13.05.2021

»Abreißen ist leichter als aufbauen!«

Martha
Ein Meisterwerk des DDR-Dokumentarfilms: Volker Koepps Leben in Wittstock
(Foto: 36. DOK.fest@home)

Anlässlich der DEFA-Gründung vor 75 Jahren präsentiert das DOK.fest eine kleine, aber sehr feine und unbedingt sehenswerte Retrospektive mit acht DEFA-Dokumentarfilmproduktionen aus 39 Jahren

Von Axel Timo Purr

»... To follow the dream, and again to follow the dream – and so – always – usque ad finem...« – Joseph Conrad, Lord Jim

Man könnte bei jedem der auf dem dies­jäh­rigen DOK.fest@home gezeigten Filme der Retro­spek­tive 75 Jahre DEFA das Heulen kriegen. So viel Wille, so viel Hoffnung, so viel Mut zu neuen Wegen. Dann aber auch: so viel Versagen, so viel Propa­ganda, so viel Leid. Dieses komplexe Gefühls-Tohu­wa­bohu mit nur acht, zum Teil sehr kurzen Doku­men­tar­filmen aus 39 Jahren zu erzeugen, ist schon eine Leistung. Und bei der Auswahl aus immerhin 2250 Doku­mentar- und Kurz­filmen des volks­ei­genen Film­un­ter­neh­mens der DDR mit Sitz in Potsdam-Babels­berg die richtige Auswahl zu treffen, ist es das erst recht.

Natürlich weniger bei einem Klassiker wie Barbara Winfried Junges erste drei Teile der Kinder von Golzow , der legen­dären, ältesten Lang­zeit­be­ob­ach­tung der Film­ge­schichte, die erst 2007 nach 22 Teilen zum Ende kam. Von 1961 bis 2007 beglei­teten die Junges die Lebens­wege von 18 Menschen der Jahrgänge 1953 bis 1955 und schufen mehr als 70 Kilometer und 45 Stunden Film­ma­te­rial. Die damit längste Doku­men­ta­tion der Film­ge­schichte endete mit: Und wenn sie nicht gestorben sind…. Im Kern sieht sich der Abschluss wie auch schon die ersten auf dem DOK.fest gezeigten Teile nicht nur als Porträt indi­vi­du­eller Lebens­ge­schichten der Prot­ago­nisten, sondern auch als Brennglas der Geschichte der DDR und ihrer Verei­ni­gung mit der Bundes­re­pu­blik Deutsch­land sowie des gesell­schaft­li­chen Anspru­ches, den der DEFA-Doku­men­tar­film für die DDR darstellte.
Deutlich wird aller­dings auch, welche Stellung Schule und Jugend in der BRD-Alter­na­tive hatte, eine Stellung, die noch einmal deut­li­cher, weil auch propa­gan­dis­ti­scher in Joris Ivens und Iwan Pyrjews DEFA-Klassiker Freund­schaft siegt wird, der die im August 1951 zum ersten Mal in Ost-Berlin statt­fin­denden III. Welt­fest­spiele der Jugend und Studenten, unter dem Motto »Für Frieden und Freund­schaft – gegen Atom­waffen« begleitet. Aus der Zukunft sehen wir jedoch über filmische Propa­ganda-Techniken, die denen der NS-Zeit in nichts nach­stehen, statt Frie­dens­be­kun­dungen die Saat des Kalten Krieges aufgehen und gleich­zeitig den fast schon tragi­schen Versuch, über nationale Jugend­be­we­gungen eine bessere Welt, auch ideo­lo­gisch globa­li­sierte Welt zu schaffen. So verblendet scheinen viele Passagen und Pläne, so sehr vom Wissen unserer heutigen Gegenwart widerlegt, dass der Film immer wieder nicht nur an die ideo­lo­gi­sche und wissen­schaft­liche Schmerz­grenze geht. Gleich­zeitig gibt er jedoch auch eine Ahnung davon, wie wir in 70 Jahren von unserer Zukunft rezipiert werden könnten, denn die Gegenwart ist und muss viel­leicht auch immer eine sein, die sich selbst verkennt, um über Try & Error-Prozesse weiter­gehen zu können.

