77. Filmfestspiele Cannes 2024
Die Moral der Amoral |
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Für ein paar Stunden unsere Grenzen überschreiten: Julien Colonnas Le Royaume | ||
(Foto: Chi-Fou-Mi Productions) |
»Geheime Verstecke, ein Leben im Untergrund – all das ist äußerst romantisch. Es fällt mir nur schwer, mich zwischen zwei Versionen von Romantik zu entscheiden: Terrorismus oder Widerstandsnetz, Carlos oder Jean Moulain – solange die offizielle Version nicht feststeht, haben beide jedenfalls gewisse Ähnlichkeiten.«
– Emmanuel Carrère»Ich träume von einem gewaltsamen Aufstand. Ich werde niemals ein Nabokov werden, ich werde nie in der Schweizer Prärie auf englisch sprechenden, haarigen Beinen Schmetterlingen hinterherlaufen. Geben Sie mir eine Million – ich kaufe dafür Waffen und sorge in egal welchem Land für einen Aufstand.«
– Edward Limonow»We breath fear. We eat fear. That’s what keeps us alive.« – aus: »Le Royaume«
Eine Männerwelt, irgendwo im Süden. Wildschweine werden gejagt; Körper, Schweiß, Blut – und mittendrin ein junges Mädchen. Sie schneidet ein erlegtes Wildschwein auf, nimmt die Gedärme raus, Blutspritzer im Gesicht und man sieht, dass dies alles für sie auch eine Mutprobe ist, dass es sie Überwindung kostet. Der Lohn ist Schulterklopfen.
Es ist von Anfang an eine sehr gute, präzise Regie, die uns zwischen den Bildern, ohne Worte, aber auch ohne direkte platte Bilder sofort mitteilt, dass dieses Mädchen eine Prinzessin ist, dass es irgendwo einen König gibt, ihren Vater; man fragt sich auch gleich, welchen Prinzgemahl sie wohl erwählen wird, erst recht, als sie abends in der Disko knutscht. Aber sie hat auch da ihre Prinzipien.
Die Musik klingt wie in einem Thriller oder einem Horrorfilm und sie macht gleich klar, dass dies am Ende ernstes Genre-Kino ist und nichts irgendwie dazwischen.
Kurz darauf wird sie von jemandem abgeholt. Sie wusste vorher von nichts, aber sie kennt das offensichtlich schon: »How long will I stay here?«
Ein Haus irgendwo am Meer. Wieder eine Männerwelt; zugleich sieht man, dass sie sich sicher fühlt, dass diese Männer ihr keine Gefahr bedeuten, und dann ist klar: Einer davon ist ihr Vater.
Allmählich kommen weitere Informationen: Korsika, ein Attentat auf einen Politiker, ein Freund des Vaters. Die Nationalisten stecken nicht
dahinter.
Tochter und Vater gehen Fischen auf dem Meer. Sie reden, über die Schule, die Tante, bei der sie lebt. Sie ist 16 und heißt Lesia. Der Vater ist autoritär, gibt ihr Lektionen, ist es gewohnt, dass man ihm gehorcht. Später essen sie den Fisch.
Aber was soll dieses ganze Geheimnisgetue?
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Es dauert noch etwas, erst dann ist es klar: Seit über 30 Jahren ist der Vater untergetaucht und wird von der Polizei gesucht. Denn er ist der Boss eines Mafiaclans. Der Ermordete war ein Politiker, der für ihn Dienste erledigt hat.
So geht es eine Weile weiter: Man sieht die Männer, wie sie mal wie Soldaten im Krieg Schutzwesten anlegen, ihre Waffen einstecken, man glaubt auch gelegentlich zu sehen, dass sie beobachtet werden.
Und dann wieder beim Kochen und Essen: Fischsuppe mit Fenchel und Knoblauch.
Aufgaben werden verteilt: »Make sure that you will be seen.« Der Vater sagt: »Das ist der Anfang von etwas Größerem.« Dann ist Lesias Patenonkel tot. »We must stay strong«, sagt der Vater, aber allmählich schleicht sich etwas ein in dieses vertraute, erprobte Leben: Das Wissen, dass es damit zu Ende geht.
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Lesia will verstehen: Was wollen die Anderen? Worum geht es? Kann man mit ihnen reden? Nein, sagt der Vater. Man diskutiert nicht mit ihnen. Sie wollen töten. Es geht um Geld und es geht um Macht.
Sie müssen das Haus verlassen, wechseln immer schneller die Orte. Sie schlagen zurück, aber auch die Polizei ist ihnen auf den Fersen.
