06.05.2021

Quo vadis, DOK.fest?

Hinter den Schlagzeilen
Daniel Sagers Eröffnungsfilm Hinter den Schlagzeilen (DOK.international)
(Foto: 36. DOK.fest@home)

Wieder DOK.fest, immer noch Corona und wir erinnern uns: spätestens am 16. März 2020, dem Tag der Verkündung des Katastrophenfalles in Bayern, musste dem Team des DOK.fest München unter der Leitung von Daniel Sponsel klar sein, dass die anstehende 35. Auflage nicht wie geplant über die Bühne gehen würde.

Von Sedat Aslan

In den ihnen verblei­benden sieben Wochen gelang dem Team der wahn­wit­zige Kraftakt, das komplette Festival von off- auf online zu schalten: dazu musste nicht nur die Unter­stüt­zung der Träger und Sponsoren sowie die Zustim­mung jedes einzelnen Rech­te­inha­bers eingeholt, sondern auch eine digitale Infra­struktur inklusive Ticketing aufgebaut werden, und das ohne Erfah­rungs­werte in dieser Größen­ord­nung im deutsch­spra­chigen Raum. Am Ende stand mit 75.000 ein wohl­ver­dienter neuer Besu­cher­re­kord.

Auch heuer hat die unsichere Krisen­lage für zusätz­liche Spannung bei der Planung gesorgt, denn erst am 30. März stand endgültig fest, dass eine lange ins Auge gefasste hybride Festi­val­form zwischen Kino­sessel und Couch nicht würde statt­finden können. Das 36. DOK.fest München ist also die zweite »@home«-Edition, die ein bundes­weites Publikum rein auf der »digitalen Leinwand« anspricht.

Was die nackten Zahlen angeht, ist man auf einem leicht höheren Niveau als im Vorjahr, vom 5. bis 23. Mai laufen 131 Filme aus 43 Ländern, verliehen werden ganze 16 Preise mit einem Gesamt­wert von 64.000 Euro. Auch der Ticket­preis ist um ein Drittel auf 6 Euro gestiegen (Festi­val­pass 70 Euro), wobei die letzt­jäh­rige Preis­ge­stal­tung, der unge­wissen Lage geschuldet, als »vorsichtig« zu bezeichnen ist.

Als Ausgleich lässt sich über einen einmal gestar­teten Titel mit 48 Stunden nun doppelt so lange verfügen. Letztlich parti­zi­pieren die Filme­ma­cher an den Einnahmen, über einen Soli­dar­bei­trag kann man auch die leer blei­benden Part­ner­kinos unter­stützen. 2020 kam so die statt­liche Summe von 15.000 Euro fürs City-Atelier, Rio und Maxim zusammen. Trotz der teureren Tickets lässt es der schon sprich­wört­liche sport­liche Ehrgeiz Daniel Sponsels nicht anders zu, als mit 80.000 Besuchern den nächsten Meilen­stein ins Visier zu nehmen.

Die in der Über­schrift gestellte Frage kann für dieses Jahr folge­richtig und im Sinne Oliver Kahns mit »weiter, immer weiter« beant­wortet werden; viel span­nender ist jedoch, wie es nach Über­win­dung der Pandemie aussieht. Sponsels neun Thesen zur Zukunft des Kino­do­ku­men­tar­films, die er kurz nach der letzt­jäh­rigen Ausgabe formu­lierte, scheinen nahe­zu­legen, dass ein hybrides DOK.fest nicht nur Gedan­ken­spiel bleibt – und zwar eben nicht im Sinne der dies­jäh­rigen Berlinale mit einem Online-Part für Fachleute und dem »Publi­kum­se­vent« im Sommer in den Kinos.

Sponsel schreibt: »Wir müssen davon ausgehen, dass wir als gesamte Gesell­schaft nach dieser Krise nicht einfach wieder in den Ausgangs­modus zurück­kehren können«, was insbe­son­dere für Groß­ver­an­stal­tungen gelte, und die »zusätz­liche ›digitale Leinwand‹ für alle Kinos ist der nächste zwingende Schritt zum Erhalt unserer Film­kultur«. Nach seiner Argu­men­ta­tion ist für den Kino­do­ku­men­tar­film die Aufhebung der Sperr­frist, also die Koexis­tenz von Kino- und Online-Auswer­tung, alter­na­tivlos und würde allen Betei­ligten nutzen. Es gibt aber auch Stimmen, die ein Festival als sozialen und sinn­li­chen Raum bewahren möchten und Schaden fürs Kino als Insti­tu­tion fürchten.

