bergen unter­bro­chen wird. Dabei findet zunehmend eine Verschie­bung von Eis- und Schnee­wüsten zu sonnen­durch­flu­teten lichten Visionen auf saftigen Wiesen und in der trockenen Wüste statt. Mal tanzt Clint zusammen mit Kindern um einen Maibaum, mal spricht er mit einem Fisch. Zwischen­durch gibt es Schre­ckens­vi­sionen. Dieser Seelen­trip ist eine Selbst­zer­flei­schung, bei der Clint mit der Sehnsucht nach Erlösung ringt.

Abel Ferrara ist einen weiten Weg gegangen seit seinen anfäng­li­chen B-Movies, wie The Driller Killer (1979) und Die Frau mit der 45er Magnum (1981). Die Sehnsucht nach Erlösung trieb bereits die Prot­ago­nisten in seinen gefei­erten Crime-Dramen King of New York (1990) und Bad Lieu­tenant (1992) an. Auf kommer­zi­el­leren Pfaden wandelte er mit dem Sci-Fi-Horror­film-Remake Body Snatchers – Angriff der Körper­fresser (1993). Seine William Gibson-Verfil­mung New Rose Hotel (1998) wurde schon weit weniger wahr­ge­nommen. Was Ferrara seither gedreht hat, ist nur noch einem kleinen Kreis von Cine­philen bekannt.

Ferraras Katho­li­zismus durch­drang bereits seinen Film Bad Lieu­tenant, in dem Harvey Keitel einen dege­ne­rierten Cop spielt. In späteren Filmen wie Mary (2005) tritt dieser Katho­li­zismus noch deut­li­cher hervor. In Siberia wendet sich die Erlö­sungs­fan­tasie des Prot­ago­nisten ins Spiri­tu­elle, das stre­cken­weise wahrhaft kosmische Dimen­sionen annimmt. Bilder von Sonnen­erup­tionen veran­schau­li­chen das innere Brodeln von Clint. Die Handlung entwi­ckelt sich von der Beengt­heit der einsamen Berghütte und der unwirt­li­chen Fels­grotte hin zu kosmi­schen Panoramen. Diese vermögen jedoch nicht zu beein­dru­cken. Selbst die kochenden Sonnen­wirbel wirken bei Ferrara noch trocken. Der Zuschauer sieht in diesem Film weitest­ge­hend unbe­tei­ligt dem Geschehen zu. Er gelangt hier zu keiner großen Erkenntnis, sondern zu einer großen Ermüdung.

Das Haupt­pro­blem von Siberia besteht darin, dass sich in dem Film die vielen einzelnen Sequenzen zu keinem größeren Ganzen verbinden. Es reihen sich Szenen in der Hütte an Szenen auf dem Schlitten in den Bergen, im Wald, in der Wüste und im OP. Aber all dies bleibt ein einziger großer Flicken­tep­pich, der sich nicht zu einem kohä­renten Gesamt­bild zusam­men­fügen will. Erschwe­rend kommt hinzu, dass nicht wenige Szenen die Schwelle zur Lächer­lich­keit deutlich über­schreiten. Der Gesamt­ein­druck ist der eines ziemlich großen Miss­griffs. Ferrara hat seine beste Zeit eindeutig hinter sich.