Es wird immer klarer, dass diese Tage, die als kurzer Besuch beim Vater geplant waren, die letzten Tage sind, die sie überhaupt gemeinsam verbringen werden.
Auf einem Campingplatz, getarnt als Touristen, sprechen sie miteinander: Die Tochter sagt ihm: Du hast Angst. Seine Antwort: Im Leben, das wir leben, hat man immer Angst. Wir atmen Angst, wir essen Angst. Das hält uns am Leben.
Der Vater erzählt von der toten Mutter, von den besten Jahren seines Lebens; er sagt, er hätte nie
gedacht, dass er so alt werden würde. Er sei weder stolz, noch schäme er sich für das, was er getan hat. »Nun zahle ich dafür. Und du zahlst auch den Preis. Das tut mir weh. Ich hoffe, eines Tages vergibst du mir.«
Dann tanzen Vater und Tochter miteinander. Das ganze Leben verdichtet sich auf diesen einen Moment. Das ganze Leben, das man nicht zusammen verbringen wird, das ist jetzt und hier in dieser Intensität ganz da.
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Total toll ist, wie sich die permanente Angst und Wachsamkeit überträgt. Auch der Zuschauer erwartet immerzu das Schlimmste.
Immer wieder führt einen der Film auch an der Nase herum: Einmal geht der Vater über die Straße und wird auf eine Weise gefilmt, dass man glaubt, ganz sicher zu sein, dass er jetzt erschossen wird. Aber tatsächlich sind die Männer, die aus dem Auto aussteigen, seine Mitarbeiter und mit ihnen zusammen dringt er in ein Etablissement ein, wo er jemanden tötet.
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Irgendwann ist es dann doch vorbei. Und dann kommt noch eine Volte: Denn Lesia, die dabei ist, als der Vater erschossen wird, rächt ihn, denn sie hat den Verräter erkannt.
Der Freund des Vaters, der ihr hilft, sagt ihr danach: »Wir kümmern uns um die Anderen. Von nun an möchte ich dich nie wieder mit einer Waffe sehen.«
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Der Film heißt Le Royaume und ist das Debüt von Julien Colonna, der hier großartiges Gangsterkino und Männerwelten, Materialität und Haptik wie bei Michael Mann mit Motiven des Coming-of-Age und der Desillusionierung verbindet.
Es ist hohe Regie-Kunst: Colonna schafft es, dass das Publikum Figuren versteht oder sogar liebt, deren Verhalten man nicht gutheißen kann. Dass wir die Moral der Amoral nachvollziehen.
Es gibt nichts Besseres, als wenn Kino
das leistet, und wir selbst im Film für ein paar Stunden unsere Grenzen überschreiten.
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Einen solchen Film in seiner Eleganz, in der Souveränität seiner Machart, könnte in Deutschland niemand so inszenieren. Außer natürlich Dominik Graf und Jan Bonny. Sorry to say.
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Er war ein Nichts und ein kleiner König, ein Maulheld und ein erfolgreicher Poet, ein narzisstischer Dandy und ein liebevoller Liebhaber, Vater und Freund. »Als unbedeutender Rebell ging er ins Gefängnis, als er entlassen wurde, war er ein Liebling der Medien«, heißt es einmal im Film – dieser Mann der Gegensätze ist Edward Limonow (1943-2020), eine der schillerndsten Figuren der jüngeren russischen Geschichte. Als Dissident wurde er 1973 ausgewiesen, zunächst nach New York, lebte dort eine Weile in bitterer Armut, und schrieb in den nächsten 15 Jahren 17 Bücher, die immer erfolgreicher wurden. Seit 1982 in Paris lebend kehrte er nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in die untergehende UdSSR zurück. Dort gründete er eine Partei, die manche für faschistisch hielten, die aber von Oppositionellen geliebt wurde, weil sie Putin mutig herausforderte, und die vielleicht doch vor allem ein Kunstprojekt war. Der Franzose Emmanuel Carrère setzte ihm mit seinen Doku-Roman »Limonow« bereits ein Denkmal zu Lebzeiten – das Buch ist Grundlage für den gleichnamigen Film von Kiril Serebrennikov, der jetzt bei den Filmfestspielen von Cannes gefeiert wurde und ein heißer Kandidat auf einen Preis am Wochenende ist.
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Der Film konzentriert das übervolle Material dieses Lebens auf wenige Schlüsselmomente, die sich aus meiner Sicht allzu stark auf die Zeit in den USA und auf sein Liebesleben konzentrieren. Er lebt aber vor allem durch die glänzenden Bilder von Kameramann Roman Vassyanov und durch seinen Hauptdarsteller Ben Winshaw – der einst den Massenmörder in »Das Parfüm« spielte und einen glänzend-abgründigen Limonow gibt.
