28.01.2021

Vom Theater lernen

Massaker von Anröchte
Lakonischer Witz zwischen Schlingensief und Andersson: Das Massaker von Anröchte
(Foto: Theater Oberhausen / FFMOP)

Das 42. Filmfestival Max Ophüls Preis ging online. Ein erster, zugegeben orientierungsloser Besuch bringt gemischte Gefühle

Von Dunja Bialas

Zum ersten Mal auf dem Saar­brü­cker Film­fes­tival »Max Ophüls Preis«. Und schon scheitere ich am Wich­tigsten: Wie eigent­lich nennen die Festi­val­ma­cher ihr Festival, wenn es nicht offiziell zugeht? »Saar­brü­cken«? »Max Ophüls«? Oder »MOP«, mit dem Akronym, das das Festival in der Korre­spon­denz benutzt?

Nicht nur für die richtige Bezeich­nung fehlt also der innere Kompass, auch im Zurecht­finden auf dem Festival. Ich wünsche mir bei meinem ersten Besuch einen erfah­renen Kollegen herbei, der mich instru­iert, mir die Mechanik der Reihen und den Spirit der Film­aus­wahl erklären könnte, wie vor zwei Jahren, als ich zum ersten Mal die Duis­burger Filmwoche besuchte. Das aber fällt diesmal aus: »Max Ophüls« findet den Corona-Umständen geschuldet nur online statt.

Das Festival für den deutsch­spra­chigen Nachwuchs

»Max Ophüls« ist das Festival für den deutsch­spra­chigen Nachwuchs, so viel steht fest. »Eine intensive Woche, in der junge Film­schaf­fende eine würdige Bühne für ihre Film­ar­beiten finden«, schreiben die Festi­val­ma­cher Oliver Baum­garten und Svenja Böttger im zuge­sandten Programm­heft, das ich dankbar durch­blät­tere. Ein wenig Haptik tut gut. Ohne mich irgendwo durch­kli­cken zu müssen, erfahre ich, dass zahl­reiche hoch­do­tierte Preise in unter­schied­li­chen Film­sparten und -formaten vergeben werden: im Spiel-, Doku­mentar- und Kurzfilm, aber auch im mittel­langen Film. Ein Crossover also all dessen, womit man als Film­stu­dent oder »Beginner« zu tun hat.

In dem formalen All-in-One unter­scheidet sich »Max Ophüls« jedoch zum Beispiel auch vom neu aufge­legten »Newcomer«-Festival Mannheim-Heidel­berg. Während dort die Aufmerk­sam­keit auf neuen Film­spra­chen im fiktio­nalen Langfilm und auf der ästhe­ti­schen Erneue­rung beim inter­na­tio­nalen Nachwuchs liegt, ist »Saar­brü­cken« eher eine Schau der sehr diversen Jahres­pro­duk­tion. Oliver Baum­garten, künst­le­ri­scher Leiter, tritt dabei in Konkur­renz mit zwei wichtigen Nach­wuchs­platt­formen: der Berlinale-Sektion »Perspek­tive deutsches Kino« (erste Filme, die majoritär in Deutsch­land produ­ziert wurden) und mit dem Filmfest München und seiner Sektion »Neues Deutsches Kino« (erste, zweite oder dritte lange Kino­spiel­filme).

Die Frage, die viel­leicht vor Ort mit den Usual Suspects des Festivals geklärt werden könnte, ist natürlich: Wie kommt man gegen die Konkur­renz an, was ist das Konzept für die Auswahl? Eine Antwort könnten die Filme selbst liefern, und das kann diesmal im Home­of­fice erledigt werden – sofern es gelingt, die Stör­geräu­sche des Alltags auszu­blenden.

Der Benefit von Präsenz-Festivals

Festivals schaffen ja – neben dem viel­be­schwo­renen Kontakt zu den Filme­ma­cher*innen und der Festi­val­at­mo­s­phäre – vor allem: eine konzen­trierte Arbeits­at­mo­s­phäre. Sie bieten sich noch mehr als der »normale« Kinosaal als Heterotop an, das einem ermö­g­licht, ganz in die Welt der Filme einzu­tau­chen, Gespräche nur noch rund um diese zu führen, die Nach­richten auszu­blenden und ganz und gar in der Bubble aufzu­gehen. Bei einem physi­schen Festi­val­be­such ist im besten Fall nichts so wichtig wie die Filme, die man gerade gesehen oder ärger­li­cher­weise verpasst hat. Auch das ist die Aufmerk­sam­keit, die ein Festival durch die Community herzu­stellen weiß. Und letztere wird natürlich sehr abstrakt, wenn man alleine vor dem Rechner sitzt.