Weniger bekannt als das allein schon durch den Fluss der Zeit bewegende Lang­zeit­do­ku­ment der Junges ist ein anderes Lang­zeit­pro­jekt, der großar­tige Wittstock-Zyklus von Volker Koepp. Hier setzt die filmische Beob­ach­tung im Jahr 1974 ein, als Koepp erstmals in der märki­schen Klein­stadt Wittstock an der Dosse dreht. Er konsta­tiert eine außer­or­dent­liche Aufbruch­si­tua­tion: Der VEB Ober­tri­ko­ta­gen­be­trieb »Ernst Lück« wird vor den Toren der Stadt aufgebaut, 1.000 Arbei­te­rinnen sind hier schon tätig, 3.000 sollen es werden. Der erste, nur 19 Minuten lange Film Mädchen in Wittstock führt drei dieser Arbei­te­rinnen als Prot­ago­nis­tinnen ein, die Koepp 22 Jahre lang filmisch begleiten wird, von den ersten Berufs­jahren in der DDR bis in die Umbruch­zeit der 90er Jahre. Die Retro­spek­tive hat sich für den Mittel­teil aus dem Jahr 1984 entschieden, für Leben in Wittstock, in den Teile der früheren Filme montiert wurden, um die bishe­rigen Lebens­li­nien besser zu verstehen. Deshalb wird auch hier schon deutlich, dass der Anspruch und die Realität einer neuen, eman­zi­pierten DDR-Frau nicht immer über­ein­stimmten, aber nichts­des­to­trotz dafür gekämpft wurde, an den akribisch gefilmten, futu­ris­ti­schen Produk­ti­ons­bän­dern, an denen die Frauen arbeiten wie auch in den Betriebs­ver­samm­lungen. Subtil und in seinen typisch ruhigen, langen Einstel­lungen und intensiv fokus­sierten Gesich­tern und Arbeits­pro­zessen macht Koepp aber auch deutlich, dass Frauen die Arbeits­pro­zesse nicht »besser« machen, dass im Kern auch hier das kapi­ta­lis­ti­sche Ethos des Konkur­renz­sys­tems dominiert. Wer sich diesen Film ansieht, sollte unbedingt auch die beiden abschließenden Arbeiten des Zyklus ansehen, den düsteren 1991/1992 entstan­denen Neues in Wittstock und den Schwa­nen­ge­sang Wittstock, Wittstock, in dem wir Renate, Edith und Elsbeth von stolzen Arbei­te­rinnen zu Gele­gen­heits­j­obe­rinnen »abge­wi­ckelt« sehen. Und wie in allen Koepp-Filmen entsteht auch hier trotz des sichtlich neuen Film­ma­te­rials (auch ORWO wurde ja abge­wi­ckelt) eine sogartige Inten­si­vität, auch durch Koepps Kommen­tare aus dem Off, die immer wieder an einen anderen Granden den deutschen Films erinnern, an Werner Herzog.

