22.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Die Moral der Amoral

The Kingdom
Für ein paar Stunden unsere Grenzen überschreiten: Julien Colonnas Le Royaume
(Foto: Chi-Fou-Mi Productions)

Kino als Lebensform: Erste Eindrücke von Filmen von Serebrennikov, Lanthimos, Coppola, Carax und ein großartiges Debüt von Julien Colonna – Cannes-Tagebuch, 2. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Geheime Verstecke, ein Leben im Unter­grund – all das ist äußerst roman­tisch. Es fällt mir nur schwer, mich zwischen zwei Versionen von Romantik zu entscheiden: Terro­rismus oder Wider­stands­netz, Carlos oder Jean Moulain – solange die offi­zi­elle Version nicht feststeht, haben beide jeden­falls gewisse Ähnlich­keiten.«
– Emmanuel Carrère

»Ich träume von einem gewalt­samen Aufstand. Ich werde niemals ein Nabokov werden, ich werde nie in der Schweizer Prärie auf englisch spre­chenden, haarigen Beinen Schmet­ter­lingen hinter­her­laufen. Geben Sie mir eine Million – ich kaufe dafür Waffen und sorge in egal welchem Land für einen Aufstand.«
– Edward Limonow

»We breath fear. We eat fear. That’s what keeps us alive.« – aus: »Le Royaume«

Eine Männer­welt, irgendwo im Süden. Wild­schweine werden gejagt; Körper, Schweiß, Blut – und mitten­drin ein junges Mädchen. Sie schneidet ein erlegtes Wild­schwein auf, nimmt die Gedärme raus, Blut­spritzer im Gesicht und man sieht, dass dies alles für sie auch eine Mutprobe ist, dass es sie Über­win­dung kostet. Der Lohn ist Schul­ter­klopfen.

Es ist von Anfang an eine sehr gute, präzise Regie, die uns zwischen den Bildern, ohne Worte, aber auch ohne direkte platte Bilder sofort mitteilt, dass dieses Mädchen eine Prin­zessin ist, dass es irgendwo einen König gibt, ihren Vater; man fragt sich auch gleich, welchen Prinz­ge­mahl sie wohl erwählen wird, erst recht, als sie abends in der Disko knutscht. Aber sie hat auch da ihre Prin­zi­pien.

Die Musik klingt wie in einem Thriller oder einem Horror­film und sie macht gleich klar, dass dies am Ende ernstes Genre-Kino ist und nichts irgendwie dazwi­schen.

Kurz darauf wird sie von jemandem abgeholt. Sie wusste vorher von nichts, aber sie kennt das offen­sicht­lich schon: »How long will I stay here?«
Ein Haus irgendwo am Meer. Wieder eine Männer­welt; zugleich sieht man, dass sie sich sicher fühlt, dass diese Männer ihr keine Gefahr bedeuten, und dann ist klar: Einer davon ist ihr Vater.
Allmäh­lich kommen weitere Infor­ma­tionen: Korsika, ein Attentat auf einen Politiker, ein Freund des Vaters. Die Natio­na­listen stecken nicht dahinter.

Tochter und Vater gehen Fischen auf dem Meer. Sie reden, über die Schule, die Tante, bei der sie lebt. Sie ist 16 und heißt Lesia. Der Vater ist autoritär, gibt ihr Lektionen, ist es gewohnt, dass man ihm gehorcht. Später essen sie den Fisch.
Aber was soll dieses ganze Geheim­nis­getue?

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Es dauert noch etwas, erst dann ist es klar: Seit über 30 Jahren ist der Vater unter­ge­taucht und wird von der Polizei gesucht. Denn er ist der Boss eines Mafia­clans. Der Ermordete war ein Politiker, der für ihn Dienste erledigt hat.

So geht es eine Weile weiter: Man sieht die Männer, wie sie mal wie Soldaten im Krieg Schutz­westen anlegen, ihre Waffen einste­cken, man glaubt auch gele­gent­lich zu sehen, dass sie beob­achtet werden.
Und dann wieder beim Kochen und Essen: Fisch­suppe mit Fenchel und Knoblauch.

Aufgaben werden verteilt: »Make sure that you will be seen.« Der Vater sagt: »Das ist der Anfang von etwas Größerem.« Dann ist Lesias Paten­onkel tot. »We must stay strong«, sagt der Vater, aber allmäh­lich schleicht sich etwas ein in dieses vertraute, erprobte Leben: Das Wissen, dass es damit zu Ende geht.

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Lesia will verstehen: Was wollen die Anderen? Worum geht es? Kann man mit ihnen reden? Nein, sagt der Vater. Man disku­tiert nicht mit ihnen. Sie wollen töten. Es geht um Geld und es geht um Macht.
Sie müssen das Haus verlassen, wechseln immer schneller die Orte. Sie schlagen zurück, aber auch die Polizei ist ihnen auf den Fersen.