Festival auf Sendung

Also wieder einmal »the New Normal«, das auch deshalb so normal geworden ist, weil es uns auch in der Zukunft begleiten wird. Große Festivals, so die Prophe­zeiung des Saar­brü­cker Ober­bür­ger­meister und Aufsichts­rats­vor­sit­zenden des Festivals Uwe Conradt im launigen Eröff­nungs­video des Festivals, werden auch künftig nicht umhin­können, ihr Programm online anzu­bieten. Für das kleine, abge­le­gene Saar­brü­cken in der relativ undank­baren Pole Position im Januar ist es sicher­lich ein Segen, »auf Sendung« gehen zu können und damit mehr Aufmerk­sam­keit auch jenseits des ange­reisten Fach­pu­bli­kums zu finden. Aus der Corona-Not leitet sich jetzt wohl der Gold­stan­dard für Festivals ab, auch in Zukunft hybrid abge­halten zu werden.

Dass die Gesetze des Netzes aber auch Schwie­rig­keiten mit sich bringen, vor allem in der Aufmerk­sam­keitsö­ko­nomie, weiß der künst­le­ri­sche Leiter Oliver Baum­garten. Man habe die Filmzahl diesmal um fast ein Drittel reduziert, damit die Filme besser »glänzen« können, sagt er im Eröff­nungs­talk mit Festi­val­lei­terin Svenja Böttger, der in einer Art »Max Ophüls«-Fern­seh­studio stattfand und recht loungig anmutet. Gerne hätte man sich dazu­ge­setzt.

Filme zum Wohl­ge­fallen

Das Sichten der Filme beginnt dann erst einmal im Wunsch, sich Überblick über den Charakter der Film­aus­wahl zu verschaffen. Der Eröff­nungs­film A Black Jesus entpuppte sich als Produk­tion von Wim Wenders, dem dies­jäh­rigen Ehren­preis­träger, am Drehbuch mitge­schrieben hat Nichte Hella Wenders. Hier also Film-Nachwuchs im ganz buchs­täb­li­chen Sinne, nein, kein Nepo­tismus. Luca Lucchesi, der zuvor schon mehrfach bei und mit Wenders gear­beitet hatte – Wenders gibt dem Nachwuchs eine Chance, indem er ihn ganz konkret in seine Film­pro­jekte einbindet, daher auch der Ehren­preis – erzählt in seinem doku­men­ta­ri­schen Lang­film­debüt von den Immi­granten auf Sizilien. Einer von ihnen ist Edward aus Ghana, ein anderer wichtiger Prot­ago­nist ist der orts­an­säs­sige Lehrer, der die Geflüch­teten Italie­nisch lehrt und ihnen außerdem beibringt, über die Gesell­schaft nach­zu­denken. Fast ist man dabei an Nicolas Philibert und seinen Film Être et avoir erinnert, in dem ein enga­gierter Lehrer portrai­tiert wird, der den Schülern, bildlich gespro­chen, Gehirn und Augen öffnet.

A Black Jesus mutet fast märchen­haft an, kaum zu glauben, wie inte­grativ sich die Dorf­ge­mein­schaft gegenüber den Neuan­kömm­lingen zeigt. Am Schluss darf Edward dann auch bei der Prozes­sion den schwarzen Jesus tragen, der in der katho­li­schen Liturgie eine besondere Signal­kraft hat. Der Eindruck vom Eröff­nungs­film: ein Wohl­fühl­film mit leichten Moll-Tönen, der gute Doku­men­tar­film-Hand­werks­kunst zeigt, aber auch sehr reprä­sen­tativ für Filme ist, die auf keinen Fall wehtun wollen.

Ähnlich der chile­ni­sche Spielfilm des in Deutsch­land lebenden Juan Mora Cid Domingo Vigente – Der Wert der Erde, der von der post­ko­lo­nialen Ausbeu­tung der Mapuche-Urein­wohner erzählt. Der Wechsel von Spanisch zur Sprache der Indigenen macht den Film sehens­wert, ansonsten ist leider auch hier, jetzt in der Fiktion, zu viel Wohl­ge­fallen am Werk.

Sehr an die Konfek­ti­ons­größe deutscher Fern­seh­filme angepasst ist Nadine Heinzes Die Vergess­lich­keit der Eich­hörn­chen, den die Kollegin in der »Süddeut­schen Zeitung« als »souver­änsten Film des Wett­be­werbs« hervor­hebt – daran sieht man auch, wie unter­schied­lich die Erwar­tungen an Nach­wuchs­filme sein können. Dort wird die Pass­ge­nau­ig­keit und narrative Konfor­mität gelobt, ich selbst wünsche mir Unan­ge­passt­heit, Neuheit und erzäh­le­ri­schen Drang. Der versierte Günther Maria Halmer spielt in Die Vergess­lich­keit der Eich­hörn­chen ein dementes Ekel, das sehr reich ist, aber auch ein weiches Herz hat, wenn erst der harte Kern durch­stoßen ist. Das gelingt der ukrai­ni­schen Pflegerin Marija (Emilia Schüle) natürlich, und nach einigen Turbu­lenzen hält sie eine Trophäe in den Händen, die es ihr ermö­g­licht, wieder in die Heimat zu ihrem Kind zurück­zu­kehren. Wie vorher­sehbar: heile, heile Welt.

