21.01.2021

Der Sinn des Lebens im Kino

DEAR FUTURE CHILDREN von Franz Böhm
Das Kino wird nicht überleben, wenn es die Fortsetzung einer Fernsehreportage mit anderen Mitteln ist...
(Foto: Filmfestival Max Ophüls Preis)

Das Filmfestival Max Ophüls Preis geht wie so viele andere auch online – erste Eindrücke beim Blättern des Katalogs

Von Rüdiger Suchsland

Das Film­fes­tival Max-Ophüls-Preis in Saar­brü­cken ist seit Montag eröffnet. Norma­ler­weise wäre ich jetzt dort und würde den ganzen Tag Filme sehen. Ich würde Filme­ma­cher treffen, neue junge Filme­ma­cher kennen­lernen, würde Podien anhören und abends in der Garage oder dem entspre­chenden Ersatz-Festi­val­zen­trum mehr als ein Bier trinken. Und über all das würde ich hier berichten.

Saar­brü­cken lohnt immer eine Reise. Es ist am Anfang ein Vorbote des kommenden Film­jahres, ein leichter unter­halt­samer Früh­lings­hauch vor der bleiernen Berlinale im Februar.
Zu Hause am Rechner oder auch mal am größeren Bild­schirm will Festival-Stimmung dagegen nicht aufkommen. Es fällt mir schwer, die Filme zu sehen, ihnen geduldig zu folgen, sich wirklich auf sie einzu­lassen, auch dann, wenn es keine unmit­tel­baren Ablen­kungen gibt.

Viel­leicht ist diese grund­sätz­liche zuneh­mende Lockdown-Gereizt­heit das, was manche Menschen jetzt »Corona-Müdigkeit« nennen, der eigent­liche Grund für einen gewissen Überdruss, für meine persön­liche Unlust, für die Filme in diesem Jahr eine ähnliche Neugier zu entwi­ckeln, wie ich sie sonst eigent­lich immer habe bei den Saar­brü­cker Filmen. Denn das möchte ich vorab sagen: Saar­brü­cken ist für mich persön­lich eines der aller­wich­tigsten Festivals. In vieler Hinsicht wichtiger als die Berlinale und auch als München, obwohl in Berlin natürlich die wich­ti­geren Filme laufen und München fraglos – sorry ihr Saar­länder – noch der schönere Ort ist, für mich zudem noch mit persön­li­cher Nostalgie verbunden. Aber in Saar­brü­cken mache ich die meisten Entde­ckungen. In Saar­brü­cken ist es das Tolle, dass man auch kurze Filme und mittel­lange sieht, und hier schon Regis­seure kennen­lernt, die nicht etwa morgen, sondern über­morgen wichtig werden. Das alles soll hier vermerkt werden, bevor ich jetzt auch ein bisschen über die andere Seite schreiben möchte.

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Vermerkt werden muss auch noch, dass es natürlich in diesem Jahr für die Macher bestimmt sehr viel schwie­riger war als sonst. Dann klarer­weise ist das Programm nicht nur deswegen mit diesmal 98 Filmen etwas schmaler als im Vorjahr, weil man es online-bedingt schlanker machen wollte. Sondern mindes­tens der eine oder andere Film wird mal warten wollen, Filme­ma­cher werden ihre Filme lieber in einem Kino auf großer Leinwand und mit Menschen, denen man direkt begegnet und deren Reaktion man direkt fühlen kann, vorführen wollen, als im abstrakten isolierten Pandemie-Kino. Das ist ihnen nicht zu verdenken, das führt aber dann dazu, dass das Saar­brü­cker Film­fes­tival es schwerer hat als sonst, ein gutes Programm zusam­men­zu­stellen. Die Macher werden es öffent­lich bestimmt nie sagen, wenn dem so sein sollte, denn selbst­ver­ständ­lich liebt man alle seine Kinder und als Festi­val­ma­cher alle seine Filme gleich. Die Wirk­lich­keit aber, die ist nicht so – weder bei den Filmen, noch bei den Kindern.