Es wird immer klarer, dass diese Tage, die als kurzer Besuch beim Vater geplant waren, die letzten Tage sind, die sie überhaupt gemeinsam verbringen werden.
Auf einem Camping­platz, getarnt als Touristen, sprechen sie mitein­ander: Die Tochter sagt ihm: Du hast Angst. Seine Antwort: Im Leben, das wir leben, hat man immer Angst. Wir atmen Angst, wir essen Angst. Das hält uns am Leben.
Der Vater erzählt von der toten Mutter, von den besten Jahren seines Lebens; er sagt, er hätte nie gedacht, dass er so alt werden würde. Er sei weder stolz, noch schäme er sich für das, was er getan hat. »Nun zahle ich dafür. Und du zahlst auch den Preis. Das tut mir weh. Ich hoffe, eines Tages vergibst du mir.«

Dann tanzen Vater und Tochter mitein­ander. Das ganze Leben verdichtet sich auf diesen einen Moment. Das ganze Leben, das man nicht zusammen verbringen wird, das ist jetzt und hier in dieser Inten­sität ganz da.

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Total toll ist, wie sich die perma­nente Angst und Wach­sam­keit überträgt. Auch der Zuschauer erwartet immerzu das Schlimmste.

Immer wieder führt einen der Film auch an der Nase herum: Einmal geht der Vater über die Straße und wird auf eine Weise gefilmt, dass man glaubt, ganz sicher zu sein, dass er jetzt erschossen wird. Aber tatsäch­lich sind die Männer, die aus dem Auto aussteigen, seine Mitar­beiter und mit ihnen zusammen dringt er in ein Etablis­se­ment ein, wo er jemanden tötet.

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Irgend­wann ist es dann doch vorbei. Und dann kommt noch eine Volte: Denn Lesia, die dabei ist, als der Vater erschossen wird, rächt ihn, denn sie hat den Verräter erkannt.

Der Freund des Vaters, der ihr hilft, sagt ihr danach: »Wir kümmern uns um die Anderen. Von nun an möchte ich dich nie wieder mit einer Waffe sehen.«

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Der Film heißt Le Royaume und ist das Debüt von Julien Colonna, der hier groß­ar­tiges Gangs­ter­kino und Männer­welten, Mate­ria­lität und Haptik wie bei Michael Mann mit Motiven des Coming-of-Age und der Desil­lu­sio­nie­rung verbindet.
Es ist hohe Regie-Kunst: Colonna schafft es, dass das Publikum Figuren versteht oder sogar liebt, deren Verhalten man nicht gutheißen kann. Dass wir die Moral der Amoral nach­voll­ziehen.
Es gibt nichts Besseres, als wenn Kino das leistet, und wir selbst im Film für ein paar Stunden unsere Grenzen über­schreiten.

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Einen solchen Film in seiner Eleganz, in der Souver­ä­nität seiner Machart, könnte in Deutsch­land niemand so insze­nieren. Außer natürlich Dominik Graf und Jan Bonny. Sorry to say.

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Er war ein Nichts und ein kleiner König, ein Maulheld und ein erfolg­rei­cher Poet, ein narziss­ti­scher Dandy und ein liebe­voller Liebhaber, Vater und Freund. »Als unbe­deu­tender Rebell ging er ins Gefängnis, als er entlassen wurde, war er ein Liebling der Medien«, heißt es einmal im Film – dieser Mann der Gegen­sätze ist Edward Limonow (1943-2020), eine der schil­lerndsten Figuren der jüngeren russi­schen Geschichte. Als Dissident wurde er 1973 ausge­wiesen, zunächst nach New York, lebte dort eine Weile in bitterer Armut, und schrieb in den nächsten 15 Jahren 17 Bücher, die immer erfolg­rei­cher wurden. Seit 1982 in Paris lebend kehrte er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in die unter­ge­hende UdSSR zurück. Dort gründete er eine Partei, die manche für faschis­tisch hielten, die aber von Oppo­si­tio­nellen geliebt wurde, weil sie Putin mutig heraus­for­derte, und die viel­leicht doch vor allem ein Kunst­pro­jekt war. Der Franzose Emmanuel Carrère setzte ihm mit seinen Doku-Roman »Limonow« bereits ein Denkmal zu Lebzeiten – das Buch ist Grundlage für den gleich­na­migen Film von Kiril Sere­bren­nikov, der jetzt bei den Film­fest­spielen von Cannes gefeiert wurde und ein heißer Kandidat auf einen Preis am Wochen­ende ist.

