16.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Vor dem Sturm

Kino in Cannes
Noch ist alles ruhig...
(Foto: Rüdiger Suchsland)

Zum Auftakt der Filmfestspiele: Der Klimawandel tut Cannes nicht gut, die Filme sind noch zu wohltemperiert, aber der Flow ist da – Cannes-Tagebuch, 1.Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Je weniger die Welt so ist, wie von der Theorie vorher­ge­sagt, umso sicherer sind sich die Polit­theo­re­tiker, daß ihre Theorie stimmt, die Welt in Wirk­lich­keit doch so ist, wie sie sagen, spätes­tens in der Zukunft so sein wird; Unbe­irr­bar­keit, Hochmut, loge­lei­hafte Beweise. Wie ich das schöne blaue Buch von Peter Hacks sehe, Zur Romantik.«
– Rainald Goetz, »Journal 2019«

»Die Politik schleicht sich in die Cannes-Blase ein« behauptet der gewöhn­lich schlecht infor­mierte »Tages­spiegel« – aber viel­leicht ist es ja umgekehrt: Und Cannes schleicht sich in die Politik-Blase ein und bringt sie zum Platzen.

Denn tatsäch­lich ist der Eröff­nungs­film ein sehr kühl kalku­lierter, mit teilweise auch schalen Witzen garnierter, trotzdem sehr gut funk­tio­nie­render Film, der zudem all die staats­tra­genden, latent wich­tig­tue­ri­schen Reden, die die Eröff­nungs­ze­re­monie bestimmten, Reden von Schau­spie­lern und Film­funk­ti­onären, die anderes besser können, als unter­halt­same Reden zu halten, kühl konterten. Quentin Dupieux' The Second Act hatte als Wahl zur Eröffnung zunächst über­rascht: Dieser Regisseur ist für fran­zö­si­sche Verhält­nisse besten­falls zweit­klassig und scheint nicht in die Riege und in die Augenhöhe jenes Autoren­kinos zu passen, das hier sonst gezeigt wird.
Aber dann wieder doch, denn es geht zum einen um Film im Film im Film, und es macht Spaß, den glän­zenden Darstel­lern wie Léa Seydoux, Louis Garrel und Vincent Lindon dabei zuzusehen, wie sie fast boule­vard­haft drauf­lo­s­ch­ar­gieren und ihr eigenes Image ironi­sieren.
Vor allem aber: Der Film veralbert alles, was man gern als Wokeness bezeichnet, ironi­siert Iden­ti­täts­po­litik, poli­ti­sche Korrekt­heit, Acht­sam­keit, und Cancel-Culture sowieso. Dies ist eine Komödie gegen Empfind­lich­keit und was man dafür hält, gegen Über­emp­find­lich­keit.

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Es gibt immer ein paar Menschen, denen man in einem Festi­val­jahr­gang dauernd begegnet: In diesem Jahr scheint es in jedem Fall Alek­sandra zu werden, die Berliner Regis­seurin und dffb-Absol­ventin, mit der ich seit den Streik­zeiten von 2015 befreundet bin. Erst letzte Woche hatten wir uns gesehen, und sie hatte von ihrem Debütfilm erzählt, den sie bald in mehreren Ländern drehen will. Auch dazu ist sie wieder in Cannes, nachdem sie vor ein paar Jahren hier erstmals vom Festival zu Recht als begabte Nach­wuchs­fil­me­ma­cherin einge­laden wurde; vor allem aber, weil man, wenn man einmal in Cannes war und »Blut geleckt« hat, von diesem Festival, dem Mekka des Kinos, nicht mehr lassen kann.
Alek­sandra habe ich jetzt nach der Begegnung am Flughafen schon zweimal getroffen, offenbar Karma ‘24, das auch damit zusam­men­hängt, dass ich ihr vor ein paar Wochen ihre Mitbe­woh­nerin vermit­telt habe. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Ein erstes schon sehr groß­ar­tiges Erlebnis war, wie ich heute in die Eröff­nungs­ver­an­stal­tung von »Un Certain Regard« hinein­ge­kommen bin. Ich hatte mich nämlich darum zu spät gekümmert, und alles war schon seit Stunden ausge­bucht. Sogar die Schlange mit den »late admis­sions« war bereits geschlossen. Aber meine Erfahrung sagte trotzdem, dass man dann nicht einfach weggehen sollte, mir wird sich immer noch irgendwo ein Möglich­keits-Türchen auftun. Tatsäch­lich sah ich dann nach zehn­ma­ligem vergeb­li­chem Reloaden der Ticket­seite plötzlich einen grünen Button – irgendwer hatte seine Karte zurück­ge­geben und ich konnte zugreifen.

Cannes bedeutet auch, den Zufall regieren lassen, den Flow, der einem dann die ganz persön­liche Festi­val­ge­schichte schreibt.

