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24.07.2003
 
 
       

Märchen trifft Matrix
Zum Start des 17. Fantasy Filmfests

 
 
The Little Match Girl
   
 
 
 
 

"Bitte, nehmen Sie doch eines" bettelt das Mädchen, doch rüde weisen die Passanten es zurück, und die paar Männer, die etwas freundlicher sind, wollen nur das Eine. Bald wird die grässliche Kälte überhand nehmen, das Mädchen wird sterben in einem Meer aus rosa Schnee - und wieder auferstehen in einem Bildersturm aus Farben, schnellen Schnitten, Popmusik und ironischem Witz: Hans Christian Andersen trifft MATRIX in RESURRECTION OF THE LITTLE MATCH GIRL, einem der besten Filme auf dem diesjährigen Fantasy-Filmfest: Überraschende, ungesehene Bilder, ein überdrehter Traum aus Farben und Einfällen. Der Koreaner Jang Sun-Woo tauscht Streichhölzer mit bunten Feuerzeugen und versetzt Andersens "Mädchen mit den Schwefelhölzern" in eine Science-Fiction-Cyberwelt. Schein und Sein sind ununterscheidbar, lösen einander hemmungslos ab, sodass der Zuschauer beim ersten Sehen fast überfordert ist, aber zugleich bezaubert wie selten. In seiner Mischung aus Poesie und Dynamik, neuester Technik und klassischer Tradition ist der Film typisch für das asiatische Kino der Gegenwart, dem dieses Festival seit jeher ein besonders inniges Forum bietet.

Heute geht es los, zuerst für eine Woche in München, dann wandert das Programm bis Ende August durch sieben deutsche Städte. Im letzten Jahrzehnt hat sich das Fantasy-Filmfest endgültig aus der Genre-Nische befreit, und zu einem hochkarätigen Sommerfestival gemausert, dessen Programm zumindest gleichwertig, in mancher Hinsicht weitaus besser ist, als das vieler ortsgebundener Festivals. Immer wieder bietet sich hier die Chance, Filme zu sehen, denen man später - wenn überhaupt - allenfalls noch im Videoshop wiederbegegnet. Schuld daran hat daran auch die Situation der deutschen Filmkultur mit ihren zu wenigen Leinwänden, ihrem fehlenden Interesse für Abseitiges und Unkonventionelles - in England, Spanien und Frankreich finden nämlich viel mehr der hier gezeigten Filme auch einen normalen Kino-Verleih. Um so schöner, dass die Gründer Schorsch Müller und Rainer Stephan und ihre Firma Rosebud hier in die Bresche springen. In diesem Jahr, dem 17. des Festivals, wurde das Programm noch einmal erheblich aufgestockt: Mit 73 Spiel- und neun Kurzfilmen zeigt man 20 Prozent mehr Filme als in den Vorjahren, mit Nürnberg ist ein siebter Spielort hinzugekommen. Fast wird diese Überfülle zum Problem: Da das Programm weiterhin auf knapp acht Tage zusammengepresst ist, gibt es kaum noch Wiederholungen, trotzdem bis zu sieben Filme am Tag und dabei bittere Überschneidungen. Denn auch für den Hardcore-Fan, der
sich eigens Urlaub nimmt, ist dieses Pensum nicht mehr zu bewältigen.

