07.05.2020

Die Corona-Herausforderung

The Euphoria of Being
In schönstem DOK.fest-Orange: Corona Diaries ist ein denkbar aktueller Film, der uns noch einmal in Erinnerung ruft, warum wir jetzt zuhause sitzen
(Foto: Elke Sasse / DOK.fest München)

Das DOK.fest München startet in eine virtuelle Ausgabe

Von Dunja Bialas

Er ist bekannt als Marathon-Man. DOK.fest-Leiter Daniel Sponsel hat seiner Liebe zum sport­li­chen Wettkampf vor einigen Jahren sogar eine eigene Reihe gewidmet. Kein Wunder also, dass das DOK.fest – zum Zeitpunkt des Shutdown bereits voll­s­tändig vorbe­reitet – im Corona-Jahr 2020 weder abgesagt noch verschoben wird. Sondern in die virtuelle Ausgabe startet. Schließ­lich ist dies eine neue Heraus­for­de­rung, die nebenbei auch ein paar Moder­ni­sie­rungs­ef­fekte verspricht. Und außerdem, wie Sportler wissen: die Perfor­mance wächst mit der Challenge.

Sponsel ist faszi­niert von Statis­tiken und Kurven, aber nur wenn sie steil ansteigen. Dies war in den letzten Jahren, wenn er die Erfolgs­zahlen des DOK.fest präsen­tierte, immer der Fall. Durch verschie­dene Verän­de­rungen in der Festi­val­struktur (wie z.B. eine verlän­gerte Festi­val­zeit, mehr Spielorte, mehr Filme und mehr Wieder­ho­lungen) konnte das Münchner Publi­kums­fes­tival zuletzt seine Zuschau­er­zahl auf 55.000 steigern und damit das große Premie­ren­fes­tival DOK Leipzig (48.000) überholen. »Flatten the curve« akzep­tiert der DOK.fest-Leiter nur, wenn es um die Ausbrei­tung des Corona-Virus geht.

Die technisch bedingte Reich­weite

Daher kann bereits jetzt davon ausge­gangen werden, dass »DOK.fest@home«, so der fancy Titel der virtu­ellen Ausgabe, von Erfolg gekrönt sein wird. Zu den Erfah­rungen von Online-Festivals gibt es bereits erste Fall­stu­dien: EMAF in Osnabrück und Lichter in Frankfurt wurden virtuell abge­halten, aller­dings als redu­zierte Ausgaben. Das große Schweizer Doku­men­tar­film­fes­tival »Visions du Réel« vermel­dete vor knapp einer Woche den Abschluss einer äußerst erfolg­rei­chen Online-Edition mit 60.500 Sich­tungen, was die Latte fürs DOK.fest ziemlich hoch legt. Die Chance eines virtu­ellen Festivals besteht vor allem darin, die Ziel­gruppen und Grenzen auszu­weiten und damit die Reich­weite der Filme und ihre Zuschau­er­zahl zu erhöhen. Das kann toll sein für Menschen auf dem Land oder nicht mehr ganz so ausgeh­freu­dige Zeit­ge­nossen.

Es kann aber auch ein Problem darstellen, wenn regionale Veran­stal­tungen plötzlich global, zumindest aber über die Stadt- oder gar Landes­grenzen hinaus abrufbar werden. Ein weiteres Problem ist, dass Menschen, die nicht so tech­ni­kaffin sind, schlichtweg abgehängt werden. Online-Kultur ist dann plötzlich nicht mehr »Kultur für alle«, wie es die nieder­schwel­lige Kino­kultur eigent­lich möglich macht.

Letzteres kann das DOK.fest nicht richten, auch wenn es eine Hotline für tech­ni­sche Sofort­hilfe anbietet. Die Reich­weite hat das DOK.fest absicht­lich begrenzt, während Nyon seine Filme zum größten Teil auch außerhalb der eidge­nös­si­schen Landes­grenzen verfügbar gemacht hat. Alle DOK.fest-Streams sind durch Geoblo­cking nur in Deutsch­land abrufbar, für einige Filme gibt es außerdem die Beschrän­kung auf wenige Tage oder eine bestimmte Anzahl an Zugriffen. Sponsel konnte außerdem erwirken, dass der Stream bei DOK.fest@home als Kino- und nicht als Onli­ne­s­cree­ning gewertet wird. Eine Grund­vor­aus­set­zung dafür, dass die Filme später nicht für die weitere Auswer­tung und Förderung »verbrannt« sind. Alles wichtige Punkte für das Weiter­leben der Filme auch nach dem virtu­ellen Festival.

Viele Filme, viele Reihen, viele Talks

Gegenüber der ursprüng­li­chen Planung musste Sponsel unter dieser Reich­weiten-Limi­tie­rung sein Programm kaum redu­zieren. 121 Filme (statt der geplanten 159) werden bereit­ge­stellt, mit einer großen Band­breite der Themen – siehe dazu unser artechock-Special. Die Anzahl der Reihen wurde erhalten. Neben den Wett­be­werben DOK.inter­na­tional, DOK.deutsch mit deutsch­spra­chigen Doku­men­tar­filmen und DOK.horizonte mit Filmen »aus Ländern im Umbruch« gibt es elf weitere Reihen, die das Programm unter­glie­dern, darunter auch die neuge­schaf­fene Sektion DOK.music. Hinter dem dies­jäh­rigen Themen­schwer­punkt »DOK.focus lasting memories« verbergen sich Filme zu den Erin­ne­rungen von Zeit­zeugen – und ihren Nach­wir­kungen auf die Nach­fahren. Zu dieser Reihe gehört auch der tolle The Euphoria Of Being, mit dem am Mittwoch das DOK.fest im leeren Deutschen Theater eröffnet wurde – es hätte auch eine Nummer kleiner sein können, aber der sichtbare Zuschauer-Verlust kam eindrucks­voll rüber.