Erfindet sich das DOK.fest ab 2022 also tatsäch­lich neu als stati­onäres Festival, an dem man zeit­gleich bundes­weit im Netz teil­nehmen kann? Die Vorteile liegen auf der Hand, und seien sie noch so profan wie ausver­kaufte Säle oder eine kurz­fris­tige Verhin­de­rung. Es erscheint nicht so, als wollte man ohne Diskus­sion auf das (immer noch beacht­liche) Zuschau­er­ni­veau von 54.000 Besuchern im Jahre 2019 zurück­fallen. Welche normative Kraft hätte das für die deutsche Festi­val­land­schaft in der Zeit nach Covid-19?

Der Über­prü­fung von Sponsels Thesen muss sich der Doku­men­tar­film, also jeder, der sich darunter ange­spro­chen fühlt, in aller Breite spätes­tens dann widmen, sollte sich dieser Ausblick konkre­ti­sieren, und neben einer ästhe­ti­schen Debatte muss es dabei ganz klar auch um Zahlen gehen, wenn man die Thema­ti­sie­rung der prekären Arbeits­rea­lität von Filme­ma­cher*innen, wie es in der Debatte um Lovemobil geschehen ist, ernst­nehmen und dies nicht nur als zweck­ge­mäßes poli­ti­sches Manöver gegen die öffent­lich-recht­li­chen Rund­funk­an­stalten verstanden wissen will.

Neben poli­ti­schen und logis­ti­schen Erwä­gungen wird darüber, welcher Cyber-Anteil in Zukunft beibe­halten wird, auch entscheiden, ob das DOK.fest @home die hohe Publi­kums­ak­zep­tanz wird halten können. War diese vor allem der zeit­li­chen und terri­to­rialen Auswei­tung des Festivals, dem fairen Ticket­preis und einem soli­da­ri­schen Gedanken zu Beginn der Pandemie zu verdanken? Was, wenn beispiels­weise die Außen­gas­tro­nomie zeitnah wieder öffnen darf und sich Freizeit und Soli­dar­ge­fühl schlag­artig dorthin verlagern?

An dem in einem schwie­rigen Jahr sorg­fältig zusam­men­ge­stellten Programm sollte es jeden­falls nicht liegen. Neben dem inter­na­tio­nalen Wett­be­werb bilden DOK.deutsch sowie DOK.horizonte die drei Haupt­reihen, in denen die Vielfalt des modernen Doku­men­tar­films zur Schau steht. Weitere Sektionen mit dem Fokus auf studen­ti­sche Filme, den thema­ti­schen Schwer­punkten Musik oder Empower­ment, eine DEFA-Retro­spek­tive sowie eine Hommage an die tsche­chi­sche Filme­ma­cherin Helena Třeš­tí­ková komplet­tieren das Angebot. Die im letzten Jahr entfal­lene Reihe ums Gastland Kanada wird dieses Jahr nach­ge­holt.

Auf der Website kann man über Hashtags wie #Empört Euch!, #Natur im Rückzug, #Flucht ohne Ende oder #Held.innen­reise die Filme inhalt­lich grup­pieren, was einen guten Überblick über die weit verzweigten thema­ti­schen Komplexe gibt. Es lässt sich beim besten Willen nicht künstlich ein roter Faden konstru­ieren, der sich auch nur durch eine der Haupt­reihen zieht, die Filme sind divers, fordernd, erkennt­nis­reich, unter­hal­tend. Die »@home«-Ausgabe bietet zudem in der schönen neuen Online-Festival-Welt mitt­ler­weile etablierte Veran­stal­tungen wie Q&A’s (täglich um 20:00 Uhr) und überträgt neben den diversen Preis­ver­lei­hungen auch die Eröff­nungs­feier mit Daniel Sagers Film Hinter den Schlag­zeilen (DOK.inter­na­tional).

