28.09.2017

»Fantasy Filmfest Beasts and Where To Find Them«

Bartosz M. Kowalskis Playground
Bartosz M. Kowalskis Playground: Haneke ohne belehrende Besserwisserei

Edelmann & Willmanns kleiner Führer durch die Fauna des FFF 2017

Von Anna Edelmann & Thomas Willmann

Das Horror­kino handelt ja nicht selten von der Bestie im Menschen.
Ohne mit diesem Trend zu brechen, waren im dies­jäh­rigen Fantasy Filmfest-Jahrgang aber auch erstaun­lich oft die Bestien neben dem Menschen zu sehen. Genug, uns zu einer kleinen Film­tier­rund­schau zu veran­lassen.

Sicilian Ghost Story
Der Schmet­ter­ling flattert, frei wie die Seele, gen Meer – und die Kamera schwebt ihm hinterher auf seinem Flug. Hach, könnte der an seinen irdischen Leib gebundene und von Camorra-Kidnap­pern in einen Koffer­raum gesperrte Giuseppe ihm nur folgen! Doch ihm bleibt nur der ferne Duft der See – und die kitschige, poeti­sie­rende Hoffnung, die der Film glaubt, seinem Schicksal abtrotzen zu können.
Nun ist Sicilian Ghost Story nicht The Lovely Bones – seine Bilder haben eine gewisse Herbst­kühle, der Tonfall ist selbst in emotional aufge­la­denen Momenten ruhig, der Sound­track von Soap & Skin weit von Rühr­se­lig­keit entfernt.
Man kann sich durchaus einlullen lassen von Fabio Gras­sa­donia & Antonio Piazzas Film. Mehr als Entfüh­rungs-, mehr als Mafia-Drama, mehr als Spuk­ge­schichte ist er vor allem eine Teenager-Romanze. In deren Mittel­punkt die Liebe steht von Luna zu Giuseppe – gerade zum ersten, keuschen Kuss gediehen, doch von blinder Treue, Selbstüber­zeugt­heit von ihrer Größe und Ewigkeit, selbst als von Giuseppe schon seit Monaten jede Spur fehlt.
Doch spätes­tens wenn der Film dem Jungen auf einer Art Wunsch­ebene eine tröst­liche Erlösung ange­deihen lässt; spätes­tens wenn das Mädchen sich um ihrem Leben ein Ende zu setzen in den Keller zurück­zieht, unter dem vers­tänd­nis­vollen Blick des dort in der Dunkel­heit hausenden Käuzchens – ihrem spirit animal – und ihrer­seits über­na­tür­liche Rettung erfährt – spätes­tens dann sollte einem die Roman­ti­sie­rung von grausamem Kinder­mord und Suizid übel aufstoßen.
Wie verklä­rend, versöhn­lich, frei von jedem Rückstand an Schmerz das insze­niert ist, kippt dann gänzlich ins Respekt­lose, wenn einem Sicilian Ghost Story nach seinem Ende noch Betrof­fen­heit abpressen will mittels einer Widmung an das junge Opfer eines realen Falles, das in den 1990ern von der Mafia entführt, über zwei Jahre gefangen gehalten, erdros­selt und in Säure aufgelöst wurde. So poetisch!

KUSO
Mr. Quiggle ist ein Wurmin­sekt, das im Anus eines selbst­er­nannten Thera­peuten lebt – ein Face­hugger, bloß im Arsch; ein Anti-Tingler im After – ein hilf­rei­cher Parasit, der sich all jenen zeigt, die vermögen, ihn mit einem impro­vi­sierten Ständchen hervor­zu­lo­cken. Auf dass er diese Patienten von ihren Ängsten und Phobien – z.B. der tief­sit­zenden Furcht vor weib­li­chen Brüsten – befreie.
Mr. Quiggle ist bei weitem nicht das Selt­samste, Verhal­tens­krea­tivste an Steven »Flying Lotus« Ellisons Filmdebut.
Adult Swim’s »Eraser­head«, Shinya Tsuka­motos »Kentucky Fried Movie«, John Waters' »Naked Lunch«, Melvin van Peebles »Institut Benja­menta« – so in etwa.
Corpus sane insane in the membrane.
»Do not be afraid of feces.«: Wer sich auf KUSO einlässt, findet sich uner­war­te­ter­weise womöglich selbst von manch Ekel vor der Körper­lich­keit thera­piert.

