23.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Die Delirierenden

Rumours
Brainlab im Wald: Rumours
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Guy Maddin, Johnson Brothers)

Konkurrenzlos in Cannes: Guy Maddin und Quentin Dupieux heben in die Satire ab

Von Dunja Bialas

Ein endlos langes Model posiert mitten auf der Hauptader von Cannes im langen goldenen Kleid. Es hebt den Fuß, macht einen Schritt vorwärts, balan­ciert auf dem Highheel. Das ist nicht von dieser Welt, aber es ist das ganz normale Straßen­theater von Cannes.

Unan­ge­nehmer die »Marion«-Flyer, die einem am stark frequen­tierten Marché Forville entge­gen­ge­streckt werden. Marion, das ist vernied­li­chend für Madame Le Pen, die Rechte Frank­reichs bereitet sich zur Europa-Wahl vor und will, dass die Franzosen ihre Kandi­datin beim Vornamen nennen. Wenn es doch nur eine Polit­sa­tire wäre.

Politik als Groteske

So eine hat jetzt der kana­di­sche Spezia­list für Gothic-Horror Guy Maddin zusammen mit den Winnipeg-Brüdern Evan und Galen Johnson (The Forbidden Room) »Out of Compe­ti­tion« gezeigt. In Rumours treffen sich auf der fiktiven Burg Dankerode die Staats­chefs zum G7-Gipfel, nach getaner Arbeit kommen sie in einem Pavillon im Park zusammen, um ein vorläu­figes Statement zur globalen Lage zu verfassen. Jongliert wird mit den Formu­lie­runen der Maas­tricht-, Tokio- und Paris­be­schlüsse, allein, wie das jetzt zu Papier bringen? Eigent­lich hat keiner Lust auf ein Arbeits­dinner, lieber will man trinken und auch ein bisschen private Affären weiter­treiben oder von seinen Hobbys erzählen. Hilde, Gast­ge­berin und deutsche Kanzlerin, süffisant von Cate Blanchett verkör­pert, teilt in Arbeits­gruppen ein, alle brain­stormen dilet­tan­tisch, lassen sich von ihren Gelüsten ablenken und von dem Banalen, das ihnen gerade durch den Kopf geht.

Die Pavillon-Szene ist ein dialog­ge­trie­bener, anspie­lungs­rei­cher Schlag­ab­tausch der versam­melten Staats­chefs, die nicht immer erkennbar auf ihre echten Vorbilder verweisen. Als da wären: Denis Ménochet (Frank­reich), Charles Dance (schläfrig: USA/Joe Biden), Takehiro Hira (Japan), Nikki Amuka-Bird (streng: Groß­bri­tan­nien), Rolando Ravello (Italien/Berlus­coni) und schließ­lich verwegen: Roy Dupuis (Kanada). Der Kanadier wird eine tragende Rolle im nun kommenden Abenteuer spielen. Während die Präsi­denten tagen, versinkt der Park im Nebel, als wäre würde hier noch einmal Lars von Triers Melan­cholia gegeben. Sex, Schlamm und ein Riesen­hirn, eine Kahnfahrt über das Gewässer, das das Schloss von den zivilen Gefilden trennt und schließ­lich ein Zombie-Rudel, das sich über den Park hermacht. Es sind vorzeit­liche Moor­lei­chen, die der Mumien-Fan Denis Ménochet aus versehen aufge­weckt hat, als er an einer der Ausgra­bungs­stätten im Park in eines der Gräber gestürzt ist und ein Skelett unter seinem Gewicht begraben hat. Jetzt bekommt er weiche Knochen, die Moor­lei­chen-Substanz ist ätzend.

Das ist deutsche Angst, die Rache der Gestor­benen, und deutscher Wald, märchen­haft und absurd. Schließ­lich soll ein schlüpf­riges Mega-Hirn auf einer Lichtung die kultische Rettung aus der Misere sein.

