Der Hauptmann

D/PL/P/F 2017 · 119 min. · FSK: ab 16
Regie: Robert Schwentke
Drehbuch:
Kamera: Florian Ballhaus
Darsteller: Max Hubacher, Milan Peschel, Frederick Lau, Bernd Hölscher, Waldemar Kobus u.a.
Filmszene »Der Hauptmann«
Die Verselbstständigung von Gewalt
(Foto: Weltkino)

Die Toten an unserem Tisch

»Macht entspricht der mensch­li­chen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusam­men­zu­schließen und im Einver­nehmen mit ihnen zu handeln.« – Hannah Arendt, Macht und Gewalt

Wie es der Zufall will, kommen in diesem Frühjahr gleich zwei Filme deutscher Regis­seure ins Kino, die sich nicht nur innovativ mit den Auswüchsen des Dritten Reichs beschäf­tigen, sondern auch mit einer gemein­samen Variante: in beiden Filmen verhilft ein Deux ex Machina-Attribut dem zentralen Charakter in eine neue Rolle zu schlüpfen. In Christian Petzolds auf der dies­jäh­rigen Berlinale urauf­ge­führter Anna Seghers-Adaption TRANSIT ist es ein Pass, der den illegalen Flücht­ling zu einem legalen Ausrei­senden (und neuem Menschen) macht, in Robert Schwentkes Der Hauptmann lässt eine Haupt­manns­uni­form einen versprengten und deser­tie­renden Gefreiten zu einem Hašek­schen »Schwejk«, einem »Köpenick«, einem Kaiser in neuen Kleidern werden.

Zwar weisen beide Filme mit ihren über­ra­schend gesetzten Bezügen zur Gegenwart eine weitere Gemein­sam­keit auf, doch das war es dann auch schon. Verstärkt Petzold sein seit Phoenix offen­sicht­li­chen Bruch mit dem eigenen Werk – der bisweilen an Wim Wenders »Neuer­fin­dung« seiner Person mit Paris, Texas erinnert – und zieht Pathos und Leer­stellen verstärkt narra­tiver Präsenz vor, geht Robert Schwentke in seinem Hauptmann einen ganz anderen Weg. Weniger als sich neu zu erfinden, erfindet er seinen eigenen Film gleich mehrmals neu.

Das passt zwar durchaus zu Schwentkes eigenem Lebensweg, der sich nach seinen ersten in Deutsch­land reali­sierten Filmen Tattoo (2002) und Eierdiebe (2003) aus Finan­zie­rungs­frust nach Amerika absetzte und dort im Block­bus­terbe­reich so etwas wie eine Heimat fand (Flight­plan; Die Frau des Zeit­rei­senden; R.E.D. – Älter, härter, besser; Die Bestim­mung – Allegiant), doch diesen mit einer großar­tigen Kamera (Florian Ballhaus) gefilmten, einem klugen musi­ka­li­schen Score (Martin Todsharow) unter­legten, einem unge­wöhn­lich starken schau­spie­le­ri­schen Ensemble beglei­teten und gegen jegliche Erwar­tungs­hal­tungen konzi­pierten Hauptmann dann zu sehen, ist etwas ganz anderes.

Vor allem deswegen, weil Schwentke es trotz der histo­risch belegten Geschichte, die er hier aus den letzten zwei Wochen des Zweiten Welt­kriegs in Schwarz­weiß­bil­dern erzählt, gleich mehrmals über­zeu­gend versteht das Genre zu wechseln. Erinnert der Einstieg von Schwentkes Hauptmann – der Fund einer Haupt­manns­uni­form in einem prekären Moment und die dadurch ausgelöste Neuer­fin­dung eines Menschen auf der Flucht, die Trans­for­ma­tion eines Opfers zum Täter – noch an eine jung­dy­na­mi­sche, auch komische Variation von Heinz Rühmanns Schwejk- und Köpenick-Inter­pre­ta­tionen, wird mit jeder Straßen­kon­trolle, an der sich Willi Herold (Max Hubacher) ausweisen muss, nicht nur die Lüge, die er erzählt größer, sondern eskaliert auch die Spirale der Gewalt.

So über­ra­schend diese Trans­for­ma­tion mit ihren taran­ti­no­esken Anteilen, mit stak­ka­to­ar­tigen Wechseln von Groteske zu scharzem Humor ist, so schnell streift Schwentke sie auch schon wieder ab. Spätes­tens im Lager II, in dem Herold und seine private Schutz­truppe sich als Richter über deutsche Deser­teure gerieren, unter­läuft Schwentke dann den Kern von Hans Christian Andersens »Des Kaisers neue Kleider« komplett. Denn im Hauptmann ist es nicht ein Kind bzw. die Unschuld, das die Lüge erkennt, sondern sind es die größten Schlächter, die Herold erkennen, ohne ihn aller­dings zu über­führen, sondern statt­dessen in seinem Namen alle nur erdenk­li­chen Tabus zu brechen.

Dieser gnaden­lose Blick auf die Verselbst­stän­di­gung von Gewalt, ein rausch­ar­tiges Sodom à la Pasolini, wird jedoch nur wenig später wieder zurück­ge­nommen; statt opulentem Pasolini gibt es weiterhin nur nüch­ternes Schwarz­weiß und vor allem eine Kamera, die sich vor der direkten, porno­gra­fi­schen Konfron­ta­tion mit der zügel­losen Gewalt zurück­zieht, sich nicht in die Grube des Grauens stürzt, sondern statt­dessen in eine akkurate Analyse von (NS-)Macht­hier­ar­chien übergeht, ohne dabei die wuchtige Geschichte aus dem Auge zu verlieren.

Doch Schwentke geht noch einen Schritt weiter. Schon in frühen Einstel­lungen wird mit einem subtilen, elek­tro­ni­schen Score die Histo­ri­zität des Haupt­manns immer wieder erschüt­tert, werden Verweise auf die Gegenwart gesetzt, gibt es einen Moment Farbfilm, in dem die Kamera einen Blick auf die Überreste des Straf­la­gers wirft, in dem Herold für Recht und Ordnung sorgte und gibt es vor allem ein großar­tiges, halb­do­ku­men­ta­ri­sches, in den Abspann des Films verfloch­tenes, furioses Ende, mit Bildern aus Görlitz, die auch den letzten Rest des Haupt­manns aus seinem histo­ri­schen Korsett befreien und den Spieß völlig umdrehen – Geschichte »ist«, nicht »war«; Geschichte, das sind immer auch »wir«.