Dies ändert nichts an der Qualität des Programms. Besondere Perlen
garantiert dabei einmal mehr der "Focus Asia", der diesmal 15 Filme
umfasst. Nicht versäumen sollte man neben RESURRECTION OF THE LITTLE MATCH GIRL auf alle Fälle SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE, ebenfalls aus Korea, von Park Chan-Wook, der hierzulande mit JOINT SECURITY AREA bekannt wurde. Der großartig-beklemmende Film erzählt eine bittere Rachegeschichte um ein sympathisches junges Paar, das sich aus Menschliebe in ein Verbrechen verstricken lässt. Gute Motive und etwas Pech haben schlimme Konsequenzen - auch für die beiden Wohlmeinenden. Erzählt in lakonischen Bildern ist SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE eine stille und intensive, filmisch sehr eindringliche Erfahrung - und fast nebenbei ein präzises Portrait der innerlich gärenden koreanischen Gegenwartsgesellschaft. Dass die Filme aus Korea, dem derzeitigen Filmland Nummer Eins in Asien noch politischer geworden sind, belegt auch TUBE von Baek Woon-Hak. Formal handelt es sich bei diesem Genrefilm um eine wesentlich härtere, überdrehtere Variante des Hollywood-Blockbusters SPEED: Ein Terrorist entführt einen vollbesetzten U-Bahn-Zug, in dem unter anderem der Bürgermeister von Seoul sitzt, und rast mit ihm und einer Tonne TNT durch die Katakomben der Hauptstadt. Bei aller Action und allem Mut zur Übertreibung, dazu, die Handlungsschraube noch immer eine Wendung weiter zu drehen, ist der Film zugleich gespickt mit politischen Anspielungen, massiver Kritik der autoritären koreanischen Strukturen und politischer Korruption. Eine chinesisch-koreanische Co-Produktion ist Kim Sung-Su's MUSA, ein elegischer Martial-Arts-Kostümfilm, der seine Zuschauer ins China des 14. Jahrhunderts führt. Die Härte Peckinpahs verschmilzt mit der Schönheit von HERO oder CROUCHING TIGER, HIDDEN DRAGON, deren Hauptdarstellerin, die hübsche Zhang Ziyi, auch hier in einer Hauptrolle zu sehen ist. Erzählt wird von einer Gruppe Kämpfer, einem "wild bunch", der verloren zwischen den Fronten umherirrt. Als sie eine entführte Prinzessin befreien, beginnt eine gnadenlose Hetzjagd. Vergleichsweise enttäuschend ist dagegen GOZU, der neue Film von Takashi Miike (AUDITION). Einmal mehr hat sich der japanische Provokateur der Yakuza, der japanischen Mafia zugewandt, und begleitet den Höllensturz eines Gangsters. Doch im Vergleich mit Miikes letzten Filmen ICHI THE KILLER und GRAVEYARD OF HONOR hat der Regisseur nichts Neues zu erzählen, erscheinen Provokation und Tabubruch, mit denen sich Miike international einen Namen machte, zur Pose geronnen - und überdies in schlampiger Bildsprache inszeniert. Das Gegenteil ist bei CHIYOKO MILLENIUM ACTRESS der Fall, dem neuen Anime von Satoshi Kon, dessen PERFECT VLUE auch im Westen lief. Bezaubernd in seiner Poesie, atemberaubend in seinen Bildern verfolgt der Film das Leben einer Schauspielerin, die vor 30 Jahren spurlos verschwand, und bietet auf diese Weise eine traumwandlerische Chronik des Nachkriegsjapan.

Eröffnet wird das Festival mit klassischem Hollywood: John Cusack
spielt die Hauptrolle in James Magolds IDENTITY, der bald ins Kino
kommt, einem intelligenten Thriller im Hitchcock-Stil. Wie in PSYCHO
landen hier ein paar normale Menschen zufällig in einem Hotel, in dem
ein Serienkiller sein Wesen treibt. Arbeit am Mythos in ganz anderer
Weise praktiziert dagegen Wayne Kramers faszinierendes Debüt THE
COOLER. Schauplatz ist Las Vegas, aber weder die Gangstermythen von Scorsese und Beatty, noch das überdrehte Sex & Drugs-Mekka eines Hunter S. Thompson ("Fear & Loathing in Las Vegas") prägen den Blick, sondern kühle Depression - die Wahrheit hinter dem Glamour. Im Zentrum steht der wunderbare Auftritt William H. Macys: Er spielt den Pechvogel Bernie, der seinen Spielschulden abträgt, indem er als "Cooler" arbeitet, als fleischgewordene Depression, die von den Casinos dazu eingesetzt wird, Spieler mit Glücksstränen aus dem Konzept zu bringen. Doch eines Tages ist Bernie verliebt, und seine Wirkung als "Cooler" lässt rapide nach... Ebenfalls noch bei uns zu sehen sein dürfte Vincenco Natalis CYPHER, in dem Lucy Liu, der
schönste Engel von Charlie, ein mysteriöses Cybergirl spielt, dem
Jeremy Northam hilflos ausgesetzt ist - kein Wunder, sein Gedächtnis
hat sich nämlich durch Gehirnwäsche in ein Chaos aus Halluzinationen
verwandelt.

Man kann nur wiederauferstehen, wenn man sterben lernt - wie das
"Little Match Girl" zur eiseskalten Außenwelt bietet das Fantasy
Filmfest den Gegenpol zu einem Sommer, in dem teure Sequels und andere überproduzierte Blockbuster mehr denn je um die Gunst der Zuschauer betteln: Ein Feuerwerk, Kino als "True Romance".

Rüdiger Suchsland

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