Der Regisseur beob­achtet darin zwei inves­ti­ga­tive Jour­na­listen der »Süddeut­schen Zeitung«, die schon an der Aufde­ckung der »Panama Papers« beteiligt waren, und denen plötzlich das berüch­tigte »Ibiza«-Video zuge­spielt wird. Mit Anklängen an Spiel­filme wie All the President’s Men und Spotlight wird der Prozess eines jour­na­lis­ti­schen »Scoops« begleitet, der Einblicke darin gibt, wie in einer hoch­po­li­ti­schen Causa, die eine Regierung zum Sturz bringen könnte, Abwä­gungen, Bedenken und Entschei­dungen ablaufen können. Gerade in Zeiten von Schmäh­rufen wie »Lügen­presse« ist es erhellend zu sehen, wie gewis­sen­haft Jour­na­listen zu arbeiten verpflichtet sind, sich eben nicht im rechts­freien Raum bewegen. Filmisch und erzäh­le­risch beschreitet der Film zwar keine neuen Wege, ist aber viel­leicht gerade deswegen eine gute Wahl für einen Eröff­nungs­film, da er im besten Sinne nied­rig­schwellig ist, ohne anspruchslos zu sein, und ein Statement setzt.

Land von Timo Groß­pietsch (DOK.inter­na­tional), nebenbei bemerkt, verant­wort­li­cher Redakteur von Lovemobil, ist eine ganz andere Kategorie, ein asso­zia­tiver Doku­men­tar­film, der wie die Filme von Ron Fricke ganz der Kraft der Bilder und des Schnittes vertraut, also praktisch ohne Sprache auskommt, es gibt weder Prot­ago­nisten noch Erzähler. Der Film ist formal durch­kom­po­niert, die furiose Kamera verbindet immer wieder elegische Fahrten, Diago­nalen, Vogel­per­spek­tiven zu einem Abbild des Dreiecks aus Mensch, Maschine und Natur – und die Bewirt­schaf­tung letzterer durch die erst­ge­nannten beiden. Die sich durch den Film ziehende effekt­volle Asso­zia­ti­ons­mon­tage gipfelt in der Kontras­tie­rung der rotie­renden Bewe­gungen eines Volks­fest­tanzes mit einer Kreissäge, die abge­holzte Baum­stämme durch­t­eilt, und einem Tanz um abge­trennte Schwei­nehälften in einer Kühlhalle. Land ist wie Klär­lö­sung, mit der man Augen und Hirn durch­spülen kann.

Ein Highlight der deutschen Reihe ist Wer wir gewesen sein werden von Erec Brehmer und Angelina Zeidler. Vor zwei Jahren verliert der Regisseur seine Freundin Angi bei einem Auto­un­fall. Mit einer Vielzahl an privaten Aufnahmen haben beide ihre Beziehung doku­men­tiert, wer sie waren, gewesen sein werden. In scho­nungs­loser Manier lässt Erec Brehmer den Zuschauer daran teilhaben, wie er mit dem Verlust umgeht, ihn reflek­tiert und zu bewäl­tigen versucht. Aus dem Material montiert er eine bittersüß-poetische und schmerz­haft persön­liche Collage einer jäh beendeten Liebe. Im Off-Text erzählt Brehmer aus seinem tiefsten Inneren, schafft es trotzdem, seiner verstor­benen Freundin in weiten Teilen die Bühne zu über­lassen, so dass man am Ende das Gefühl hat, sie gut gekannt zu haben. Der in Zeitlupe um beide herum­schwir­rende Schmet­ter­ling ist eine viel­deu­tige Metapher – für die Flüch­tig­keit des Augen­blicks, für die Fragi­lität eines Lebens. Der Film ist ehrlich bis auf die Knochen, bisweilen nieder­schmet­ternd, und schafft es doch, leisen Trost zu erzeugen – dies völlig kitsch­be­freit, bleibt doch kein Zweifel daran, dass die Sachen nach einem solchen Ereignis nie mehr so sein werden, wie sie einmal waren.

Auch DOK.horizonte macht es einem nicht leicht, stell­ver­tre­tend einen Film auszu­wählen, doch La Conquista de las Runas von Eduardo Gómez, eine argen­ti­nisch-boli­via­ni­sche Kopro­duk­tion, beein­druckt nach­haltig. Mit einer mythisch anmu­tenden, an Sebastião Salgado erin­nernden Scharz-Weiß-Foto­grafie wird auf essay­is­ti­sche Weise der merk­wür­dige Zusam­men­hang von Fossilien, Zement und Toten­geis­tern offen­ge­legt. Auf einem Stein­bruch verbinden sich Vergan­gen­heit, Gegenwart und Zukunft mit dem Dies- und Jenseits, und der Alltag im Tagebau mit philo­so­phi­schen Parolen. Was werden wir dauerhaft hinter­lassen, und was werden spätere Zivi­li­sa­tionen von uns ausbud­deln?