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In diese Eröffnung wollte ich vor allem aus zwei Gründen: Die Perfor­mance des Festi­val­chefs Thierry Frémaux sind immer eine Betrach­tung wert. Und ich wollte den Film sehen, über den im Vorfeld am meisten geredet wurde, nicht seiner Qualität wegen, sondern seines Skan­da­li­sie­rungs­werts: Der Kurzfilm Moi aussi, von Judith Godrèche. Von den Redak­tionen in Deutsch­land werde ich öfters zu dem Film befragt werden, denn er verspricht Ablenkung von ästhe­ti­schen Fragen, Hinwen­dung zum soge­nannten »Poli­ti­schen«, in Wahrheit eher Mora­li­se­r­enden.

Godrèche ist eine heute eher unbe­kannte Schau­spie­lerin, die in Frank­reich zur »Me Too«-Akti­vistin aufge­stiegen ist, und wegen ihren traurigen persön­li­chen Erfah­rungen – wobei auch hier nichts bewiesen, sondern nur behauptet ist – eine sehr allgemein gehaltene Kampagne gegen Autoren­kino als solches und die Nouvelle Vague im Beson­deren macht.
Der 17-minütige Kurzfilm ist von endlosen Wieder­ho­lungen geprägte Symbol­po­litik, und vor allem einmal lang­weilig und banal. Man mag ihn »bewegend« finden, ich finde ihn vor allem kitschig und nichts­sa­gend. Am Ende gab es Applaus, aber nicht über­schäu­mend und der Versuch einiger, den Saal zu Standing Ovations zu animieren, schlug fehl.

So hatte ich eher das Gefühl einer geschickten Pflich­tü­bung des Festivals, um sich mit einem eher schlechten Film ein lästiges Thema vom Leib zu halten.

Tatsäch­lich sind Sexismus, Miss­brauch und Verge­wal­ti­gung Themen für die Gerichte und die Gesell­schaft, die in der Kunst nur Platz haben, wenn sie ästhe­ti­schen Mehrwert schaffen.

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Der »Un Certain Regard«-Eröff­nungs­film heißt Ljosbrot (»When the Light breaks«) kommt aus Island und reißt künst­le­risch keine Bäume aus. Runar Runarsson erzählt von einer jungen Frau, deren Freund bei einem Unglück stirbt. Weil der noch liiert war und ihre Affäre geheim blieb, ist sie mit der Trauer ganz allein – ein Fall von Trau­ma­be­wäl­ti­gungs­kino, solide in sozi­al­rea­lis­ti­schem Stil erzählt.

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Auch nicht höllisch inter­es­sant, aber etwas unge­wöhn­li­cher war der erste Wett­be­werbs­bei­trag: Diamant Brut von der Französin Agathe Riedinger, der das Spiel­film­debüt dieser Regis­seurin ist. Sie erzählt die Nacht­reise einer jungen Frau. Die Verhält­nisse sind aus White-Trash, wie man sie schon hundertmal im Kino gesehen hat: Mutter mit häufig wech­selndem Geschlechts­ver­kehr, eine Schwester, deren Kinder­glück against all odds beschützt werden muss, die Tochter und Heldin mit wenig Geld, riesigem Plas­tik­busen, gespritzten Lippen, Neigung zum Fehler­ma­chen und großen Träumen. Diese gelten einer Karriere in Trash-TV-Shows und SM, also nicht Sado-Maso, sondern Social Media, was aber aufs Gleiche rausläuft.
Einen Lover aus dem Biker-Milieu gibt es auch und viele Freaks.
Das alles geht schon und ist ambi­tio­niert gefilmt. Im Wett­be­werb aber hat Diamant Brut nichts zu suchen, außer dass er die Quote der Frauen ebenso steigert, wie die der Debüts und die der fran­zö­si­schen Filme – gewis­ser­maßen ein Drei­er­pasch. Damit hat das Festival Ruhe an der Quoten­front und kann sich auf die wirklich inter­es­santen Filme und das Autoren­kino konzen­trieren fürs Festival.

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Der Klima­wandel tut Cannes nicht gut. Mal wieder Regen und Gewitter zum Festi­val­auf­takt. Und saukalt ist es auch.

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Dann traf ich noch kurz Violeta aus Buenos Aires, Produ­zentin und Festi­val­ma­cherin, die es trotz aller Widrig­keiten wieder hierher geschafft hat. Wir sind uns einig: »Die Politik sei more than a cata­strophe. The world is collapsing ever­y­where; new dark ages in front of us. But there is still football and Cinema.« »More football for me this year« fügt sie noch hinzu. Da kann ich, mit Blick auf den 1.6. natürlich nicht wider­spre­chen.