Vom Theater lernen |
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Lakonischer Witz zwischen Schlingensief und Andersson: Das Massaker von Anröchte |
Von Dunja Bialas
Zum ersten Mal auf dem Saarbrücker Filmfestival »Max Ophüls Preis«. Und schon scheitere ich am Wichtigsten: Wie eigentlich nennen die Festivalmacher ihr Festival, wenn es nicht offiziell zugeht? »Saarbrücken«? »Max Ophüls«? Oder »MOP«, mit dem Akronym, das das Festival in der Korrespondenz benutzt?
Nicht nur für die richtige Bezeichnung fehlt also der innere Kompass, auch im Zurechtfinden auf dem Festival. Ich wünsche mir bei meinem ersten Besuch einen erfahrenen Kollegen herbei, der mich instruiert, mir die Mechanik der Reihen und den Spirit der Filmauswahl erklären könnte, wie vor zwei Jahren, als ich zum ersten Mal die Duisburger Filmwoche besuchte. Das aber fällt diesmal aus: »Max Ophüls« findet den Corona-Umständen geschuldet nur online statt.
»Max Ophüls« ist das Festival für den deutschsprachigen Nachwuchs, so viel steht fest. »Eine intensive Woche, in der junge Filmschaffende eine würdige Bühne für ihre Filmarbeiten finden«, schreiben die Festivalmacher Oliver Baumgarten und Svenja Böttger im zugesandten Programmheft, das ich dankbar durchblättere. Ein wenig Haptik tut gut. Ohne mich irgendwo durchklicken zu müssen, erfahre ich, dass zahlreiche hochdotierte Preise in unterschiedlichen Filmsparten und -formaten vergeben werden: im Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilm, aber auch im mittellangen Film. Ein Crossover also all dessen, womit man als Filmstudent oder »Beginner« zu tun hat.
In dem formalen All-in-One unterscheidet sich »Max Ophüls« jedoch zum Beispiel auch vom neu aufgelegten »Newcomer«-Festival Mannheim-Heidelberg. Während dort die Aufmerksamkeit auf neuen Filmsprachen im fiktionalen Langfilm und auf der ästhetischen Erneuerung beim internationalen Nachwuchs liegt, ist »Saarbrücken« eher eine Schau der sehr diversen Jahresproduktion. Oliver Baumgarten, künstlerischer Leiter, tritt dabei in Konkurrenz mit zwei wichtigen Nachwuchsplattformen: der Berlinale-Sektion »Perspektive deutsches Kino« (erste Filme, die majoritär in Deutschland produziert wurden) und mit dem Filmfest München und seiner Sektion »Neues Deutsches Kino« (erste, zweite oder dritte lange Kinospielfilme).
Die Frage, die vielleicht vor Ort mit den Usual Suspects des Festivals geklärt werden könnte, ist natürlich: Wie kommt man gegen die Konkurrenz an, was ist das Konzept für die Auswahl? Eine Antwort könnten die Filme selbst liefern, und das kann diesmal im Homeoffice erledigt werden – sofern es gelingt, die Störgeräusche des Alltags auszublenden.
Festivals schaffen ja – neben dem vielbeschworenen Kontakt zu den Filmemacher*innen und der Festivalatmosphäre – vor allem: eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Sie bieten sich noch mehr als der »normale« Kinosaal als Heterotop an, das einem ermöglicht, ganz in die Welt der Filme einzutauchen, Gespräche nur noch rund um diese zu führen, die Nachrichten auszublenden und ganz und gar in der Bubble aufzugehen. Bei einem physischen Festivalbesuch ist im besten Fall nichts so wichtig wie die Filme, die man gerade gesehen oder ärgerlicherweise verpasst hat. Auch das ist die Aufmerksamkeit, die ein Festival durch die Community herzustellen weiß. Und letztere wird natürlich sehr abstrakt, wenn man alleine vor dem Rechner sitzt.