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Unter der Über­schrift »Uns gehört die Welt!«, die mich schon gleich zu Beginn ein bisschen irritiert hat, sowohl in der Botschaft, als auch in ihrem gutge­launten Ton, lese ich im ersten Text des Festi­val­ka­ta­logs:

»Urein­wohner-innen, die um ihr Mutter­land kämpfen. Berge von Wohl­stands­müll, ausge­la­gert vom Westen ins Anderswo. Flucht­bio­gra­fien. Das kapi­ta­lis­ti­sche System ist ein nimmer­müder Krake, der sich als zerstö­re­ri­sches Prinzip durch eine Vielzahl von Filmen zieht.«

Dann werden einige dieser Filme vorge­stellt. Einer spielt in Chile unter Indigenen. Der Zweite erzählt von Giftmüll an Somalias Küste. Der Dritte erzählt von Elek­tro­schrott aus Europa in Ghanas Haupt­stadt Accra. Der Vierte von der ISIS. Der Text, der zum Auftakt dieser Filme einen mittel­langen, einen kurzen, und zwei Spiel­filme sprach­lich zusam­men­ta­ckert, tut dies zum Beispiel mit dem Satz: »In Geschichten wie diesen spiegeln sich die mannig­fal­tigen Ursachen, die Menschen zur Flucht nach Europa treiben: ökono­mi­sche und ökolo­gi­sche Gründe.« Von »Flucht­the­matik« ist die Rede, vom kriti­schen Umgang mit dem west­li­chen Lebens­mo­dell, der sich auch in anderen Programm­punkten fortsetzt. Einmal geht es um westliche Eliten beim Welt­wirt­schafts­forum von Davos, dann wieder um drei Akti­vis­tInnen aus Chile, Uganda und Hongkong, danach sind wir dann erstmals in Deutsch­land, nämlich im Erzge­birge und dann mit Inves­toren in einem Ostseebad, es geht auch noch um eine Alter­na­tive Gesell­schaft, um Utopie – nur um das – Verzei­hung! – ganz normale alltä­g­liche Leben geht es nicht. Es geht auch nicht um Abenteuer, nicht um Glück, nicht um Liebe, nicht um Spannung, nicht um Schönheit, nicht um Verfüh­rung. Jeden­falls nicht in dem Text.

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Vor allem geht es nicht um die Filme. Also nicht um Film­spra­chen. Nicht darum, warum der eine oder andere dieser Filme dem Kino irgend­etwas Neues gibt, wo er es weiter­bringt. Wir erfahren, was diese Filme mit dem Leit­ar­tikel einer x-belie­bigen Tages­zei­tung zu tun haben, aber nicht, was sie mit Godard zu tun haben, mit Antonioni, mit John Ford oder mit Oshima. Oder meinet­wegen wenigs­tens mit Wim Wenders, der immerhin seinen gefühlt zwölften Ehren­preis in Saar­brü­cken bekommen hat.
Wir erfahren nichts über Stil, über ästhe­ti­sche Entschei­dungen, über Kameras, nichts über Schau­spieler – wenn es sie denn gibt. Wir hören nur etwas über Relevanz. Und Relevanz wird komplett inhal­tis­tisch gedacht, sie wird in Vokabeln von Politik-Redak­tionen gedacht – nicht unbedingt politisch; jeden­falls nicht in dem Sinn der berühmten Godard-Bemerkung, es komme nicht darauf an, poli­ti­sche Filme zu machen, sondern politisch Filme zu machen.
Das heißt: Im Kern sind diese Filme, bzw. der Text über sie, der sich bestimmt sehr politisch und sehr relevant vorkommt, komplett unpo­li­tisch. Aber selbst wenn er das nicht wäre, wenn er politisch wäre, wäre ich mit ihm nicht glücklich.

