03.01.2013

Die diskrete Seite des Jahres 2012

Shame von Steve McQueen
So zurückhaltend, dass sogar die Protagonisten oftmals nur von hinten gefilmt werden: Shame

Zehn äußerst zurückhaltende und dennoch höchst beeindruckende Filme, auf die unser Autor gerne zurückblickt

Von Michael Haberlander

Woche für Woche wird man als Kino­freund mit einer Masse von Film­neu­starts konfron­tiert, dazu kommen Festivals, Filmtage, Film­reihen und Länder­schauen in allen Größen und Formen und weil das immer noch nicht ausreicht, der jährlich produ­zierten Filmflut gerecht zu werden, könnte man sich noch mit Bergen von (direct to) DVDs eindecken. Wer kann da noch den Überblick behalten, wer kann da noch alles sehen, was ihn inter­es­siert? Zurück bleibt Woche für Woche das quälende Gefühl, wieder viel Schönes und Gutes verpasst zu haben.
Dieses unschöne Gefühl erfährt seinen Höhepunkt zum Jahres­wechsel, wenn in langen Listen und Artikeln auf die besonders sehens­werten Filme zurück­ge­blickt wird und man in konzen­trierter Form vorge­führt bekommt, was man während der letzten zwölf Monate hätte sehen wollen bzw. sollen. Da stellt sich schon einmal das Gefühl der Über­for­de­rung ein und resi­gniert muss man hinnehmen, dass man keine Chance hat, das Verpasste auch nur ansatz­weise irgend­wann nach­zu­holen.

Als probates Mittel gegen eine cine­as­ti­sche Über­las­tungs­stö­rung wird sich dieser Kinorück­blick auf zehn Filme beschränken. Das sind nicht notwen­di­ger­weise die zehn aller­besten Filme des Jahres, es sind auch nicht die am wenigsten beach­teten oder am meisten miss­ver­stan­denen. Es sind einfach zehn gute Filme, an die man sich gerne zurü­cker­in­nert bzw. die es lohnt nach­zu­holen.
In der Auswahl steckt sicher ein gewisses Maß an Zufall und Willkür, trotzdem zeichnet sich eine über­grei­fende Gemein­sam­keit ab; sie sind auffällig unauf­fällig, d.h., ihre Art des Erzählens ist ruhig, diskret, zurück­hal­tend, subtil, tief- und hinter­gründig, worin man aber kaum ein durch­ge­hendes Motiv des Kinojahrs 2012 sehen kann, da neben dieser spezi­ellen Auswahl ein Viel­fa­ches an voll­kommen anders gearteten – also laute, aufdring­liche, spek­ta­ku­läre, etc. – Filmen gelaufen ist.

Wenn es um Gangster geht, dann wird es gerne laut, schnell und hektisch. Nicolas Winding Refns Drive ist da anders. Ein ruhiger, fast elegi­scher Film, Ryan Gosling als profes­sio­neller Fahrer trägt eine (natur­gemäß nicht aufge­regte) Melan­cholie mit sich herum und selbst wenn die Gewalt einmal in diesem Film ausbricht, dann nur, um schnell wieder zu verschwinden und wie träge in der Luft hängender Pulver­rauch sche­men­haft zurück­zu­bleiben.
Drive im Double­fea­ture mit Bullitt zu sehen bietet sich nicht nur wegen des augen­fäl­ligen Crime-and-Car-Themas an, sondern auch wegen ihrer ähnlich coolen Erzähl­weise und ihren beiden lakonisch schwer­mü­tigen Haupt­fi­guren.

Das Genre des Spio­na­ge­films (bzw. der Spio­na­ge­li­te­ratur) war lange Zeit in seiner Erzähl­weise ein sehr diskretes. Spione mögen und machen keinen Lärm, entspre­chend unauf­ge­regt wurden solche Geschichten von den Meistern des Genres erzählt. Dann kam der Haudegen James Bond, ihm folgten immer noch hyper­ak­ti­vere Spione bzw. Spionjäger wie Ethan Hunt oder Jason Bourne nach, so dass heute bei der Verrä­ter­jagd genauso die Fetzen fliegen wie in jedem anderen Action­film. Wie schön war es da, mit Dame, König, As, Spion einen geradezu klas­si­schen Spio­na­ge­film präsen­tiert zu bekommen. Seine Erzähl­weise ist derart verhal­tenen und langsam, dass man es als Zuschauer schon fast nicht mehr gewöhnt ist. Trotzdem (bzw. gerade deswegen) wird man unwei­ger­lich in die (erfreu­lich klare und unkom­pli­zierte) Handlung hinein­ge­zogen. Das großar­tige Schau­spie­ler­en­semble überzeugt durch feine Nuancen anstelle von großen Gesten, die Bild­ge­stal­tung ist selbst in Tristes wunder­schön, der Regisseur Tomas Alfredson beweist nach So finster die Nacht ein weiteres Mal, wie man ein ausge­lutschtes Genre vom Kopf auf die Füße stellt.

