77. Filmfestspiele Cannes 2024
Vor dem Sturm |
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Noch ist alles ruhig... | ||
(Foto: Rüdiger Suchsland) |
»Je weniger die Welt so ist, wie von der Theorie vorhergesagt, umso sicherer sind sich die Polittheoretiker, daß ihre Theorie stimmt, die Welt in Wirklichkeit doch so ist, wie sie sagen, spätestens in der Zukunft so sein wird; Unbeirrbarkeit, Hochmut, logeleihafte Beweise. Wie ich das schöne blaue Buch von Peter Hacks sehe, Zur Romantik.«
– Rainald Goetz, »Journal 2019«
»Die Politik schleicht sich in die Cannes-Blase ein« behauptet der gewöhnlich schlecht informierte »Tagesspiegel« – aber vielleicht ist es ja umgekehrt: Und Cannes schleicht sich in die Politik-Blase ein und bringt sie zum Platzen.
Denn tatsächlich ist der Eröffnungsfilm ein sehr kühl kalkulierter, mit teilweise auch schalen Witzen garnierter, trotzdem sehr gut funktionierender Film, der zudem all die staatstragenden, latent wichtigtuerischen Reden, die die Eröffnungszeremonie bestimmten, Reden von Schauspielern und Filmfunktionären, die anderes besser können, als unterhaltsame Reden zu halten, kühl konterten. Quentin Dupieux' The Second Act hatte als Wahl zur
Eröffnung zunächst überrascht: Dieser Regisseur ist für französische Verhältnisse bestenfalls zweitklassig und scheint nicht in die Riege und in die Augenhöhe jenes Autorenkinos zu passen, das hier sonst gezeigt wird.
Aber dann wieder doch, denn es geht zum einen um Film im Film im Film, und es macht Spaß, den glänzenden Darstellern wie Léa Seydoux, Louis Garrel und Vincent Lindon dabei zuzusehen, wie sie fast boulevardhaft draufloschargieren und ihr eigenes Image
ironisieren.
Vor allem aber: Der Film veralbert alles, was man gern als Wokeness bezeichnet, ironisiert Identitätspolitik, politische Korrektheit, Achtsamkeit, und Cancel-Culture sowieso. Dies ist eine Komödie gegen Empfindlichkeit und was man dafür hält, gegen Überempfindlichkeit.
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Es gibt immer ein paar Menschen, denen man in einem Festivaljahrgang dauernd begegnet: In diesem Jahr scheint es in jedem Fall Aleksandra zu werden, die Berliner Regisseurin und dffb-Absolventin, mit der ich seit den Streikzeiten von 2015 befreundet bin. Erst letzte Woche hatten wir uns gesehen, und sie hatte von ihrem Debütfilm erzählt, den sie bald in mehreren Ländern drehen will. Auch dazu ist sie wieder in Cannes, nachdem sie vor ein paar Jahren hier erstmals vom Festival zu Recht
als begabte Nachwuchsfilmemacherin eingeladen wurde; vor allem aber, weil man, wenn man einmal in Cannes war und »Blut geleckt« hat, von diesem Festival, dem Mekka des Kinos, nicht mehr lassen kann.
Aleksandra habe ich jetzt nach der Begegnung am Flughafen schon zweimal getroffen, offenbar Karma ‘24, das auch damit zusammenhängt, dass ich ihr vor ein paar Wochen ihre Mitbewohnerin vermittelt habe. Aber das ist eine andere Geschichte.
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Ein erstes schon sehr großartiges Erlebnis war, wie ich heute in die Eröffnungsveranstaltung von »Un Certain Regard« hineingekommen bin. Ich hatte mich nämlich darum zu spät gekümmert, und alles war schon seit Stunden ausgebucht. Sogar die Schlange mit den »late admissions« war bereits geschlossen. Aber meine Erfahrung sagte trotzdem, dass man dann nicht einfach weggehen sollte, mir wird sich immer noch irgendwo ein Möglichkeits-Türchen auftun. Tatsächlich sah ich dann nach zehnmaligem vergeblichem Reloaden der Ticketseite plötzlich einen grünen Button – irgendwer hatte seine Karte zurückgegeben und ich konnte zugreifen.
Cannes bedeutet auch, den Zufall regieren lassen, den Flow, der einem dann die ganz persönliche Festivalgeschichte schreibt.
