19.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Der Extraktivist

Kinds of Kindness
Die Lampe passt zur Frau und umgekehrt
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Yorgos Lanthimos)

Ankunft und Einstieg in Cannes: Yorgos Lanthimos' Kinds Of Kindness verkündet das Ende des Humanen

Von Dunja Bialas

Nie lässt sich alles voraus­planen oder bis zum Ende orga­ni­sieren. So kann folgendes passieren: Obwohl der Nachtzug nach Genua einein­halb Stunden Verspä­tung hatte und die Umstei­ge­zeit nach Venti­mi­glia auf ein Nichts geschrumpft ist, habe ich den Zug noch rennend erwischt. Und auch der zweite Umstieg war in Gefahr, aber die Weiter­fahrt von Venti­mi­glia nach Cannes hat dann geklappt. Mit lächer­li­chen fünf Minuten Verspä­tung bin ich in der Stadt ange­kommen, wo vor den Filmen »Vive le cinéma!«, es lebe das Kino, gerufen wird.

Ohne QR-Code geht hier nichts

Geht man in die Stadt Richtung Croisette hinein, wo das Festi­val­zen­trum direkt am Meer liegt, domi­nieren die Festi­valiers mit Badges, die Groupies und Starletts das Stadtbild. Frauen im Minimal-Look mit viel Haut, Männer in dicken Hosen und weißen Hemden verströmen Reichtum und Glamour, andere werfen sich vor ihrem Handy in Pose oder machen durch Extra­va­ganz auf sich aufmerksam. Wer nicht auffällt, der nicht existiert. Ich fühle mich augen­blick­lich under­dressed und over­co­vered. Je n’existe pas.

Meinen Koffer werfe ich in der Gepäck­auf­be­wah­rung ab, mein Fahrrad hole ich mir im Lauf­schritt, denn schon geht es in die erste Schlange, die unser aller Existenz in den nächsten Tagen bestimmen wird: Anstehen für den Einlass, Anstehen für die Taschen­kon­trolle, Anstehen für den Kaffee, den Köfte, das Croissant. Allein diesmal sollte es anders sein: Nicht ich, nein, mein Mobil­te­lefon erleidet nach 17 Stunden Zugfahrt einen radikalen Breakdown, rien ne va plus. Kein mobiles Netz mehr erreichbar für mich und damit: kein Ticket zum Vorzeigen.

Da reicht es auch nicht, die Bestä­ti­gungs­mail vom Laptop zu zeigen. Ohne QR-Code, klar, geht hier nichts. Schließ­lich: Last minute rescue, bevor ich aus der Schlange fliege: ich schnorre jemanden um seinen Hotspot an. Geteilt, Ticket geladen, gescannt, in den Kinosaal gekommen, erster Film. Yorgos Lanthimos!

Das Ende der Freund­lich­keit

Kinds of Kindness – »Arten von Freund­lich­keit«, derart gewunden heißt der neue Film des insgesamt mit sechs Oscars deko­rierten grie­chi­schen Regis­seurs. Von Freund­lich­keit ist dann auch keine Spur. In drei Episoden geht es um eine mit den Initia­lien »R.M.F.« verrät­selte Figur. Verschie­dene physische Zustände werden von dem sich in immer neuen Konstel­la­tionen tref­fenden Cast (Emma Stone, Willem Dafoe, Jesse Plomens, Margaret Qualley) durch­ex­er­ziert, der Tod, das Essen, die Rettung. Ähnlich wie die Existenz der Menschen ist auch die körper­liche Inte­grität in Frage gestellt, als mensch­liche Wurf­ge­schosse oder opfer­be­reite Unter­tanen werden sie, bis zum Ende des Films, gefähr­lich in Todesnähe gebracht. Denn nicht zuletzt geht es auch um Auto­un­fälle – und spätes­tens dann erinnert das immer auch an die Verletz­bar­keit und vermeint­liche Unver­wund­bar­keit der repa­rier­baren Körper aus David Cronen­bergs Crash, dem sexuell aufge­la­denen Body-Horror.

Lanthimos insze­niert auch in Kinds of Kindness eines seiner Lieb­lings­themen, das wie ein roter Faden sein gesamtes Werk durch­läuft. Es ist die dysto­pi­sche Substi­tu­ti­ons­phan­tasie, die sich dann zuträgt, wenn das Leben am Ende ist, die Familie Verlust erfährt oder die Gesell­schaft ausein­an­der­fällt. Stets haben die Dystopien etwas kris­tall­klar zum Vorschein gebracht: die Unmög­lich­keit, den Tod eines Kindes zu verar­beiten in Alpeis, exis­ten­ti­ellen Verdrän­gungs­kampf in der höfischen Gesell­schaft in The Favourite, das Versagen in der zwischen­mensch­li­chen Liebe in The Lobster mit dem offen­ba­renden deutschen Titel: Hummer sind auch nur Menschen.

