23.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Lauter letzte Filme

Marcello Mio
Tod und Abschied und die Erinnerung...
(Foto: Frenetic Films)

Das Leben nach dem Tod in Cannes: Die Filmfestspiele von Cannes haben ihr Thema gefunden: Erinnerung, Weiterleben, Tod. Und: Cannes in Gefahr? – Cannes-Tagebuch, 3. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Die Wirk­lich­keit inter­es­siert mich nicht. Sie ist mir nicht schön genug.«
– Jacques Demy

Es wird nicht passieren, aber es müsste passieren, dass hier am Samstag Francis Ford Coppola mit der Goldenen Palme ausge­zeichnet wird – allein schon, um ein Zeichen zu setzen. Aller­dings ist von einer Jury mit einer Präsi­dentin Greta Gerwig, die syste­ma­tisch ein bisschen über­schätzt wird, als Regis­seurin und als film­po­li­tisch denkende Autorin, eher zu erwarten, dass sie cheesy iden­ti­täts­po­li­ti­sche Punkte setzen möchte, anstatt mit einer Auszeich­nung für Coppola zu sagen, dass Kino so, wie es jetzt ist, nicht gut ist. Das Kino muss ein anderes werden; und es muss zurück zu New Hollywood, zu einem Kino der Rebellen, die ihre Klassiker ausge­zeichnet kannten, die gesell­schaft­liche Rebellen waren, aber auch künst­le­ri­sche, und nicht mit Regie­rungs­gel­dern und NGO-Fonds und Förder­pöls­ter­chen ausge­stat­tete Rentiers.

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Das Festival von Cannes muss es schaffen, einen Film auszu­zeichnen, der sich wirklich unter­scheidet von dem typischen Oscar-Kandi­daten. Die Tatsache, dass Venedig derart ameri­ka­ni­siert und auf die Oscar-Verlei­hung ausge­richtet ist, verschärft diesen Druck für Cannes noch – obwohl man meinen könnte, dass es ihnen dann leichter fiele, ihr Allein­stel­lungs­merkmal heraus­zu­ar­beiten.
Aber hier darf es nicht passieren, dass etwa ein Film wie The Substance gewinnt, weil sich die Jury irgend­etwas Halbgares zu »Empower­ment« einbildet.

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Wenn nicht Coppola, und wenn nicht Sere­bren­nikow (vergl. die vorherige Folge), dann Chris­tophe Honoré. Auch davon ist nicht auszu­gehen.

Honoré hat einen sehr fran­zö­si­schen, sehr nost­al­gi­schen und sehr persön­li­chen Film gemacht, der sich an cinephile Menschen richtet und zur Weltlage aber auch so gar nichts sagen und beitragen möchte. Das sind selbst in Cannes schlechte Voraus­set­zungen für Preise.

Aber gerade das macht diesen Film so bezau­bernd: In Marcello Mio spielen Chiara Mastroi­anni, Catherine Deneuve, Melvil Poupaud, Fabrice Luchini, Nicole Garcia und andere sich selbst. Und doch ist es ein Spielfilm.
Er dreht sich darum, dass Chiara Mastroi­anni, immer wieder mit ihren Eltern vergli­chen wird. Als eine Regis­seurin (Garcia) ihr sagt, sie solle doch etwas mehr Mastroi­anni, und etwas weniger Deneuve sein, hat das einen psycho­lo­gi­schen Schock und eine Iden­ti­täts­krise zur Folge: Am Morgen sieht sie im Spiegel nicht mehr ihr Gesicht, sondern das des Vaters.

Von nun an beginnt sie eine Travestie und kleidet sich in Männer­an­zügen à la Ginger und Fred, zieht eine Perücke und einen Schnurr­bart auf und »ist« nun Marcello Mastroi­anni.

Damit ist dieser Film sogar auch eine über­ra­schende Komödie und Veral­be­rung der bei uns vorherr­schenden Iden­ti­täts­dis­kurse und der verbis­senen Ernst­haf­tig­keit, mit der sie geführt werden. »Mein inneres und mein äußeres Selbst sind jetzt endlich im Einklang«, sagt Mastroi­anni, und im Saal gibt es Lacher.

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Der Film selbst ist aber doppelt ernst­ge­meint: Marcello Mio ist ein Film mit doku­men­ta­ri­schen Elementen, in dem man viel über das Leben von Chiara Mastroi­anni mit ihren Eltern erfährt, und sogar die Wohnung besucht wird, wo das unver­hei­ra­tete Paar Deneuve-Mastroi­anni einst mit der Tochter lebte, in der in der Wohnung drunter früher Maria Callas lebte und Arien probte und in der jetzt wie überall irgend­welche Leute mit schlechtem Geschmack wohnen.

»Alles ist verändert. Das gehört zum Leben«, seufzt resi­gniert Catherine Deneuve zu diesem Verlust der Aura.