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In diese Eröffnung wollte ich vor allem aus zwei Gründen: Die Performance des Festivalchefs Thierry Frémaux sind immer eine Betrachtung wert. Und ich wollte den Film sehen, über den im Vorfeld am meisten geredet wurde, nicht seiner Qualität wegen, sondern seines Skandalisierungswerts: Der Kurzfilm Moi aussi, von Judith Godrèche. Von den Redaktionen in Deutschland werde ich öfters zu dem Film befragt werden, denn er verspricht Ablenkung von ästhetischen Fragen, Hinwendung zum sogenannten »Politischen«, in Wahrheit eher Moraliserenden.
Godrèche ist eine heute eher unbekannte Schauspielerin, die in Frankreich zur »Me Too«-Aktivistin aufgestiegen ist, und wegen ihren traurigen persönlichen Erfahrungen – wobei auch hier nichts bewiesen, sondern nur behauptet ist – eine sehr allgemein gehaltene Kampagne gegen Autorenkino als solches und die Nouvelle Vague im Besonderen macht.
Der 17-minütige Kurzfilm ist von endlosen Wiederholungen geprägte Symbolpolitik, und vor allem einmal langweilig und
banal. Man mag ihn »bewegend« finden, ich finde ihn vor allem kitschig und nichtssagend. Am Ende gab es Applaus, aber nicht überschäumend und der Versuch einiger, den Saal zu Standing Ovations zu animieren, schlug fehl.
So hatte ich eher das Gefühl einer geschickten Pflichtübung des Festivals, um sich mit einem eher schlechten Film ein lästiges Thema vom Leib zu halten.
Tatsächlich sind Sexismus, Missbrauch und Vergewaltigung Themen für die Gerichte und die Gesellschaft, die in der Kunst nur Platz haben, wenn sie ästhetischen Mehrwert schaffen.
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Der »Un Certain Regard«-Eröffnungsfilm heißt Ljosbrot (»When the Light breaks«) kommt aus Island und reißt künstlerisch keine Bäume aus. Runar Runarsson erzählt von einer jungen Frau, deren Freund bei einem Unglück stirbt. Weil der noch liiert war und ihre Affäre geheim blieb, ist sie mit der Trauer ganz allein – ein Fall von Traumabewältigungskino, solide in sozialrealistischem Stil erzählt.
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Auch nicht höllisch interessant, aber etwas ungewöhnlicher war der erste Wettbewerbsbeitrag: Diamant Brut von der Französin Agathe Riedinger, der das Spielfilmdebüt dieser Regisseurin ist. Sie erzählt die Nachtreise einer jungen Frau. Die Verhältnisse sind aus White-Trash, wie man sie schon hundertmal im Kino gesehen hat: Mutter mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr, eine Schwester, deren Kinderglück against all odds beschützt werden muss, die
Tochter und Heldin mit wenig Geld, riesigem Plastikbusen, gespritzten Lippen, Neigung zum Fehlermachen und großen Träumen. Diese gelten einer Karriere in Trash-TV-Shows und SM, also nicht Sado-Maso, sondern Social Media, was aber aufs Gleiche rausläuft.
Einen Lover aus dem Biker-Milieu gibt es auch und viele Freaks.
Das alles geht schon und ist ambitioniert gefilmt. Im Wettbewerb aber hat Diamant Brut nichts zu suchen, außer dass er die Quote der Frauen
ebenso steigert, wie die der Debüts und die der französischen Filme – gewissermaßen ein Dreierpasch. Damit hat das Festival Ruhe an der Quotenfront und kann sich auf die wirklich interessanten Filme und das Autorenkino konzentrieren fürs Festival.
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Der Klimawandel tut Cannes nicht gut. Mal wieder Regen und Gewitter zum Festivalauftakt. Und saukalt ist es auch.
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Dann traf ich noch kurz Violeta aus Buenos Aires, Produzentin und Festivalmacherin, die es trotz aller Widrigkeiten wieder hierher geschafft hat. Wir sind uns einig: »Die Politik sei more than a catastrophe. The world is collapsing everywhere; new dark ages in front of us. But there is still football and Cinema.« »More football for me this year« fügt sie noch hinzu. Da kann ich, mit Blick auf den 1.6. natürlich nicht widersprechen.