07.01.2021

Ein Jahr in der Hölle

Zombi Child
Betrand Bonellos Zombi Child ist bester Film des Jahres 2020!
(Foto: Grandfillm)

Das Kinojahr 2020, die besten Filme und mehr

Von Rüdiger Suchsland

»If it’s in focus, it’s porno­graphy, if it’s out of focus, it’s art.«
»The Year of Living Dangerously«; Peter Weir, 1982

Ein bisschen Negation der Negation, ein bisschen Tanz über Gräben täte uns allen gut. Die Gefahr ist, dass wir gerade zu träge werden.
Dabei waren, so doof und nerv­tö­tend das Corona-Jahr 2020 auch sonst gewesen sein mag, die Filme, die dann zwischen den Lockdowns kurz laufen durften, gar nicht so schlecht.

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Die Abwe­sen­heit der ameri­ka­ni­schen Block­buster tat dem Kino sehr gut. Viel­leicht nicht den Einnahmen der Kino­be­treiber, aber ich meine jetzt auch gar nicht »James Bond« oder »Wunder­frau« oder das Dutzend weiterer Super­helden-Filme, sondern ich meine den durch­schnitt­li­chen depperten ameri­ka­ni­schen Baller-Knaller. Ihre Abwe­sen­heit schuf mehr Platz für anderes, besseres Kino. Und das spiegelt auch meine nach­fol­gende persön­liche Liste meiner Lieb­lings­filme. Besonders inter­es­sant für mich ist im Rückblick wie viele gute, sehens­werte deutsche Filme es dann doch gab. Tatsäch­lich kann ich mich gar nicht entscheiden, welchen ich darunter am besten fand. Berlin Alex­an­der­platz ist insgesamt schon der vollste, größte im guten Sinn. Darum steht er hier mal als bester deutscher Film. Ina Weisse’s Das Vorspiel liegt wirklich nur knapp dahinter, weil er für mich in mancher Hinsicht doch der ausge­feil­teste war und weil er derjenige ist, der am aller­meisten übersehen wurde unter den mehreren Filmen, die übersehen wurden. Genauso hätte ich hier an dieser Stelle aller­dings auch Giraffe nennen können, den über­ra­schenden zweiten Film von Anna Sofie Hartmann, den ich leider nicht im Kino, nur im Stream entdeckt habe – und der dann hoffent­lich im kommenden Jahr noch etwas zusätz­liche Aufmerk­sam­keit bekommen wird. Und daneben Kokon von Leonie Krip­pen­dorff. Inter­es­sant, dass auch hier mit Jella Haase eine Haupt­dar­stel­lerin, die in Berlin Alex­an­der­platz ebenfalls heraus­stach, vorkommt – also gleich mit zwei Filmen von sich reden machte. So wie Nina Hoss, die aus dem Knast ihrer früheren Rollen befreit sowohl im Vorspiel, als auch im von vielen unter­schätzten Peli­k­an­blut von Katrin Gebbe eine hoch­in­ter­es­sante, heraus­for­dernde Mutter­rolle spielt, die ich persön­lich weitaus span­nender finde, als die sauberen statu­esken Geis­ter­frauen in Christian Petzolds Undine, für die ja neuer­dings eine andere zuständig ist. Gähn.

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Die noch besseren Filme kamen aller­dings wie immer nicht aus Deutsch­land. Sondern aus Frank­reich, aus Asien und diesmal auch aus Latein­ame­rika.
Ein Film wie Bertrand Bonellos Zombi Child ist in Deutsch­land leider absolut undenkbar. Er ist so weit weg vom deutschen Kino, dass man nicht einmal erklären kann, warum das undenkbar ist, sondern einfach nur bei der Vorstel­lung mit dem Kopf schütteln. Aber leider ist auch ein Film wie Bohnen­stange oder Der See der wilden Gänse aus China weiter entfernt von unserer Durch­schnitt­lich­keit. Nicht undenkbar, aber trotzdem fällt einem kein einziger deutscher Regisseur ein, dem man diese ästhe­ti­sche Stärke, diese Konse­quenz in der Insze­nie­rung zutraut. Leider wirklich keiner!

Es geht hier auch nicht so sehr ums Geld, sondern es geht darum, überhaupt solche Filme zu wollen. Und ich glaube auch nicht, dass es in diesem Fall an den zu Recht viel geschol­tenen Förderern liegt, die den Legionen von Filme­ma­chern, die eigent­lich Top-Filme machen würden, mutwillig daran hindern. Es gibt keinen einzigen Film­för­derer, der einen Film besser macht, ja!! Aber es gibt auch keinen, der einen wirklich guten, eine echte Vision verhin­dert – nein!! Es gibt diesen ästhe­ti­schen Willen überhaupt nicht, es gibt diese Visionen überhaupt nicht bei uns. Und man muss allen deutschen Filme­ma­chern, insbe­son­dere Regis­seuren und Dreh­buch­au­toren, aber auch ihren Produ­zenten den Vorwurf machen, dass sie solche Stoffe nicht entwi­ckeln – und dass sie, diese Behaup­tung wage ich einfach mal aufzu­stellen, die betref­fenden Filme überhaupt nicht kennen. Und wenn sie sie kennen, werden sie mit ihnen allzu schnell unge­duldig, dann gucken sie sie viel­leicht noch in der Kiste der Europäi­schen Film­aka­demie an, meist fast-forward, aber dann stimmen sie natürlich nicht für sie, sondern für den biederen Kram, der dann in der Regel gewinnt. Oft gucken sie sie aber auch gar nicht zu Ende, weil sie ihnen ästhe­tisch nicht gewachsen sind.

Und selbst das Gemäkel an Tenet, das man in Deutsch­land hört, beweist, dass die aller­meisten Menschen, die in Deutsch­land Filme machen der Ästhetik des Kinos und dem Kino der Attrak­tionen (vergleiche das Cinema Moralia diese Woche) nicht gewachsen sind. Denn wahr­schein­lich ist es so, dass Tenet nicht so inter­es­sant ist, wie die letzten drei bis vier Chris­to­pher-Nolan-Filme. Aber er ist immer noch viel viel inter­es­santer und heraus­for­dernder als so ziemlich alles andere, was in diesem Jahr ins Kino kam. Auch Tenet könnte auf Platz eins der Liste stehen. Wie Ema oder wie Space Dogs, der noch ein bisschen mit Deutsch­land zu tun hat, aber ästhe­tisch eigent­lich auch überhaupt nichts. Das sind alles Filme, die in Deutsch­land so eigent­lich nicht möglich sind, und zwar, weil man sie sich in den Köpfen der deutschen Filme­ma­cher nicht vorstellen kann.

Insofern einmal mehr ein großes Kompli­ment für alle Macher von Berlin Alex­an­der­platz!! Für den Regisseur, seinen Produ­zenten, für die Schau­spieler, noch mehr als für die alle aber viel­leicht für die Kamera und die Montage, und für die Kompo­nistin, deren aller­erste Filmmusik gleich diese gewesen ist. Sie alle haben meine Vorstel­lung vom deutschen Kino widerlegt. Berlin Alex­an­der­platz ist wirklich etwas Neues.

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Die Liste:

1. Zombi Child

2. Bohnen­stange

3. Der See der wilden Gänse

4. Ema

5. Space Dogs

6. Rojo

7. Tenet

8. Berlin Alex­an­der­platz

9. Das Vorspiel

10. Weathe­ring with You – Das Mädchen, das die Sonne berührte

Knapp nicht mehr in den Top Ten: Giraffe; Kokon; Peli­k­an­blut; Il Traditore.