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Der Film konzen­triert das übervolle Material dieses Lebens auf wenige Schlüs­sel­mo­mente, die sich aus meiner Sicht allzu stark auf die Zeit in den USA und auf sein Liebes­leben konzen­trieren. Er lebt aber vor allem durch die glän­zenden Bilder von Kame­ra­mann Roman Vassyanov und durch seinen Haupt­dar­steller Ben Winshaw – der einst den Massen­mörder in »Das Parfüm« spielte und einen glänzend-abgrün­digen Limonow gibt.
Regisseur Kiril Sere­bren­nikov ist zum vierten Mal im Wett­be­werb und selbst Putin-Gegner und Dissident. Seit 2022 lebt er im Exil in Deutsch­land – in diesem Film dürfte er auch sein eigenes Schicksal spiegeln. Bei der Pres­se­kon­fe­renz am Montag verwies er auf aktuelle poli­ti­sche Prozesse gegen Künstler und klagte Putins Regime offen an. Der ganz große Preis dürfte am Samstag ausbleiben, dafür ist Limonow politisch zu kontro­vers, eine Aner­ken­nung aber ist dem Film sicher.

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Schöne, gelungene Filme wie dieser und Enttäu­schungen halten sich bisher die Waage an den ersten Tagen der Film­fest­spiele und in einem Wett­be­werb, der bislang eine eher durch­wach­sene Qualität hat, und dem vor allem die echten High­lights und vor allem die Über­ra­schungen fehlen. Aber noch ist erst Halbzeit und die Gewinner der Goldenen Palme liefen in den letzten Jahren aller­dings oft erst in der zweiten Hälfte.

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Positiv über­ra­schen konnte Emilia Perez vom Franzosen Jacques Audiard, eine abwechs­lungs­reiche Story über einen mexi­ka­ni­schen Drogen­boss und seine Anwältin, die mit verein­zelten Musical-Passagen originell und souverän insze­niert, nur gele­gent­lich etwas zu glatt geraten ist.

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Enttäuscht hat hingegen der Grieche Yorgos Lanthimos. Nach seinem Oscar­renner Poor Things hat er Emma Stone zum dritten Mal hinter­ein­ander wieder eine Haupt­rolle geschenkt, und auch sonst ist ihm nichts Neues einge­fallen: Kinds of Kindness folgt der inzwi­schen zur Routine gewor­denen Lanthimos-Masche wohl­tem­pe­rierter, in lakonisch-trockener Sprache und gleich­mütig-ausdrucks­armem Spiel darge­reichter Gren­zü­ber­schrei­tung; ein Kino über Wohl­stands­ver­hält­nisse für Wohl­stands­bürger, die hier über ihre eigene Infan­ti­lität schmun­zeln dürfen, ohne in ihrem Alltag nach­haltig irritiert zu werden.

Der neue Film spielt in der Gegenwart, und erinnert eher an The Killing of a Sacred Deer als an Poor Things. Kinds of Kindness besteht eigent­lich aus drei Geschichten, die durch drei Leit­mo­tive zusam­men­ge­halten werden: Es sind zum einen immer die gleichen fünf Haupt­dar­steller; es geht zum zweiten um Essge­wohn­heiten (inklusive Kanni­ba­lismus); und es geht schließ­lich um Regel­brüche, deren Bestra­fung durch Ausgren­zung dazu führt, dass die betrof­fenen Menschen sich nun erst recht an die absurden Regel­sys­teme anpassen wollen. Lanthimos-Fans verzeihen ihrem Meister alles, auch einen Film wie diesen. Der Rest blieb etwas ratlos, enttäuscht oder verärgert über einen Regisseur zurück, der sich längst zum eitlen Poseur entwi­ckelt hat, der seine Masche endlos variiert, dessen Filme darüber aber von Mal zu Mal leerer werden.

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Auch umstritten, aber ungleich span­nender war dagegen Francis Ford Coppolas erste Regie­ar­beit seit über 10 Jahren: Mega­lo­polis ist ein in naher Zukunft spie­lendes Science-Fiction-Drama, aber auch ein sehr persön­li­ches Herzens­pro­jekt und eine letztlich ernst gemeine Analyse der traurigen Lage der USA: Adam Driver spielt die Haupt­rolle in einem Film, der einen ratlos zurück­lässt, dies aber auf eine Weise, dass man ihn sofort noch einmal sehen will, um zu verstehen, was man da sieht.

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Die wahren Kino-Perlen bieten auch in Cannes aber oft die Neben­reihen: Hier konnte man Scénarios sehen, den aller­letzten Film des 2022 verstor­benen Jean Luc Godard – ein berüh­render Abschied von einem Leben, das ganz und gar dem Kino galt.
Dass aber auch das Kino als Lebens­form weiter­exis­tiert, dafür steht in Frank­reich zum einen jemand wie Leos Carax (Holy Motors). Sein 40-minütiger C'est pas moi ist eine viel­schich­tige Selbst­re­fle­xion, die aus dem eigenen Leben die ganze Welt entwi­ckelt, die immer auch die Welt der Kino­bilder ist – ein melan­cho­lisch-utopi­scher Film, der, mit vier­telstün­digen Ovationen bedacht, im Nu zum Liebling des dies­jäh­rigen Festi­val­jahr­gangs wurde.

Für die Zukunft des Kinos muss einem nicht bange sein. Jeden­falls des fran­zö­si­schen.