Regisseur Kiril Serebrennikov ist zum vierten Mal im
Wettbewerb und selbst Putin-Gegner und Dissident. Seit 2022 lebt er im Exil in Deutschland – in diesem Film dürfte er auch sein eigenes Schicksal spiegeln. Bei der Pressekonferenz am Montag verwies er auf aktuelle politische Prozesse gegen Künstler und klagte Putins Regime offen an. Der ganz große Preis dürfte am Samstag ausbleiben, dafür ist Limonow politisch zu kontrovers, eine Anerkennung aber ist dem Film sicher.
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Schöne, gelungene Filme wie dieser und Enttäuschungen halten sich bisher die Waage an den ersten Tagen der Filmfestspiele und in einem Wettbewerb, der bislang eine eher durchwachsene Qualität hat, und dem vor allem die echten Highlights und vor allem die Überraschungen fehlen. Aber noch ist erst Halbzeit und die Gewinner der Goldenen Palme liefen in den letzten Jahren allerdings oft erst in der zweiten Hälfte.
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Positiv überraschen konnte Emilia Perez vom Franzosen Jacques Audiard, eine abwechslungsreiche Story über einen mexikanischen Drogenboss und seine Anwältin, die mit vereinzelten Musical-Passagen originell und souverän inszeniert, nur gelegentlich etwas zu glatt geraten ist.
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Enttäuscht hat hingegen der Grieche Yorgos Lanthimos. Nach seinem Oscarrenner Poor Things hat er Emma Stone zum dritten Mal hintereinander wieder eine Hauptrolle geschenkt, und auch sonst ist ihm nichts Neues eingefallen: Kinds of Kindness folgt der inzwischen zur Routine gewordenen Lanthimos-Masche wohltemperierter, in lakonisch-trockener Sprache und gleichmütig-ausdrucksarmem Spiel dargereichter Grenzüberschreitung; ein Kino über Wohlstandsverhältnisse für Wohlstandsbürger, die hier über ihre eigene Infantilität schmunzeln dürfen, ohne in ihrem Alltag nachhaltig irritiert zu werden.
Der neue Film spielt in der Gegenwart, und erinnert eher an The Killing of a Sacred Deer als an Poor Things. Kinds of Kindness besteht eigentlich aus drei Geschichten, die durch drei Leitmotive zusammengehalten werden: Es sind zum einen immer die gleichen fünf Hauptdarsteller; es geht zum zweiten um Essgewohnheiten (inklusive Kannibalismus); und es geht schließlich um Regelbrüche, deren Bestrafung durch Ausgrenzung dazu führt, dass die betroffenen Menschen sich nun erst recht an die absurden Regelsysteme anpassen wollen. Lanthimos-Fans verzeihen ihrem Meister alles, auch einen Film wie diesen. Der Rest blieb etwas ratlos, enttäuscht oder verärgert über einen Regisseur zurück, der sich längst zum eitlen Poseur entwickelt hat, der seine Masche endlos variiert, dessen Filme darüber aber von Mal zu Mal leerer werden.
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Auch umstritten, aber ungleich spannender war dagegen Francis Ford Coppolas erste Regiearbeit seit über 10 Jahren: Megalopolis ist ein in naher Zukunft spielendes Science-Fiction-Drama, aber auch ein sehr persönliches Herzensprojekt und eine letztlich ernst gemeine Analyse der traurigen Lage der USA: Adam Driver spielt die Hauptrolle in einem Film, der einen ratlos zurücklässt, dies aber auf eine Weise, dass man ihn sofort noch einmal sehen will, um zu verstehen, was man da sieht.
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Die wahren Kino-Perlen bieten auch in Cannes aber oft die Nebenreihen: Hier konnte man Scénarios sehen, den allerletzten Film des 2022 verstorbenen Jean Luc Godard – ein berührender Abschied von einem Leben, das ganz und gar dem Kino galt.
Dass aber auch das Kino als Lebensform weiterexistiert, dafür steht in Frankreich zum einen jemand wie Leos Carax (Holy
Motors). Sein 40-minütiger C'est pas moi ist eine vielschichtige Selbstreflexion, die aus dem eigenen Leben die ganze Welt entwickelt, die immer auch die Welt der Kinobilder ist – ein melancholisch-utopischer Film, der, mit viertelstündigen Ovationen bedacht, im Nu zum Liebling des diesjährigen Festivaljahrgangs wurde.
Für die Zukunft des Kinos muss einem nicht bange sein. Jedenfalls des französischen.