Horror­filme neigen zwar oft zum Grellen, Hyste­ri­schen, Gehetzten, jedoch ist der stille Horror eine feste Größe in diesem Genre. We Need to Talk About Kevin ist ein Beispiel hierfür, und wie so oft in diesem Subgenre ist ein Kind der Auslöser für das immer tiefer krie­chende Unbehagen und Entsetzen. Geschickt schafft es der Film, zwischen verschie­denen Welten zu wandeln, mal erinnert er an vergleich­bare Horror­filme der 1960er und 1970er Jahre, dann ist er wieder ein klas­si­sches Familien- bzw. Sozi­al­drama, dann wieder eine philo­so­phisch psycho­lo­gi­sche Reflexion über das »Böse« und seinen Ursprung.

Scham ist ein hoch­pri­vates Gefühl und lässt sich nicht laut nach außen tragen (man kann schon laut die Scham von anderen einfor­dern oder einen Pranger aufstellen, der davon Betrof­fene wird aber immer die nich­töf­fent­liche im-Boden-versinken-Option wollen). Entspre­chend zurück­hal­tend erlebt man Michael Fass­bender in Shame als sexsüch­tigen Geschäfts­mann im Konflikt mit dieser Empfin­dung. Es ist dabei nicht ganz klar, um welche Scham es hier geht; um die Scham, die mit allem Sexuellen verbunden ist oder der Scham süchtig zu sein (eben nach diesem Sex) oder der Scham für ein verkorkstes Leben?
Im Inneren der von Fass­bender gespielten Figur toben emotio­nelle Stürme, doch bleibt sie und der Film nach außen hin weit­ge­hend ruhig und wahrt die (elegante) Form. Zwangs­läufig baut sich durch diese Dissonanz ein Druck auf, der sich irgend­wann Bahn brechen muss.

Kein Problem mit der Scham hat Magic Mike bei seinem »sündigen« Job als Stripper, schon eher schämt er sich, dass er es nicht schafft, ein eigenes Geschäft aufzu­bauen. Der hyper­pro­duk­tive, alle Genres und Sujets durch­pro­bie­rende Steven Soder­bergh erzählt hier eine Geschichte über männliche Stripper im heißen Süden Amerikas und über­rascht mit einem weit­ge­hend unspek­ta­ku­lären Film. Man erwartet bei einem Thema wie diesem einen offen­sicht­li­chen und aufdring­li­chen Film, tatsäch­lich zählen aber gerade Zurück­hal­tung und Gelas­sen­heit zu seinen wich­tigsten Qualitäten.

Bei der filmi­schen Alli­te­ra­tion Martha Marcy May Marlene ist von Anfang an klar, dass man es mit keinem lauten Film zu tun hat. Im zeit­li­chen Wechsel wird erzählt, wie Martha (gespielt von der mit Abstand talen­tier­testen Olsen-Schwester Elizabeth) zu einer vermeint­lich freund­li­chen, in Wirk­lich­keit aber abgrün­digen Landsekte gerät, von dieser flieht und bei ihrer Schwester und deren Mann unter­kommt, um mit dem erlebten Irrsinn klar­zu­kommen. Der Film belegt auf das Eindring­lichste, dass Unter­drü­cker, Miss­brau­cher und Zerstörer nicht immer mit lautem Kriegs­ge­schrei und martia­li­schem Gehabe auftreten. Oft kommen sie leise, mit einem Lächeln, einer ruhigen Stimme und blumigen Argu­menten, wie bei Martha Marcy May Marlene etwa die großartig von John Hawks darge­stellte Charlie-Manson-Variation des Sekten­füh­rers Patrick.