Play­ground
Der hagere Hund, dem einer der beiden Jungen in Play­ground eine Tüte Fleisch frisch vom Metzger knapp außerhalb der Reich­weite vor die Schnauze stellt, ist das erste Opfer einer mutwil­ligen, ziellosen, fast desin­ter­es­sierten Bösar­tig­keit.
Der polnische Film begleitet die Eska­la­tion dieses letzten Schultags von Szymek und Czarek reduziert, natu­ra­lis­tisch, mit einer nüch­ternen Unaus­weich­lich­keit. Von einer einzigen thea­tra­li­schen, gekün­s­telten Zeitlupen-Szene abgesehen, in der die Buben – nachdem sie eine Klas­sen­ka­me­radin auf eine die eigene, erste Sexua­lität austes­tende Weise ernied­rigt haben – sich von allen Erwach­senen am Wegrand vorwurfs­voll angegafft fühlen, könnte Bartosz M. Kowalskis Play­ground eine Art Haneke-Film ohne die beleh­rende Besser­wis­serei sein.
Doch gerade die mini­ma­lis­ti­sche Insze­nie­rung lässt einen wie mit der Lupe nach jedem Erklä­rungs­ver­such Ausschau halten; was lediglich Symptom, Begleit­erschei­nung, paral­leles Detail sein mag, scheint da als Ursache angeboten. Ähnlich wie in Gus van Sants Elephant bekommen so etwa die Video­spiele, die freilich Teil der Lebens­wirk­lich­keit der meisten Jugend­li­chen sind, die Rolle eines Verder­bers, eines Vernichters von Mitgefühl.
Und so hat es auch einen Unterton von Schuld­zu­wei­sung, wenn die Jungen nach einer Ersatz­be­frie­di­gung suchen müssen, ausge­rechnet weil der Gameshop im Einkaufs­zen­trum geschlossen hat. Es scheint eine Konse­quenz darin zu liegen, dass diese Enttäu­schung den zufäl­ligen Mord an einem aus der Mall gelotsten Kleinkind nach sich zieht.
Die Mordszene – aus der Distanz gefilmt, minu­ten­lang ohne Schnitt vom anfäng­lich gefühllos neugie­rigen Spiel mit dem Kind wie mit einer Puppe bis zum bitteren Ende alles zeigend – ist als filme­ma­che­ri­sches Aushän­ge­schild, als scho­ckie­rendes Allein­stel­lungs­merkmal gesetzt. Und was sie einem immerhin nahe­bringt, auch oder grade wenn sie einen erstaun­lich kalt lässt, das ist die Banalität, Beiläu­fig­keit, ja Lange­weile des Vorgangs.
Jene Szene aber, die einen emotional wirklich von links erwischt, die einen in einer unvor­her­seh­baren Entladung das ange­staute Gemisch von Frust, Hass, Ohnmacht zutiefst spüren lässt – das ist ein vermeint­lich kleiner Moment ganz früh im Film. Szymek kümmert sich routi­niert fürsorg­lich um seinen bett­läg­rigen, behin­derten Vater, bringt ihn vom Bett auf die Toilette und zurück. Es ist nicht fraglich, dass die beiden sich lieben – aber ebenso klar ist, wie über­for­dert Szymek von der Situation ist, wie sehr der Vater das weißt, auch wünscht, dass es anders wäre. Und beide keine Chance auf einen einfachen Ausweg haben.
Und plötzlich, kaum ist der Vater wieder sicher im Bett, schlägt Szymek heftig auf ihn ein. Und der Vater, hörbar leidend, lässt ihn wehrlos und vers­tänd­nis­voll gewähren.
Keine der größeren Grau­sam­keiten später im Film hat solch einen Nachhall.