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Denn der ganze Text endet mit der Frage: »Wie wollen wir ange­sichts der Probleme der Gegenwart eigent­lich in Zukunft leben?«

Ich wäre der Letzte, der bestreiten möchte, dass dies eine wichtige Frage ist. Ich möchte auch nicht bestreiten, dass Kapi­ta­lis­mus­kritik ihren Platz haben sollte, dass sie wichtig ist, dass sie im zeit­genös­si­schen Kino vorkommen muss und auf einem Festival reprä­sen­tiert sein sollte. Ob sie dies so ausschließ­lich tun muss, wie es zumindest in diesem Auftakt-Text erscheint, ist schon eine andere Frage.
Vor allem aber: Wenn sie denn da ist, und wenn sie ernst gemeint ist und nicht nur als Enga­ge­ment-Sticker auf dem Festival Plakat kleben soll, dann möchte ich doch so etwas wie Selbst­kritik und Selbst­re­fle­xion in so einem Text lesen. Ich möchte gerne lesen, wie es denn eigent­lich zusam­men­passt, dass ein Film­fes­tival, das diese Programm­punkte sehr in den Fokus rückt, in einem sehr wohl kapi­ta­lis­ti­schen Land und System veran­staltet wird, dass es zur Finan­zie­rung Sponsoren hat, und Gelder aus der öffent­li­chen Hand, und zwar von einem CDU-regierten Bundes­land und einer CDU-regierten Landes­haupt­stadt. Zu deren Corporate-Identity und Stand­ort­wert das Festival sehr wohl beiträgt. Ich möchte lesen, wie das alles zusam­men­passt, oder ob die Wider­sprüche, die ich hier ganz offen­kundig finde, auch von den Machern gesehen werden.
Dies alles ist erstmal keine Kritik an den inhalt­li­chen State­ments in der Sache, sondern an der inhal­tis­ti­schen Grund­hal­tung.

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Außerdem finde ich mindes­tens mal, dass wir alle – und da schließe ich mich persön­lich mit ein – uns das mit der Kapi­ta­lis­mus­kritik und der Kritik an den Verhält­nissen, in denen wir leben, gerne ein bisschen einfach machen. Denn es ist natürlich ein Wider­spruch, dass ein Festival online geht und damit viel Energie verbraucht und damit eine Tech­no­logie voraus­setzt, die ziemlich viel Geld kostet und die ziemlich viel Müll produ­ziert. Es ist natürlich ein Wider­spruch, dass man den Kapi­ta­lismus kriti­siert, der doch am Ende auch dieses Festival finan­ziert – und nicht nur das, sondern der auch die doch im Großen und Ganzen recht geglückten Verhält­nisse finan­ziert, unter denen wir hier in der Lage sind, einen Lockdown aufrecht­zu­er­halten, ohne dass Leute hungern müssen oder obdachlos werden, und ein Gesund­heits­system zu finan­zieren, das viele Menschen am Leben hält, die mit einer Corona-Erkran­kung in anderen Ländern sterben würden oder viel schwerere Gesund­heits­schäden erlitten.

Das sind die ernsten, bitteren und nicht leicht zu beant­wor­tenden Anfragen, die so ein Text und die im besten Fall auch solche Filme aufwerfen. Nur daran, wie es sich solchen Fragen stellt, bemisst sich auch die Relevanz eines Film­fes­ti­vals.

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Hinzu kommt: Ich gehe nicht nur ins Kino, um mich dort über die schreck­li­chen Seiten der Welt zu grämen, über böse Menschen und den schlimmen Kapi­ta­lismus zu entrüsten; sondern ich gehe auch ins Kino, um dort glücklich zu sein. Ich gehe ins Kino, weil ich immer wieder eine ganz unmit­tel­bare Form von Glück im Hier und Jetzt empfinde, wenn ich Filme sehe – auch Filme mit den beschrie­benen Inhalten.
Aber am Ende geht es nicht um diese Inhalte, sonst es geht um Schönheit, um Flow, um Musik, es geht um Form und Ästhetik. Ich finde es voll­kommen legitim, dass man ins Kino geht, um einem mögli­cher­weise tristen Alltag zu entfliehen. Eska­pismus ist einer der vielen Gründe, wegen der man auch ins Kino gehen kann und darf. Auch – selbst­ver­ständ­lich nicht nur – solche Gefühle sollten ihren Platz auf einem Film­fes­tival haben.