Komödien verbindet man im ersten Moment gerne mit wilder Aktion, mit Slapstick, Klamauk und brül­lenden Kalauern. Komödie kann aber immer auch ganz anders, nämlich sehr subtil, perfide und entschleu­nigt funk­tio­nieren. Ziemlich über­ra­schend stellte sich Young Adult als kleines Meis­ter­werk des zurück­hal­tenden Humors heraus, auch wenn der Film erheblich expli­ziter ist, als manch super­ele­gante (europäi­sche) Konver­sa­ti­ons­komödie.
Erfreu­lich boshaft und konse­quent werden in Young Adult die Standards der üblichen Thir­ty­somt­hings-Bezie­hungs-Lebens­krisen-Fami­li­en­heim­kehrer-Komödien unter­laufen und gebrochen und Charlize Theron kann beweisen, dass sie wirklich eine gute Schau­spie­lerin ist, ohne ganz ange­strengt gegen ihr anspre­chendes Äußeres anzu­spielen (wie etwa in Monster oder North Country).

Mit zahl­rei­chen (oft über­stra­pa­zierten) Standards brach auf sehr charmante Weise auch Oh Boy, der von einem etwas planlosen jungen Mann in Berlin erzählt. Die ewig­g­lei­chen Klischees von der Nabel­schau iden­ti­täts­kri­sen­ge­plagter Groß­stadt­be­wohner um die 40 werden hier alle nicht bedient, dafür bekommt man eine Geschichte mit leisem Humor, durch­schei­nender Tragik und großer Melan­cholie präsen­tiert. Tom Schilling spielt wunderbar unent­schlossen einen späten Nach­kommen des Fürsten Myschkin (aus Dosto­je­w­skis »Der Idiot«), der mit einer gewissen Naivität durch das Leben geht, eigent­lich nur das Gute will, von seinen Mitmen­schen aber ziel­si­cher ins Unglück geführt bzw. gestoßen wird. Betörend schöne Schwarz­weiß­bilder, präzise Figuren- und Situa­ti­ons­zeich­nung und eine geradezu traum­wand­le­risch sichere Regie (Jan-Ole Gerster), unter der selbst ein Running Gag wie die vergeb­liche Suche nach einer Tasse Kaffee nicht flach wird, machen Oh Boy zu einer Trou­vaille in der deutschen Kino­land­schaft.

Gar nicht ruhig und zurück­hal­tend waren und sind Leben und Arbeit von Mehmet Göker. Aus dem Nichts baute Göker ein enorm erfolg­rei­ches Finanz­un­ter­nehmen auf, regierte dieses in einer Mischung aus Sekten­führer, Imperator und Hard­core­ka­pi­ta­list, führte eine schil­lerndes, groß­spu­riges Leben, kam mit der Justiz in Konflikt, musste herbe Rück­schläge hinnehmen, ist aber immer noch guter Dinge. Dieses spek­ta­ku­läre Leben fasst der Doku­men­tar­filmer Klaus Stern in Versi­che­rungs­ver­treter – Die erstaun­liche Karriere des Mehmet Göker in gewohnt zurück­hal­tende Bilder und ermög­licht dadurch tiefe Einblicke in eine sonder­bare Welt, in der man sich gerne von falschen Verspre­chen, großen Gesten und glit­zerndem Luxus blenden lässt.

Wie voll­kommen anders als Mehmet Göker ist da Henryk Wichmann. Der CDU-Politiker machte keine steile, sondern eine moderate Karriere, er führt kein spek­ta­ku­läres Leben, sein Auftreten hat nichts Groß­spu­riges. Herr Wichmann lebt den bundes­re­pu­bli­ka­ni­schen Alltag, der selten drama­tisch daher­kommt, der vielmehr von lang­wei­liger Routine, nervenden Detail­fragen, Inter­es­sens­kon­flikten und profanen Alltags­pro­blemen geprägt ist. Bereits 2003 hat uns Andreas Dresen den uner­müd­li­chen Arbeiter im poli­ti­schen System der BRD im Doku­men­tar­film Herr Wichmann von der CDU vorge­stellt, nun begegnen wir ihm wieder als Herr Wichmann aus der dritten Reihe (des Landtages in Bran­den­burg) und noch eindring­li­cher als beim ersten Film über den Wahlkampf von Herrn Wichmann kann man hier erfahren, dass die aufgeregt in den Medien berich­tete Politik doch nur die Spitze des Eisberges ist, der unseren poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Alltag darstellt. Stuttgart 21 ist die (auffäl­lige) Ausnahme, Bahnhof Vogelsang ist die (unspek­ta­ku­läre) Regel.

Wem diese Auswahl an Filme zu beschränkt und / oder zu einseitig ist, der kann beruhigt sein. Das Kinojahr 2013 wird ihn wieder mit einer absurden Vielfalt und Menge an Filmen heraus- und mögli­cher­weise sogar über­for­dern.