Jungle
Die Feuer­a­meisen sind bei weitem nicht die einzigen Tiere im Jungle – dessen Titel Programm ist, und hält, was er verspricht. Das Bingo-Kärtlein zum Genre »Dschun­gel­film« bekäme man allemal voll; es fehlen eigent­lich nur die Kanni­balen, dafür gibt es aber immerhin einen netten, kleinen (und tier­freund­li­chen) Zwinkerer Richtung Cannibal Holocaust.
Bei aller Vertraut­heit der einzelnen Elemente ist Greg McLeans Über­le­bens-Drama, nach den realen Erleb­nissen Yossi Gins­berghs im Südame­rika der 1980er, insgesamt über­ra­schend packend – was nicht zuletzt auch daran liegt, dass Daniel Radcliffe mitt­ler­weile offenbar vollends in der maso­chis­ti­schen Phase seines Schaffens angelangt ist und einen Heiden­spaß daran zu haben scheint, seinen Leib für die Leinwand schinden zu lassen.
Aber apropos »Heiden«: Mit den Feuer­a­meisen eben hat es eine besondere, seltsame Bewandtnis. Ihnen begegnet Ginsbergh/Radcliffe zum ersten Mal recht früh im Film. Da beißt ihn ein einzelnes Exemplar, was er bereits als reichlich schmerz­haft empfindet. Der zwie­lich­tige Führer jedoch, den er und seine Freunde zur Dschun­gel­durch­que­rung angeheurt haben (Thomas Kret­sch­mann, ausge­rechnet – aber gut), der erzählt, dass einst die Missio­nare bockige Einge­bo­rene an Pfähle voller solcher aggres­siver Krab­bel­tiere gebunden hätten. Und da hätten die Unbe­kehrten dann sehr schnell den Glauben an »Baby Jesus« gefunden.
Das scheint bloß eine Rand­episode. Dann: Dschungel, Dschungel, Dschungel. Unglück­liche Dinge passieren. Der Survival-uner­fah­rene Ginsbergh findet sich zwei Wochen allein auf sich gestellt im Urwald. Blöd.
Ginsbergh, muss man wissen, hat seinen Südame­rika-Back­pa­cker-Trip aber nicht zuletzt ange­treten, um seiner Familie in Israel zu entfleu­chen. Eine Familie, ein Israel, welche in Rück­blenden weniger wie die 1970/80er anmuten, als alte »Bilder aus dem Shtetl«. Immer im Gepäck hat Yossi ein hebräisch-kabba­lis­ti­sches Büchlein, welches der lebens­lange Glücks­bringer seines Onkels in allen noch so bedroh­li­chen Situa­tionen war.
Wie gesagt: Dschungel, Dschungel, Dschungel – Ginsbergh ist immer ausge­zehrter, verirrter, rampo­nierter. Und landet schließ­lich in einem treib­sand­ar­tigen Schlamm­loch. Grad kann er sich noch raus­ziehen – zurück im Matsch bleibt, sehr drama­tisch insze­niert, das hebräi­sche Büchlein, dies letzte Binde­glied zu seiner jüdischen Familie. Und was steht dann vor Yossi? Ein pfahlähn­li­cher Baumstamm voll und voller... jawoll, Feuer­a­meisen! Yossi umarmt den Wusel­ste­cken, lässt sich beißen, beißen, beißen. Auf Hand­lungs­ebene freilich, um sich durch den Adre­na­lin­schub noch einmal wach­zu­reißen – aber der Film zitiert nochmal explizit den ersten Biss, als wolle er deutlich daran erinnern, was damals dazu gesagt wurde.
Und oh Wunder: Nun endlich findet Yossi den Weg zum rettenden Fluss! Sitzt am Ufer, blickt in den arg tran­szen­dent-göttlich insze­nierten Ster­nen­himmel auf, ein Seelen-Schmet­ter­ling (hallo, Sicilian Ghost Story) flatter durchs Bild. Und Yossi breitet die Arme, in Kreu­zi­gungs­pose.
Schließ­lich gefunden und ins nächste Dorf gebracht, hockt Ginsbergh im letzten Bild des Films da, die Dorf­be­wohner (in Südame­rika freilich: katho­lisch) bestaunen ihn. Und eine alte Frau macht das Kreuz­zei­chen über ihm, und dankt, im letzten Satz des Films, dem HERRN für die wunder­same Rettung.
Jetzt: Wenn das, in diesem ansonsten ja sehr erquick­li­chen Film, nicht nahelegen soll, dass Yossi Gins­berghs Erlösung symbo­lisch über die Konver­tie­rung vom Juden- zum Chris­tentum führte – was, bitte, meint es dann?