Die Welt zu Gast im Wohn­zimmer

Es gibt eine Vielzahl an Gesprächen mit Regisseur*innen und Prot­ago­nist*innen der Filme zu entdecken, die zum größten Teil als Video vorab produ­ziert wurden. Dies ist für schlechter budge­tierte Festivals bereits Usus, wo Video-Gruß­bot­schaften sichtbar machen, dass keine Gäste einge­laden werden können. Letzteres gilt auch für Zeiten des Social Distancing. Das DOK.fest streamt zudem mehr als zehn Live-Q&As, die dem Publikum die Möglich­keit bieten, per Chat Fragen an die Mode­ra­tion heran­zu­tragen – ein bewährtes Vorgehen bei Live-Youtube-Videos. (Hier geht es zu den fixen Terminen.)

Der Zugriff auf die Filme ist, anders als beim Schweizer »Visions du Réel«, kosten­pflichtig. 4,50 € zahlt man für einen Stream, bei dem natürlich auch die WG oder der Partner daheim mitgucken kann. Die Kosten­schranke macht ein wahlloses Anklicken der Filme unwahr­schein­lich und verhin­dert hoffent­lich auch, dass der Film irgend­wann abge­bro­chen wird – beides bekannte Probleme der Flatrate-Menta­lität. Zum Zuen­de­gu­cken hat man übrigens 24 Stunden Zeit, man kann also zum Abend­essen oder für die Haus­auf­ga­ben­be­treuung unter­bre­chen.

Der Praxis­test mit »Visions du Réel« hat aller­dings auch Erfah­rungs­werte geliefert, der nicht in Erfolgs- oder anderen Zahlen zu messen ist. Auf der Hand liegt, dass eine Videobe­geg­nung, ob Live oder aus der Konserve, die echte Begegnung nicht ersetzt. Nicht unter­schätzen sollte man außerdem, wenn man sich Doku­men­tar­filme ins Wohn­zimmer holt, dass man in den eigenen vier Wänden unter Umständen mit schwie­rigen Themen konfron­tiert wird, die sich im kollek­tiven Sehen und im neutralen Kinoraum oftmals besser aushalten lassen. Meiden sollte man sie jedoch nicht. Auch ist es deutlich schwie­riger, ein Festival in seinen Alltag daheim zu inte­grieren, als sich für einen Kino­be­such mit Freunden zu verab­reden. Freizeit ist auch eine Auszeit – und diese ist Zuhause deutlich schwerer herzu­stellen, das haben sieben Wochen Corona-Quaran­täne gelehrt.

Haste mal 'n Euro? – Der Kino-Obulus

Virtuell lässt sich natürlich auch Etliches schlichtweg nicht kompen­sieren. Der unmit­tel­bare Kontakt mit den Akteur*innen der Filme, die man vor Ort selbst anspre­chen kann, die zufäl­ligen Gespräche mit anderen Zuschauer*innen, die Verlän­ge­rung des Film­erleb­nisses ins Café nebenan, das alles bricht jetzt weg.

Aber nicht nur die Cafés gucken in die Röhre, wenn sich ein Festival ins Internet verlagert. Vor allem gehen auch die Kinos leer aus, die sonst immer ihre Räume, Technik und Fachkraft zur Verfügung stellen. Das DOK.fest bietet daher auch die Möglich­keit, einen Soli-Euro auf das Online-Ticket drauf­zu­legen, vom Festi­val­pass (50 Euro) gehen insgesamt 3 Euro an die Part­ner­kinos City-Kinos, Maxim und Rio-Film­pa­last. (Hier geht es zum Spen­den­konto.) Das ist ehrenwert, lässt aber trotzdem die Frage aufkommen, ob das Festi­val­budget nicht statt der Publikums-Kollekte eine veritable, kalku­lier­bare Ausfall­miete herge­geben hätte. Schließ­lich verdankt das DOK.fest, das dieses Jahr zum 35. Mal statt­findet, seine Bekannt­heit auch den Orten des Kinos, die es erst zu dem werden ließen, wie es heute heißt: ein Fest.

Das »New Normal« von Festivals

Vorläu­figes Fazit bleibt: Das »New Normal« von Festivals kann auch über Corona hinaus bedeuten, digitale Formate stärker in das Festi­val­ge­schehen zu inte­grieren, wie die Über­tra­gung von Gesprächen ins Netz oder die partielle Online-Verfüg­bar­ma­chung der Filme. Abschaffen jedoch wird auch Corona die Film­fes­ti­vals in realen Kinos mit Sitz­nach­barn und anwe­senden Gästen nicht. Denn Content ersetzt, bei aller aufge­bo­tenen tech­ni­schen Anstren­gung, eben doch nicht das gemein­schaft­liche Kultur­er­lebnis.

DOK.fest München
6. bis 24. Mai 2020
@home

Filme mieten: 4,50 € (5,50 € mit Soli-Beitrag für die Kinos)
Zeit­fenster: 24 Stunden

Festi­val­flat­rate: 50 € (davon gehen 3 € an die Kinos)

Hotline – tech­ni­sche Sofort­hilfe: 0800 / 5565136

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