Filme mit voll­endeten Ecken und Kanten

Der in Co-Regie von Daniel Hoesl und Julia Niemann entstan­dende Doku­men­tar­film Davos hingegen setzt das Sezier­messer an. Genau nimmt er den Schau­platz des World Economic Forum in den Blick, das jetzt gerade statt­findet – virtuell. Ähnlich verwaist wie im Film also kann man sich den Ort der Reichen und Mächtigen in den Schweizer Bergen gerade vorstellen. Davos kommt nach seiner Premiere in »Nyon« zur genau richtigen Zeit; er vollführt die hohe Kunst der Beob­ach­tung und präzisen State­ments. Alles ist sehr wertvoll foto­gra­fiert, auch das passt zur doku­men­ta­ri­schen Strenge, aber vor allem zu Daniel Hoesl, der auch in seinen Spiel­filmen (Soldate Jeanette, Win-Win) voll­endete Kadrie­rungen zeigt, die wunderbar aseptisch anmuten.

Sehr analys­tisch, expe­ri­men­tell und tatsäch­lich souverän in der Wahl seiner Mittel ist Alison Kuhns The Case You, einer der stärksten Filme des Doku­men­tar­film­wett­be­werbs. Auf einer leeren Bühne im schwarzen Thea­ter­raum unter­nimmt die Regis­seurin eine Art kollek­tive Anamnese über einen vergan­genen MeToo-Vorfall. In gesta­geten Szene markieren die Schau­spie­le­rinnen Bühnen-Situa­tionen der Nötigung, wenn der Theater-Regisseur sie zum Äußersten bringt, den Willen bricht – für manche Regie­füh­rende immer noch das Mittel der Wahl – und Nacktheit ohne Einver­ständnis fordert. In seiner expe­ri­men­tellen Direkt­heit erinnert das an Andres Veiels Die Spiel­wü­tigen, viel­leicht sogar an Lars von Triers Dogville oder an Rithy Panhs Aufar­bei­tungen des Roten-Khmer-Traumas. Die Reduktion zieht auf jeden Fall in den Bann.

Viel­leicht gibt ja das Theater neue Impulse, die von der Darstel­lungs­kon­for­mität zu befreien vermag? Hannah Dörr, Regis­seurin von Das Massaker von Anröchte, stach im Spiel­film­wett­be­werb hervor, blieb am Ende aber leider ohne Auszeich­nung. Ihren Film produ­zierte sie zusammen mit dem Theater Ober­hausen, ähnlich war auch Kelly Coppers und Pavol Liskas Die Kinder der Toten als Thea­ter­pro­duk­tion entstanden. Mit herun­ter­ge­kühltem Spaß zwischen Christoph Schlin­gen­sief, Roy Andersson oder Aki Kauris­mäki insze­niert Das Massaker von Anröchte einen kollek­tiven Krimi­nal­fall, den der melan­cho­li­sche Kommissar Konka aufklären soll. Die Suche nach den angeb­li­chen Hunnen-Tätern führt ins Nichts. Ein großar­tiges Schel­men­s­tück über die Leere der Existenz und die Nich­tig­keit der Motiv­lagen. Und heraus­ra­gend inmitten des Konformen und Vorher­seh­baren.

Mal sehen, was sonst noch so kommt

Den großen Gewinner des Festivals, Borga von York-Fabian Raabe, konnte ich dann leider nicht mehr sehen, weil der Stream ausver­kauft war. Immerhin hatte der Film mit Eugene Boateng und Chris­tiane Paul über »Ghanaer, die es im Ausland zu Wohlstand gebracht haben« (Programm­heft), auf meiner Watch-List gestanden, die Realität im Home­of­fice-Leben hatte ihm schluss­end­lich aber keine Zeit eingeräumt.

Das Augenmerk auf den Nachwuchs aber ist gesetzt. Anfang Februar wird »Rotterdam« im »Tiger-Wett­be­werb« Nach­wuchs­filme zeigen, gespannt kann man hier schon auf den Film Land­s­capes of Resis­tence der Emigholz-Schülerin Marta Popivoda sein. Es folgt die Woche der Kritik Berlin im März mit Freizeit oder: Das Gegenteil Von Nichtstun, das Lang­film­debüt von Caroline Pitzen, ebenfalls im Stream zu sehen. Soweit die Programm-Vorschau. Mal sehen, was sonst noch so kommt.