Die Debatte über diese Fragen ist wichtig, denn das, was ich Inhal­tismus nenne, und diese Themen­fi­xiert­heit zeit­genös­si­scher Filme ist aus meiner Sicht eine riesen­große Gefahr für das Kino insgesamt.

Das Kino wird nicht überleben, wenn es die Fort­set­zung einer Fern­seh­re­por­tage mit anderen Mitteln ist, egal ob in Spielfilm-Form oder als Doku­men­tar­film. Dann werden auch Festivals nicht überleben.

Das Kino wird nur dann überleben, wenn es die Zuschauer glücklich macht. Wenn es den Zuschauern eine sinnliche Erfahrung vermit­telt, die sie woanders nicht haben können. Insofern ist ein Film nicht deswegen besser, weil er das Elend dieser Welt darstellt, weil er uns hässliche Verhält­nisse zeigt, weil er sich mögli­cher­weise darin gefällt, uns als Wohl­stands­bür­gern, die wir sind, ein möglichst schlechtes Gefühl und schlechtes Gewissen zu vermit­teln, indem er uns mit der Nase direkt in unsere ganzen Sünden und Probleme hinein­s­tößt. Das Kino ist für mich kein mora­li­sches Erzie­hungs­lager.

Es ist sicher auch eine mora­li­sche Anstalt – aber schon Friedrich Schiller hat beschrieben, warum es mit der mora­li­schen Anstalt ein bisschen kompli­zierter ist, als möglichst viele Filme über die Dritte Welt und über Flücht­linge und über Müll­halden zu machen.

Zum Beispiel würde ich sehr gerne wenigs­tens einen Film sehen – und es gibt solche Filme –, der aus einem Land des globalen Südens kommt, oder von ihm erzählt, und reiche Menschen von dort zeigt. Klima­sünder und Mode­freaks, Amora­listen und normal korrupte Alltags­ver­hält­nisse. Oder der ein Beispiel fürs Krimi­genre ist, es aber eben nicht in Saar­brü­cken, Mannheim oder Münster spielt, sondern zum Beispiel in Dacca oder Buenos Aires. Ich würde auch gerne eine Romantic Comedy aus Somalia sehen – aber auch nur dann, wenn sie halbwegs gut gemacht ist. Tatsäch­lich bin ich davon überzeugt, dass die Erfahrung einer Romantic Comedy aus Somalia mir und viel­leicht noch vielen anderen Menschen die Verhält­nisse in Somalia näher bringen würde, als die Fort­set­zung einer Fern­sehe­lends­re­por­tage mit anderen Mitteln.

Nochmal: Es geht hier um die Haltung und den Blick auf die Filme, der in solchen Texten eingeübt wird, nicht um die Filme selbst. Zu den Filmen selbst kann ich noch nichts sagen, denn nur einen davon habe ich gesehen; den, der in Ghana spielt, und den finde ich auch ästhe­tisch ganz hervor­ra­gend, darüber werde ich nächste Woche auch etwas schreiben.

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Für mich zumindest ist aber am und im Kino nicht nur wichtig, wie »wir« »ange­sichts der Probleme der Gegenwart« »eigent­lich« »in Zukunft« »leben wollen.«
Sondern wie ich und meine geliebten und befreun­deten Menschen jetzt, hier und heute leben. Wie sie leben können, und leben sollen. Früher hätte man das den Sinn des Lebens genannt. Davon handelt die Kunst.