Auch zwei weitere, kürzere Filme erzählen von neuen Rollen­mo­dellen der Frau in der damaligen DDR. Kann Gitta Nickels faszi­nie­render, 30-minütiger »Spazier­gang« Sie der Gynä­ko­login Gisela Otto durch das »VEB Textil­kom­binat Treff-Modelle Berlin« trotz »west­li­cher« Pop-Elemente und über­ra­schend direkter Gespräche mit Arbei­te­rinnen unter­schied­li­cher Alters­klassen über Gleich­be­rech­ti­gung und Sexua­lität den propa­gan­dis­ti­schen Charakter nicht ganz abwerfen, so ist Jürgen Böttchers 56-minütiges Porträt der 68-jährigen Bauar­bei­terin Martha eine wirkliche Wucht. Wir beob­achten Martha bei der täglichen Arbeit, sehen Schutt­berge in winter­li­cher Land­schaft, das endlos laufende Band, an dem Martha den ankom­menden Schutt sortiert. Es sind Marthas letzte Arbeits­tage. Nach dem Abschied von den Kollegen und einer der bizarrsten Kaffee- und Kuchen­ge­sell­schaften der deutschen Film­ge­schichte bleibt Martha allein in der Baubude zurück, erzählt von ihrem Leben, vom zerbombten Berlin, von den tapferen Kindern, von ihrer Arbeit als Trüm­mer­frau. Das berührt nicht nur wegen der burschi­kosen Souver­änität dieser Frau, die den heute so alter­tüm­lich und ideo­lo­gisch verbrannten Ausdruck »Prole­ta­rierin« fast schon kongenial verkör­pert, sondern auch wegen ihrer Moder­nität, denn wo bitte gibt es heute auf einer Baustelle so eine Frau wie Martha!? Aber auch die Kame­ra­fahrten über die Baustelle, die unge­wöhn­li­chen, immer wieder über­ra­schenden Kame­ra­ein­stel­lungen bei der Porträ­tie­rung von Martha und ihren Kollegen (sei es im Bagger oder am Band oder der Baubude) in den typischen, unnach­ahm­lich trist-pastel­ligen ORWO-Color-Farben zeigen immer wieder auch, dass Böttcher nicht nur für die DEFA wegwei­sende Filme gedreht hat, sondern auch als Maler nicht nur aktiv, sondern überaus erfolg­reich war.

Anders als Böttcher, der trotz immer wieder auch bei den Behörden aneckender Eigen­wil­lig­keit sein Ding machen konnte, war für die Filme­ma­cherin Sibylle Schö­ne­mann und ihren Mann Mitte der 1980er nach zahl­rei­chen Projekt­ab­sagen ein Punkt des Still­stands erreicht, der sie dazu bewog, einen Ausrei­se­an­trag zu stellen. Daraufhin wurde sie im November vom Minis­te­rium für Staats­si­cher­heit verhaftet und einige Monate später von der BRD frei­ge­kauft. Nach der Wende besuchte Sibylle Schö­ne­mann 1990 den Kongress des Verbandes der Film- und Fern­seh­schaf­fenden der DDR. Hier entstand die Idee, gemeinsam mit der DEFA eine Doku­men­ta­tion über ihre Haftzeit zu machen, ihren später preis­ge­krönten Film Verrie­gelte Zeit. Sie kehrt dafür in die DDR zurück, sieht an der Grenze Bauar­beiter die Grenz­an­lagen abreißen, die sie vor Jahr­zehnten noch mit aufgebaut haben und auf Schö­ne­manns Frage hin lakonisch kommen­tieren: »Abreißen ist leichter als aufbauen!« Sie kehrt an die Orte ihrer Festnahme und ihrer Haft­an­stalt zurück, spricht mit den »Tätern« von damals, auch mit den damals Verant­wort­li­chen bei der DEFA, die aller­dings alles andere als einsichtig sind, sondern nur die schon aus NS-Zeiten bekannte Erfüllung ihrer Pflicht und bestehender Gesetze vorschieben, um die zermür­bende Gesprächs­si­tua­tion und die sicht­liche Betrof­fen­heit von Schö­ne­mann zu dees­ka­lieren.

Dieser so ernüch­ternde wie distanz­lose zeitliche Abschluss der Retro­spek­tive sollte aller­dings mit einem Film kombi­niert werden, der nicht in der Retro­spek­tive läuft, weil er kein DEFA-Film und erst jetzt, 30 Jahre später entstanden ist, aber ebenfalls auf dem dies­jäh­rigen DOK.fest@home läuft und der fast ideale Schluss­punkt der Retro­spek­tive ist. Denn Christian Bäucker lässt in Heimat­kunde ehemalige Schüler an ihre alte DDR-Schule zurück­kehren und begibt sich mit ihnen auf eine völlig vorur­teils­freie Suche nach einer verlo­renen Zeit und Heimat. Sein Film ist nicht nur eine erzäh­le­risch und formal über­zeu­gende Annähe­rung an das Bildungs­system der DDR, sondern auch ein emotio­naler, thera­peu­ti­scher Prozess, den man den noch lebenden Prot­ago­nisten der in der Retro­spek­tive versam­melten Filme nur wünschen kann.