Ein persön­li­cher Tipp für alle anderen Mond­süch­tigen ist der hypno­ti­sche irische Colla­gen­film To The Moon von Tadhg O’Sullivan, der aus Zitaten der Film-, Musik- und Lite­ra­tur­ge­schichte sowie neuem Material eine »Lunaskopie« zusam­men­setzt. Hier gibt es in jedem Bild etwas zu entdecken, man wird fort­lau­fend über­rascht, wie sich all die Fragmente gegen­seitig kommen­tieren und trotz aller Hete­ro­ge­nität aus dem gleichen Urgefühl zu speisen scheinen, das uns seit unseren Anfängen begleitet und eine leise Vorstel­lung davon geben, wie diese ursprüng­liche Faszi­na­tion mit unserem Satel­liten fernab aller Worte ausge­sehen haben muss.

Dies soll nur ein kurzer Einblick in das mit Perlen gespickte Programm sein – über die Dauer des Festivals hinweg werden wir auf »artechock« täglich darüber berichten. Dass nach doku­men­ta­ri­schen Formaten gerade bei den Strea­ming­an­bie­tern eine wachsende Nachfrage besteht, zeigt auch die am Dienstag verkün­dete Gründung des neuen Labels »Constantin Doku­men­ta­tion«, mit dem der Münchner Mini-Major – u. a. in Koope­ra­tion mit der Süddeut­schen – bereits zwei Projekte bei Sky gelandet hat. Bei Netflix, Amazon und Co. laufen Dokus hervor­ra­gend, was nicht nur Sponsels oben ange­spro­chene Thesen zu stützen scheint, sie verändern auch die Sprache des Doku­men­tar­films, die sich weg von der ästhe­ti­schen Freiheit des Kino­do­ku­men­tar­films hin zu einem einheit­li­chen Konzept nach ameri­ka­ni­schen Maßstäben entwi­ckelt. Die Frage bleibt offen, ob diese sich immer stärker ausein­ander entwi­ckelnden Inhalte auf denselben Platt­formen gleich­be­rech­tigt mitein­ander konkur­rieren können, oder es nicht neue Lösungen braucht.

Inter­es­sant zudem, dass das seit jeher größte Problem des Kino­do­ku­men­tar­films in Deutsch­land in keinem der Debat­ten­bei­träge erwähnt wird, weil wohl schon als Normal­zu­stand akzep­tiert und zu sehr mitein­ander in Abhän­gig­keit verwoben: das frei empfang­bare Fernsehen, insbe­son­dere der öffent­lich-recht­liche Rundfunk. Der Bildungs­auf­trag macht es möglich, dass man alle möglichen doku­men­ta­ri­schen Formate in hoher Qualität gefühlt kostenlos frei Haus bekommt und der Anreiz, die Couch zu verlassen und extra eine Kinokarte zu lösen, deswegen besonders groß sein muss. Ein ähnliches Dilemma plagt übrigens den deutschen Kino­spiel­film, erst recht bei den im TV breit­ge­walzten Genres wie dem gesamten Crime-Bereich. Ob einem das in der Online-Auswer­tung auf Dauer nicht noch stärker zu schaffen machen dürfte, als wenn man dem das physische, gemein­schaft­liche Event entge­gen­stellen kann, das auf der Couch nicht repro­du­zierbar ist? Wir werden drüber reden, spätes­tens dann, wenn das DOK.fest wieder in die Kinosäle zurück­kehren darf und seinen weiteren Weg – ob ein- oder mehr­gleisig – bestimmen muss.

DOK.fest München @home: vom 5. bis 23. Mai 2021

Filme mieten: 6 € (7 € mit Soli-Beitrag für die Part­ner­kinos)

Zeit­fenster: 48 Stunden

Festi­val­flat­rate: 70 € (davon gehen 5 € an die Kinos)

Hotline – tech­ni­sche Sofort­hilfe: 0800 / 000 5620