Ein Jahr in der Hölle |
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Betrand Bonellos Zombi Child ist bester Film des Jahres 2020! | ||
(Foto: Grandfillm) |
»If it’s in focus, it’s pornography, if it’s out of focus, it’s art.«
»The Year of Living Dangerously«; Peter Weir, 1982
Ein bisschen Negation der Negation, ein bisschen Tanz über Gräben täte uns allen gut. Die Gefahr ist, dass wir gerade zu träge werden.
Dabei waren, so doof und nervtötend das Corona-Jahr 2020 auch sonst gewesen sein mag, die Filme, die dann zwischen den Lockdowns kurz laufen durften, gar nicht so schlecht.
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Die Abwesenheit der amerikanischen Blockbuster tat dem Kino sehr gut. Vielleicht nicht den Einnahmen der Kinobetreiber, aber ich meine jetzt auch gar nicht »James Bond« oder »Wunderfrau« oder das Dutzend weiterer Superhelden-Filme, sondern ich meine den durchschnittlichen depperten amerikanischen Baller-Knaller. Ihre Abwesenheit schuf mehr Platz für anderes, besseres Kino. Und das spiegelt auch meine nachfolgende persönliche Liste meiner Lieblingsfilme. Besonders interessant für mich ist im Rückblick wie viele gute, sehenswerte deutsche Filme es dann doch gab. Tatsächlich kann ich mich gar nicht entscheiden, welchen ich darunter am besten fand. Berlin Alexanderplatz ist insgesamt schon der vollste, größte im guten Sinn. Darum steht er hier mal als bester deutscher Film. Ina Weisse’s Das Vorspiel liegt wirklich nur knapp dahinter, weil er für mich in mancher Hinsicht doch der ausgefeilteste war und weil er derjenige ist, der am allermeisten übersehen wurde unter den mehreren Filmen, die übersehen wurden. Genauso hätte ich hier an dieser Stelle allerdings auch Giraffe nennen können, den überraschenden zweiten Film von Anna Sofie Hartmann, den ich leider nicht im Kino, nur im Stream entdeckt habe – und der dann hoffentlich im kommenden Jahr noch etwas zusätzliche Aufmerksamkeit bekommen wird. Und daneben Kokon von Leonie Krippendorff. Interessant, dass auch hier mit Jella Haase eine Hauptdarstellerin, die in Berlin Alexanderplatz ebenfalls herausstach, vorkommt – also gleich mit zwei Filmen von sich reden machte. So wie Nina Hoss, die aus dem Knast ihrer früheren Rollen befreit sowohl im Vorspiel, als auch im von vielen unterschätzten Pelikanblut von Katrin Gebbe eine hochinteressante, herausfordernde Mutterrolle spielt, die ich persönlich weitaus spannender finde, als die sauberen statuesken Geisterfrauen in Christian Petzolds Undine, für die ja neuerdings eine andere zuständig ist. Gähn.
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Die noch besseren Filme kamen allerdings wie immer nicht aus Deutschland. Sondern aus Frankreich, aus Asien und diesmal auch aus Lateinamerika.
Ein Film wie Bertrand Bonellos Zombi Child ist in Deutschland leider absolut undenkbar. Er ist so weit weg vom deutschen Kino, dass man nicht einmal erklären kann, warum das undenkbar ist, sondern einfach nur bei der Vorstellung mit dem Kopf
schütteln. Aber leider ist auch ein Film wie Bohnenstange oder Der See der wilden Gänse aus China weiter entfernt von unserer Durchschnittlichkeit. Nicht undenkbar, aber trotzdem fällt einem kein einziger deutscher Regisseur ein, dem man diese ästhetische Stärke, diese Konsequenz in der Inszenierung
zutraut. Leider wirklich keiner!
Es geht hier auch nicht so sehr ums Geld, sondern es geht darum, überhaupt solche Filme zu wollen. Und ich glaube auch nicht, dass es in diesem Fall an den zu Recht viel gescholtenen Förderern liegt, die den Legionen von Filmemachern, die eigentlich Top-Filme machen würden, mutwillig daran hindern. Es gibt keinen einzigen Filmförderer, der einen Film besser macht, ja!! Aber es gibt auch keinen, der einen wirklich guten, eine echte Vision verhindert – nein!! Es gibt diesen ästhetischen Willen überhaupt nicht, es gibt diese Visionen überhaupt nicht bei uns. Und man muss allen deutschen Filmemachern, insbesondere Regisseuren und Drehbuchautoren, aber auch ihren Produzenten den Vorwurf machen, dass sie solche Stoffe nicht entwickeln – und dass sie, diese Behauptung wage ich einfach mal aufzustellen, die betreffenden Filme überhaupt nicht kennen. Und wenn sie sie kennen, werden sie mit ihnen allzu schnell ungeduldig, dann gucken sie sie vielleicht noch in der Kiste der Europäischen Filmakademie an, meist fast-forward, aber dann stimmen sie natürlich nicht für sie, sondern für den biederen Kram, der dann in der Regel gewinnt. Oft gucken sie sie aber auch gar nicht zu Ende, weil sie ihnen ästhetisch nicht gewachsen sind.
Und selbst das Gemäkel an Tenet, das man in Deutschland hört, beweist, dass die allermeisten Menschen, die in Deutschland Filme machen der Ästhetik des Kinos und dem Kino der Attraktionen (vergleiche das Cinema Moralia diese Woche) nicht gewachsen sind. Denn wahrscheinlich ist es so, dass Tenet nicht so interessant ist, wie die letzten drei bis vier Christopher-Nolan-Filme. Aber er ist immer noch viel viel interessanter und herausfordernder als so ziemlich alles andere, was in diesem Jahr ins Kino kam. Auch Tenet könnte auf Platz eins der Liste stehen. Wie Ema oder wie Space Dogs, der noch ein bisschen mit Deutschland zu tun hat, aber ästhetisch eigentlich auch überhaupt nichts. Das sind alles Filme, die in Deutschland so eigentlich nicht möglich sind, und zwar, weil man sie sich in den Köpfen der deutschen Filmemacher nicht vorstellen kann.
Insofern einmal mehr ein großes Kompliment für alle Macher von Berlin Alexanderplatz!! Für den Regisseur, seinen Produzenten, für die Schauspieler, noch mehr als für die alle aber vielleicht für die Kamera und die Montage, und für die Komponistin, deren allererste Filmmusik gleich diese gewesen ist. Sie alle haben meine Vorstellung vom deutschen Kino widerlegt. Berlin Alexanderplatz ist wirklich etwas Neues.
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Die Liste:
1. Zombi Child
4. Ema
5. Space Dogs
6. Rojo
7. Tenet
9. Das Vorspiel
10. Weathering with You – Das Mädchen, das die Sonne berührte
Knapp nicht mehr in den Top Ten: Giraffe; Kokon; Pelikanblut; Il Traditore.