Es ist auch ein Essay über Schau­spiel­kunst, und über das Verhältnis der Tochter zu ihrem Vater, dem sie wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Sie muss ihren Vater spielen, um über ihn reden und sich von ihm verab­schieden zu können.

Vor allem aber ist dies ein sehr zärt­li­cher Film über Liebe und Freund­schaft, ein warm­her­ziger Film, und ein Liebes­dienst natürlich an dem Vater.
Es geht letztlich um Tod und Abschied, um das Weiter­leben in der Erin­ne­rung und um das letzt­liche Vergehen eben­dieser Erin­ne­rungen.

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Damit passt dieser wunder­bare, in sich perfekte Film zu jener Tendenz, die sich allmäh­lich als die in diesem Jahr thema­tisch prägende heraus­stellt. Mit den Sujets: Erin­ne­rung, Erinnert-werden, Tod und Nachleben hat »Cannes 2024« sein Thema gefunden. Wir sehen hier lauter letzte Filme: Von Coppola, von Godard, von Carax, von Cronen­berg, von Fargeat, und nun von Honoré. Oder Filme in denen das Sterben und der Abschied im Zentrum stehen.
Dazu noch mehr die nächsten Tage.

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Eine andere Form des Abschieds stellt auch der Portu­giese Miguel Gomes ins Zentrum seines neuen Films. Grand Tour ist eine nost­al­gi­sche Anrufung kolo­nialer (nicht »post­ko­lo­nialer«) Phan­ta­sien und Phantome. Ein Bräutigam flieht vor seiner Verlobten durch das Britische Empire des Jahres 1918. Der Erzäh­ler­text dieser Reise durch die Stationen Mandalay, Burma, Singapur, Siam, Vietnam, Manila, Ozaka, Shanghai wird in der jewei­ligen Landes­sprache gespro­chen. Dazu sieht man Schwarz­weiß­bilder aus der Gegenwart.
In Methode und Stil frag­wür­dige Exploita­tion ist das erratisch, nicht sehr schlüssig, aber schön anzusehen. Vor allem triggert es unsere eigenen Phan­ta­sien.

Gomes zielt in seiner kolo­nialen und impe­rialen Phantasie auf den Untergang: »Das Ende des Empire wird in wenigen Jahren geschehen«, sagt eine Figur. »Wir werden gehen, ohne irgend­etwas verstanden zu haben. Der Westen kann die orien­ta­li­sche Kultur nicht begreifen.«

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Ist Cannes in Gefahr, seine Vorrang­stel­lung im inter­na­tio­nalen Festi­val­kosmos zu verlieren? Es gibt bestimmte Indizien, die in diesem Jahr besonders deutlich sichtbar werden.
Wo sind sie denn hin, die Filme aus Rumänien? Wo sind die Filme aus Japan? Warum zeigt Cannes einen Film wie den von Carax oder auch Godard nicht in der Wett­be­werbs­se­lek­tion, sondern schiebt ihn in die Nebensek­tionen.

Man hat den Eindruck, dass das Festival gerade auf der Suche ist. Man sucht einen neuen Weg, ist mit sich selbst nicht ganz im Reinen. Man will viel­leicht die Filme nicht mehr haben, die man bisher über Gebühr hatte, weiß aber nicht genau, welche man haben sollte.
Diese Iden­ti­täts­krise ist nicht so stark wie die der Berlinale, und die Probleme sind noch nicht mal 10 Prozent so groß wie dort. Eine Weile kann sich das Cannes-Festival problemlos aus den Beständen und dem eigenen Ruf nähern.
Aber wenn sich nichts ändert, wird es Cannes so gehen, wie dem FC Bayern im deutschen Fußball: Ein Newcomer, von dem man es nie erwartet hätte, Vizekusen, wird Deutscher Meister und der FC Bayern wird nur Dritter. Da muss Cannes aufpassen. Ich möchte das in meinem Leben nicht mehr erleben. Natürlich muss irgend­wann alles fallen und unter­gehen, so wie auch Rom unter­ge­gangen ist, wovon Coppola so eindrucks­voll erzählte.

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Die Konzen­tra­tion auf den ersten Tagen ist in Cannes zu stark. Das hat man schon im letzten und im vorletzten Jahr gemerkt. Und es gibt nicht genug gute Filme für zwölf Tage. Gleich­zeitig ist es für Cannes nicht nur gut, dass es dem Festival-Direktor Thierry Frémaux gelungen ist, die beiden unab­hän­gigen Reihen Semaine und Quinzaine quasi zu Studen­ten­film­sek­tionen zu degra­dieren. Vor allem bei der Quinzaine ist der Verfall eklatant. Offen­sicht­liche Wokeness ist das einzige, was die Film­aus­wahl dominiert: Die Filme werden nach iden­ti­täts­po­li­ti­schen Kriterien ausge­sucht. Und weil in so einer Reihe keine Regis­seure mit Selbst­ach­tung laufen wollen, auch wenn sie viel­leicht die Kriterien erfüllen, sind die aller­meisten Filme dort schwach. So ist die Quinzaine eine Reihe, in die in den letzten zwei Jahren vor allem die Menschen rein­gingen, die keine Karten für die offi­zi­elle Sektion bekommen haben. Das kann schnell korri­giert werden; es muss aber auch korri­giert werden. Denn sonst stirbt eine solche Reihe.