Also wieder einmal »the New Normal«, das auch deshalb so normal geworden ist, weil es uns auch in der Zukunft begleiten wird. Große Festivals, so die Prophezeiung des Saarbrücker Oberbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzenden des Festivals Uwe Conradt im launigen Eröffnungsvideo des Festivals, werden auch künftig nicht umhinkönnen, ihr Programm online anzubieten. Für das kleine, abgelegene Saarbrücken in der relativ undankbaren Pole Position im Januar ist es sicherlich ein Segen, »auf Sendung« gehen zu können und damit mehr Aufmerksamkeit auch jenseits des angereisten Fachpublikums zu finden. Aus der Corona-Not leitet sich jetzt wohl der Goldstandard für Festivals ab, auch in Zukunft hybrid abgehalten zu werden.
Dass die Gesetze des Netzes aber auch Schwierigkeiten mit sich bringen, vor allem in der Aufmerksamkeitsökonomie, weiß der künstlerische Leiter Oliver Baumgarten. Man habe die Filmzahl diesmal um fast ein Drittel reduziert, damit die Filme besser »glänzen« können, sagt er im Eröffnungstalk mit Festivalleiterin Svenja Böttger, der in einer Art »Max Ophüls«-Fernsehstudio stattfand und recht loungig anmutet. Gerne hätte man sich dazugesetzt.
Das Sichten der Filme beginnt dann erst einmal im Wunsch, sich Überblick über den Charakter der Filmauswahl zu verschaffen. Der Eröffnungsfilm A Black Jesus entpuppte sich als Produktion von Wim Wenders, dem diesjährigen Ehrenpreisträger, am Drehbuch mitgeschrieben hat Nichte Hella Wenders. Hier also Film-Nachwuchs im ganz buchstäblichen Sinne, nein, kein Nepotismus. Luca Lucchesi, der zuvor schon mehrfach bei und mit Wenders gearbeitet hatte – Wenders gibt dem Nachwuchs eine Chance, indem er ihn ganz konkret in seine Filmprojekte einbindet, daher auch der Ehrenpreis – erzählt in seinem dokumentarischen Langfilmdebüt von den Immigranten auf Sizilien. Einer von ihnen ist Edward aus Ghana, ein anderer wichtiger Protagonist ist der ortsansässige Lehrer, der die Geflüchteten Italienisch lehrt und ihnen außerdem beibringt, über die Gesellschaft nachzudenken. Fast ist man dabei an Nicolas Philibert und seinen Film Être et avoir erinnert, in dem ein engagierter Lehrer portraitiert wird, der den Schülern, bildlich gesprochen, Gehirn und Augen öffnet.
A Black Jesus mutet fast märchenhaft an, kaum zu glauben, wie integrativ sich die Dorfgemeinschaft gegenüber den Neuankömmlingen zeigt. Am Schluss darf Edward dann auch bei der Prozession den schwarzen Jesus tragen, der in der katholischen Liturgie eine besondere Signalkraft hat. Der Eindruck vom Eröffnungsfilm: ein Wohlfühlfilm mit leichten Moll-Tönen, der gute Dokumentarfilm-Handwerkskunst zeigt, aber auch sehr repräsentativ für Filme ist, die auf keinen Fall wehtun wollen.
Ähnlich der chilenische Spielfilm des in Deutschland lebenden Juan Mora Cid Domingo Vigente – Der Wert der Erde, der von der postkolonialen Ausbeutung der Mapuche-Ureinwohner erzählt. Der Wechsel von Spanisch zur Sprache der Indigenen macht den Film sehenswert, ansonsten ist leider auch hier, jetzt in der Fiktion, zu viel Wohlgefallen am Werk.
Sehr an die Konfektionsgröße deutscher Fernsehfilme angepasst ist Nadine Heinzes Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen, den die Kollegin in der »Süddeutschen Zeitung« als »souveränsten Film des Wettbewerbs« hervorhebt – daran sieht man auch, wie unterschiedlich die Erwartungen an Nachwuchsfilme sein können. Dort wird die Passgenauigkeit und narrative Konformität gelobt, ich selbst wünsche mir Unangepasstheit, Neuheit und erzählerischen Drang. Der versierte Günther Maria Halmer spielt in Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen ein dementes Ekel, das sehr reich ist, aber auch ein weiches Herz hat, wenn erst der harte Kern durchstoßen ist. Das gelingt der ukrainischen Pflegerin Marija (Emilia Schüle) natürlich, und nach einigen Turbulenzen hält sie eine Trophäe in den Händen, die es ihr ermöglicht, wieder in die Heimat zu ihrem Kind zurückzukehren. Wie vorhersehbar: heile, heile Welt.