Marlina the Murderer in Four Acts
Die zwei Pferde müssen unbedingt mit – es gibt Prio­ritäten. Wenn die nicht recht­zeitig als Mitgift ankommen, dann platzt die ganze Hochzeit. Da hat die Mutter des Bräu­ti­gams in spe jenen schmerz­be­freiten Prag­ma­tismus, den die Frauen in diesem indo­ne­si­schen Land­strich sich offenbar alle früh aneignen müssen.
Da ist es erstmal neben­säch­lich, dass eine Mitrei­sende des Überland-Lini­en­busses als Hand­ge­päck einen abge­schla­genen Kopf bei sich baumeln hat.
Diese Mitrei­sende, das ist die Titel­heldin dieses femi­nis­ti­schen Westerns von Mouly Surya. Der Kopf aber gehörte zuvor dem Capo der Bandi­ten­bande, die die verwit­wete Marlina (Marsha Timothy) auf ihrem entle­genen Kleinst­bau­ernhof heim­suchten. Der Film erzählt den Ablauf des Überfalls so auswegslos wie verblüf­fend unauf­ge­regt; in fast schel­misch präzisen Tableaus; mit einem trockenen Witz, der sich durch den ganzen Film zieht.
Die sieben Banditen kündigen an, Marlinas Vieh zu stehlen, bekocht werden zu wollen, und – wenn dann noch Zeit bleibt – sie nach­ein­ander zu verge­wal­tigen. Bis auf den Chef kann sie alle vergiften. Ihn enthauptet sie während des erzwun­genen Akts.
Ihre be-hauptete Fahrt ins nächste Städtchen tritt sie an, um sowohl den Überfall als auch ihre Notwehr ordnungs­be­wusst bei der Polizei anzu­zeigen.
Ausge­rechnet dieser Versuch aber, im Rahmen des Gesetzes zu bleiben, macht Marlina wirklich zum Outlaw. Die Formu­larf­ragen der halb­be­flis­senen Beamten drängeln in Richtung eines falschen Eindrucks des Gesche­henen. Was vorher auf der Leinwand für alle völlig evident war, bekommt auf dem Papier plötzlich einen das Opfer ankla­genden Einschlag. Hat sie sich zu vorschnell, bereit­willig in das ohne offene Waffen­ge­walt aufgenö­tigte Schicksal gefügt? Und da die Mühlen des Gesetzes zudem sehr langsam mahlen, bleibt Marlina nichts anderes übrig, als sich halt auch den verblie­benen Resten der Bande selbst zu entle­digen.
Marlina the Murderer in Four Acts ist ein Rache­wes­tern, keine Frage, und durchaus ein blutiger – und was Breitwand-Bild­sprache, Musik­ein­satz betrifft dazu noch auf seine ganz eigene, indo­ne­si­sche Weise einer der Leone-würdigsten der letzten Jahre, der nicht von Tarantino stammt. Aber wo die klas­si­schen männ­li­chen Genre-Helden ihr ganzes Leben dem Rache­durst hingeben, macht Marlina lediglich und gnadenlos, was alle Frauen in ihrer Welt tun: Das Nötige.
A woman’s gotta do what a woman’s gotta do.