Es ist unmöglich, den deli­rie­renden Plot nur halbwegs anständig wieder­zu­geben. Maddin & Johnsons verlassen jeden­falls die diskurs­dichte Pavil­lon­szene recht bald und damit auch die begonnene Dekon­struk­tion der poli­ti­schen Sprache und der spontanen, wertvoll klin­genden aber hohlen Polit-Thesen­pa­piere. Der Film nimmt lieber Rache an der Polit­kaste insgesamt, schickt sie buchs­täb­lich in den Sumpf und versetzt sie in Tode­s­angst, mit zunehmend expe­ri­men­tellen Gothic-Ausfor­mungen des Plots und der filmi­schen Sprache, die alles absurd in den Abgrund treibt.

Der Film von Guy Maddin und den Johnson-Brüdern ist aber auch nicht reines L’art-pour-l’art-Vergnügen, wie seine exzes­siven, detail­rei­chen Schau­er­filme zuvor. Der Cast ist unty­pi­scher­weise hoch­karätig (es spielt auch noch Alicia Vikander als EU-Präsi­dentin in einer Neben­rolle), seine Message ist ungewohnt reali­täts­be­zogen und ernst. Ein poli­ti­scher Kommentar der »Winnipegs«.

Das Kino ist für nichts gut

Quentin Dupieux: Le deuxième acte
(Foto: Film­fest­spiele Cannes, Quentin Dupieux)

Deli­rie­rend-komisch wurde es auch in Quentin Dupieux' Le deuxième acte, dem außer Konkur­renz gezeigten Eröff­nungs­film der 77. Film­fest­spiele von Cannes. Der fran­zö­si­sche Regisseur hat ja noch nie wirklich ernste Filme gemacht. Seine Werke sind allesamt komö­di­an­ti­sche Klein­odien, oft zentriert um einen Gegen­stand, der ein absurdes Eigen­leben entwi­ckelt, wie eine Wild­le­der­jacke mit Fransen, ein Auto­reifen oder eine Video­kas­sette. Auch er versam­melt einen illustren Cast: Vincent Lindon, Léa Seydoux, Louis Garrel und Raphaël Quenard spielen in einem libi­dinösen Quartett: Florence liebt David, der sie genervt an seinen Freund Willi abtreten will. Und alles auch nicht. Immer wieder wird die Illusion der Fiktion verlassen, Vincent Lindon (der den Vater von Florence spielt) will aus dem Film aussteigen, hat es satt, Schau­spieler zu sein: »Le cinéma ne sert à rien!«, das Kino ist für nichts gut, sagt er. Ein paar Cinephile gäbe es noch, die uns ansehen.

Das ist nicht so weiner­lich, wie es klingt. Le deuxième acte ist ein Film über den Zustand der Schau­spieler, über die Texte, die sie sprechen sollen, über das Aus-der-Rolle-Fallen. Noch nicht ganz auf der Meta-Ebene verlassen sie doch allesamt immer wieder den Film. Mokieren sich über die korrekte Sprache (»pass auf, was du sagst, sonst werden wir noch gecancelt«), schreien ihre Lange­weile über die Angebote hinaus, wollen aus dem Film aussteigen: »Wir sind doch nicht mehr in den Acht­zi­ger­jahren.« Ruhm und Konkur­renz sind zwei Treib­stoffe der Schau­spieler, erst als PT Anderson bei Vincent Lindon anruft, bringt ihn das wieder in die Spur zurück, lässt aber auch Louis Garrel Witterung aufnehmen.

Derart das weltweit wich­tigste Festival zu eröffnen, ist ein schil­lerndes Statement von Cannes-Chef Thierry Frémaux, der stets am lautesten »Vive le cinéma!« ruft. Denn Le deuxième acte ist neben Canal Plus und anderen usual suspects auch von Netflix co-produ­ziert, das Frémaux von der Leinwand gebannt hat, so lange es sich nicht fürs Kino engagiert. Das ändert sich allmäh­lich, Netflix öffnet sich für die Kino­pro­jek­tion. Daneben ist Le deuxième act aber auch eine große Verwei­ge­rung des Erzähl­kinos: Er ist kein illu­so­ri­scher Spielfilm, sondern Desil­lu­sion, keine hohe Schau­spiel­kunst, sondern eine, die immer wieder krachend am Boden liegt, kein Plot, sondern offen­her­ziges »So tun als ob«. Und, nehmt das, ihr lieben anderen Festivals der Welt: der Film hat auch kein Thema, es sei denn das, wozu wir alle hier an der Croisette sind. Das Kino, das ist sich in Cannes Thema genug.