Der in Co-Regie von Daniel Hoesl und Julia Niemann entstandende Dokumentarfilm Davos hingegen setzt das Seziermesser an. Genau nimmt er den Schauplatz des World Economic Forum in den Blick, das jetzt gerade stattfindet – virtuell. Ähnlich verwaist wie im Film also kann man sich den Ort der Reichen und Mächtigen in den Schweizer Bergen gerade vorstellen. Davos kommt nach seiner Premiere in »Nyon« zur genau richtigen Zeit; er vollführt die hohe Kunst der Beobachtung und präzisen Statements. Alles ist sehr wertvoll fotografiert, auch das passt zur dokumentarischen Strenge, aber vor allem zu Daniel Hoesl, der auch in seinen Spielfilmen (Soldate Jeanette, Win-Win) vollendete Kadrierungen zeigt, die wunderbar aseptisch anmuten.
Sehr analystisch, experimentell und tatsächlich souverän in der Wahl seiner Mittel ist Alison Kuhns The Case You, einer der stärksten Filme des Dokumentarfilmwettbewerbs. Auf einer leeren Bühne im schwarzen Theaterraum unternimmt die Regisseurin eine Art kollektive Anamnese über einen vergangenen MeToo-Vorfall. In gestageten Szene markieren die Schauspielerinnen Bühnen-Situationen der Nötigung, wenn der Theater-Regisseur sie zum Äußersten bringt, den Willen bricht – für manche Regieführende immer noch das Mittel der Wahl – und Nacktheit ohne Einverständnis fordert. In seiner experimentellen Direktheit erinnert das an Andres Veiels Die Spielwütigen, vielleicht sogar an Lars von Triers Dogville oder an Rithy Panhs Aufarbeitungen des Roten-Khmer-Traumas. Die Reduktion zieht auf jeden Fall in den Bann.
Vielleicht gibt ja das Theater neue Impulse, die von der Darstellungskonformität zu befreien vermag? Hannah Dörr, Regisseurin von Das Massaker von Anröchte, stach im Spielfilmwettbewerb hervor, blieb am Ende aber leider ohne Auszeichnung. Ihren Film produzierte sie zusammen mit dem Theater Oberhausen, ähnlich war auch Kelly Coppers und Pavol Liskas Die Kinder der Toten als Theaterproduktion entstanden. Mit heruntergekühltem Spaß zwischen Christoph Schlingensief, Roy Andersson oder Aki Kaurismäki inszeniert Das Massaker von Anröchte einen kollektiven Kriminalfall, den der melancholische Kommissar Konka aufklären soll. Die Suche nach den angeblichen Hunnen-Tätern führt ins Nichts. Ein großartiges Schelmenstück über die Leere der Existenz und die Nichtigkeit der Motivlagen. Und herausragend inmitten des Konformen und Vorhersehbaren.
Den großen Gewinner des Festivals, Borga von York-Fabian Raabe, konnte ich dann leider nicht mehr sehen, weil der Stream ausverkauft war. Immerhin hatte der Film mit Eugene Boateng und Christiane Paul über »Ghanaer, die es im Ausland zu Wohlstand gebracht haben« (Programmheft), auf meiner Watch-List gestanden, die Realität im Homeoffice-Leben hatte ihm schlussendlich aber keine Zeit eingeräumt.
Das Augenmerk auf den Nachwuchs aber ist gesetzt. Anfang Februar wird »Rotterdam« im »Tiger-Wettbewerb« Nachwuchsfilme zeigen, gespannt kann man hier schon auf den Film Landscapes of Resistence der Emigholz-Schülerin Marta Popivoda sein. Es folgt die Woche der Kritik Berlin im März mit Freizeit oder: Das Gegenteil Von Nichtstun, das Langfilmdebüt von Caroline Pitzen, ebenfalls im Stream zu sehen. Soweit die Programm-Vorschau. Mal sehen, was sonst noch so kommt.