Hier, in Kinds of Kindness, erfährt Lanthimos' Substi­tu­ti­ons­phan­tasma seinen zynischen, aber auch jeder weiteren Bedeutung entleerten Höhepunkt. Der in der ersten Episode zum willen­losen Avatar degra­dierte Mensch (Jesse Plemons) reali­siert die Phan­ta­sien seines Meisters (Willem Dafoe), er ist dessen fleisch­ge­wor­denes Imaginäres. In der zweiten Episode kehrt Emma Stone als totge­glaubte Ehefrau Liz zu ihrem Mann (Jesse Plemons) zurück. Er ist fest davon überzeugt, dass sie »ausge­tauscht« wurde, dass ein anderer, womöglich mons­tröser Mensch in ihrem Körper steckt, weshalb er von ihr gleich­falls nach immer mons­trö­seren Dingen verlangt, damit sich die echte Liz zeigen möge. Das erinnert an den grie­chi­schen Mythos, an Penelope, die, weil der nicht heim­keh­rende Odysseus tot geglaubt war, von Freiern belagert wurde. Die Aufgaben, die sie ihnen stellte, konnten sie nicht lösen – das schaffte erst der wahre Odysseus, der sich dadurch zu erkennen gibt. Ähnlich verhält es sich mit Liz.

Extrak­ti­vis­ti­sche Zwischen­mensch­lich­keit

Daneben sind die Figuren in ein Verhältnis der Extrak­tion geworfen – Zwischen­mensch­lich­keit zeigt sich nur als radikales Ausnehmen des Gegenü­bers, auch buchs­täb­lich und bis ins Exis­ten­zi­elle hinein. Hier geht es auch um Opfer­gaben des Körpers, den Daumen, die Leber, also um die Frag­men­tie­rung des Körpers bis in den Tod hinein, um den Körper als Hülle des bösen Geistes zu vernichten. Eine Sekte nimmt seine Jünger aus, neue Frauen werden dem Meister zugeführt, andere werden ausge­stoßen, weil sie »konta­mi­niert« sind: die betrof­fene Frau wurde von ihrem Ex-Mann unter K.O.-Tropfen gesetzt und verge­wal­tigt.

Sex und sexua­li­sierte Gewalt sind über das Festivals von Cannes schwe­bende Key-Words. Schilder beim Einlass ins Kino weisen darauf hin, dass sexuelle Anzüg­lich­keiten und Über­griffe nicht toleriert werden, Hinter­grund ist die zweite Welle von »Me too«, die Frank­reich gerade mit voller Wucht erfasst hat. Die Schau­spie­lerin Judith Godrèche klagt Benoît Jacquot und auch Jacques Doillon, den sympa­thi­schen Underdog des Autoren­kinos, an, ihren Ruhm auf Über­grif­fig­keit zu begründen. Ihr Film Moi aussi eröffnete die Sektion »Un certain regard«. Alle sind aware, aber machen beim Spiel, viel Haut und sich sexy zu zeigen, trotzdem mit. Und die Leinwand ist natürlich geduldig.

So auch bei Lanthimos. Konnte ich der Sex-Beses­sen­heit der Frau in Poor Things noch eine femi­nis­tisch gewendete Befreiung des weib­li­chen Körpers und eine selbst­be­stimmte weibliche Sexua­lität attes­tieren, muss ich mein Urteil nach Kinds of Kindness jetzt gründlich nach­jus­tieren. Hier blickt allein der Male Gaze unver­hohlen auf den weib­li­chen Körper. Die Kamera fährt langsam die nicht enden wollenden Frau­en­beine entlang und findet kurz vor dem Po dann doch Stoff. Meist sind die Frauen halbnackt, ohnehin sind sie zu Beginn nur hübsche Acces­soires. Ihr Figuren-Gegenteil sieht dann gleich nach Gouver­nante aus, wenn Emma Stone als Prot­ago­nistin Emily im rost­braunen Hosen­anzug durchs Bild schreitet. Aber auch sie entblößt Frauen (Margaret Qualley), vermisst und wiegt den nackten Körper, ohne dass dies auf Plotebene einen Sinn finden könnte.

Lanthimos' Kinds of Kindness läuft so komplett ins Leere. Der Film ist ein drei­ma­liger Würfel­wurf von einem, der beweisen will, dass er die anthro­po­lo­gi­sche Häss­lich­keit in allen Konstel­la­tionen beherrscht. Ohne den Ehrgeiz jedoch, mit seinen Geschichten auch noch irgend­etwas über die Gesell­schaft aussagen zu wollen, verpufft seine Kunst der Anklage zum puren Zynismus. Der ist nicht mehr entlar­vend und pessi­mis­tisch, um aus der Nega­ti­vität heraus aber doch noch von Humanität zu sprechen. Derart jeglichen Sinnes entleert ist sein neuer Film nur Nihi­lismus.