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Es gibt ein paar ganz spezi­fi­sche Gefahren, denen das Film­fes­tival von Cannes ausge­setzt ist. Das wird ab heute sichtbar, acht Tage nach der Eröffnung. Der Markt des Festivals ist zwar noch nicht zu Ende, aber schon so gut wie leer­ge­fegt. Die ameri­ka­ni­schen Redak­tionen der Festival-Dailys produ­zieren keine Festival-Zeitung, weil es nichts zu infor­mieren gibt – immerhin gibt es noch das Screen Daily und natürlich kann man online auch woanders weiter­lesen. Aber es ist nicht mehr nötig aus Pres­ti­ge­gründen. Man fragt sich bei diesen Ausgaben sowieso, wie viel das kostet und umgekehrt einbringt. Natürlich wird das alles durch Anzeigen finan­ziert, aber eben nur für acht Tage, nicht die 12 Tage, die das Festival tatsäch­lich dauert. Asiaten und Latein­ame­ri­kaner bleiben unter Umständen noch und zwar vor allem deswegen, weil der Übersee-Flug sowieso für sie extrem teuer ist, und weil man die Cannes-Apart­ments entweder für eine Woche oder für zwei Wochen mieten kann, nicht nach Tagen bezahlt.

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Wir alle vermissen das »Le Crillon«, den lang­jäh­rigen Stamm­platz vieler Cannes-Gäste. Es gibt keinen gleich­wer­tigen Ersatz. Es gibt also keinen echten Treff­punkt mehr, keinen Ort, von dem aus man sehr gut über­bli­cken kann, wer ins Palais geht und vom Palais kommt. Es gibt die Presse-Terrassen, die aber ihren Dienst nur teilweise tun, schon weil sie spätes­tens um 11 Uhr abends geschlossen sind, und es dort nichts zu essen gibt.

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»Die Tage, als man Verträge auf den Menü­karten eines Restau­rants unter­zeich­nete oder mit Hand­schlag, die sind vorbei. Heute wird alles ganz genau geplant und abgewogen. Es gibt weniger Spon­ta­n­eität und Begeis­te­rung.«
Eine sehr erfahrene und glänzend infor­mierte Markt­ma­na­gerin erzählte mir heute im Gespräch ihre Eindrücke vom Cannes-Markt. Die Markt-Leute seien zwar weiterhin da, aber seit der Pandemie auf eine andere Weise und in einer anderen Form als früher. Auch die großen Firmen kämen heute kürzer, sie kämen mit weniger Leuten. Überall werde vor allem Geld einge­spart. »Und alle fragen sich: was bringt die Zukunft? Es ist eine große Unsi­cher­heit da.«

Zugleich seien die Preise der Filme sehr hoch und die Einkäufer warteten viel länger ab als früher. »Sie wissen: Wenn die Euphorie von Cannes vorbei ist, dann trennt sich die Spreu vom Weizen, dann werden zwar die Filme, die große Preise gewinnen, weiterhin teuer sein. Aber bei den anderen überlegen sich die Verkäufer, ob sie mit ihren Vorstel­lungen runter­gehen oder den Film in der Schublade behalten wollen.«

Der Jacques-Audiard-Film im Wett­be­werb wird den deutschen Verlei­hern für 750.000 Euro angeboten, eben­so­viel kostet auch der Coppola-Film, und der neue Lanthimos.

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Ich selbst habe schon den Eindruck, dass es viel weniger Scree­nings auf dem Markt gibt. Früher konnte man ganze Tage damit zubringen, auf dem Markt Liebes­dramen aus Indien und Gangs­ter­filme aus Ostasiaten anzusehen. Heute werden solche Filme nicht mehr angeboten. Gezeigt werden die Filme, die in der offi­zi­ellen Selektion sind.

Auch andere erprobte Cannes-Gäste teilen diesen Eindruck. Man muss sich nur ein bisschen am Markt umschauen und diese tollen Dailys auch lesen, die dort rumliegen. Dann ist klar, dass relativ wenig gehandelt wird. Es sind viel weniger Händler da, um einzu­kaufen oder zu verkaufen. Dafür gibt es eine Fülle von Konfe­renzen und Panels. Die trotzdem stei­genden Besu­cher­zahlen sind auch darauf zurück­zu­führen.

Es findet viel Akti­vi­täts­si­mu­la­tion und Handels­si­mu­la­tion statt. Im Augen­blick zeigen sich die einschnei­denden Folgen der Pandemie viel stärker als noch im letzten Jahr und erst recht vor zwei Jahren.