76. Filmfestspiele von Venedig 2019
Irgendwo bei den Ringen des Neptuns |
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Sehr gelungen, sehr sehenswert: Madre von Rodrigo Sorogoyen | ||
(Foto: Le Pacte [fr], Wanda Vision S.A. [es]) |
»I'd prefer to be a bad mother, a bad friend, but a great actress.«
Catherine Deneuve als Fabienne in La vérité
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»No news good news« – so begrüßt mich die italienische Kollegin von der RAI am ersten Tag des Festivals. »Gut, dich wiederzusehen, gut dich jedes Jahr zu sehen« – das hört man gern. Tatsächlich ist Venedig inzwischen ein bisschen, wie nach Hause zu kommen. Man kennt die Wege, es gibt kleine Rituale, man fühlt sich wohl und nicht fremd.
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So etwas braucht man für die Eröffnung eines Filmfestivals: Weltstars, die über den roten Teppich schreiten, und Filme, die sehenswert sind. An beidem ist zumindest an den ersten zwei Tagen kein Mangel beim Filmfestival von Venedig: La vérité vom Japaner Hirokazu Kore-eda, der im vergangenen Jahr mit Shoplifters die Goldene Palme von Cannes gewann, führt mit Catherine Deneuve und Juliette Binoche zwei Stars zusammen, die noch nie gemeinsam in einem Film gespielt haben – trotzdem war der erste französische Film Kore-edas nicht nachhaltig beeindruckend: Deneuve, die man immer gern sieht, spielt einen Filmstar, Binoche ihre Tochter. Es gibt Film-im-Film-Szenen und überhaupt viele Kinoanspielungen. Das ist schon deshalb lustig,
weil man nicht darum herumkommt, zu überlegen, wieviel diese alles andere als abgewrackte Diva Fabienne mit ihrer Darstellerin Deneuve zu tun hat. Kore-eda weiß genau, was er tut, dadurch ist dieser Film ein sicherer Begleiter durch den Auftakt. Aber man merkt, dass Kore-eda noch nie in Europa gedreht hat und Japaner ist. Aber Gefühle lassen sich nicht so ohne Weiteres transferieren. Man wird Zeuge von viel Drama und einer freundlichen Hommage an die Filmgeschichte, aber sonst ist dies
auch nicht mehr als eben ein netter Film zum schnellen Vergessen.
Immerhin setzte La Vérité das Thema, das viele Filme der ersten Tage verbindet: Mütter und Familie.
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Manchmal hinterlässt das Festival auch Spuren in der Textgestalt. Und man sollte vielleicht doch nicht um zwei Uhr nachts noch Texte schreiben. Jedenfalls war die Folge 02 dieser Notizen auch für mich am nächsten Morgen recht unbefriedigend zu lesen, vor allem weil nicht rauskommt, wie interessant Pelikanblut von Katrin Gebbe ist, und warum. Das war bestenfalls eine »Speedkritik«,
aber ohne Speed.
Darum hier ein zweiter Anlauf. Denn diesen Film kann man nicht so schnell vergessen.
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Am Anfang sieht man Nebellandschaften, Tiere, die sich am Morgen erheben. Auf den ersten Blick Western-Bilder. Auch Nina Hoss, den starren, strengen Filmen ihres früheren Stamm-Regisseurs Christian Petzold vorerst entronnen, trägt Cowboyhut und wirkt betont frei. Sie spielt Wiebke, eine alleinstehende Frau, die einen Reiterhof leitet. Polizeipferde werden hier trainiert, und kurz fühlt man sich in eine Folge von Ostwind versetzt. Wiebke ist eine Pferdeflüstererin, die Problempferde besonders sensibel zähmt. Eine Kümmerin.
Offenbar hat sie auch einen Draht zu schwierigen Kindern. Niki, ihre Tochter ist adoptiert, jetzt will sie aus Russland noch ein zweites Mädchen holen. Aber die fünfjährige Raya stellt sich als schwer traumatisiert heraus: Ein Systemsprenger, ein Geschöpf, das sich bald als überaus schwierig entpuppt, kleinere Kinder zum
Teil schlimm drangsaliert, aber auch die ältere neue Schwester quält.
Es ist schon interessant, dass es nun im selben Jahr gleich zwei Filme von Frauen über junge Mädchen gibt, die nicht integrierbar sind.
Der Blick auf Menschen ist an der Oberfläche auch nicht so anders. Die Filme selbst aber und die Kinder sind grundverschieden.
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Denn die Zeichen, dass dieses Mädchen scheinbar das Böse in sich trägt, häufen sich: Fiese Kinderspiele, Zündeleien, tote Tiere, hysterische Mütter. Die Psychologen erklären: Raya sei schwer traumatisiert, habe weder Empathie noch Angst.
Aber auch Mutter Wiebke ist zunehmend schwerer zu verstehen in ihrem überprotektiven Eigensinn. Sie lehnt jede wohlgemeinte Hilfe ab, hält sich nicht an die Ratschläge der Wissenschaftler. Und der Film, so scheint es, möchte ihr darin recht
geben.
Wiebke will perfekt sein. Manchmal hat man den Eindruck, es gehe mehr darum, dass eine Frau, die gewohnt ist, alles zu schaffen, sich ihr Scheitern nicht eingestehen will. Alles eskaliert. Und dann ruft Wiebke eine Schamanin und an Raya wird eine Art Exorzismus betrieben – am Ende wird ein Pferdekopf auf eine Lanze gespießt werden, aber Raya scheint kuriert. Und dafür ist dem Film jedes Mittel recht, selbst das Verbrennen der Vernunft im Hexensabbat.
So ist Pelikanblut ein merkwürdiger Mix aus verschiedenen Genres und ästhetischen Zuständen, aber in jedem Fall faszinierendes Kino von hoher inszenatorischer Qualität und eine Achterbahnfahrt auf den Nerven der Zuschauer.
Offenbar ist dies auch unbedingt die Art Kino, die Ausländer aus Deutschland lieben: Voller düsterer Romantik, Phantastik, Fantasie und Extremismus, deutsche Mutter und
deutscher Wald.
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Natürlich fragt man sich da, was für ein Deutschlandbild hier getriggert wird: Eine moderne Welt, in der das Böse existiert und man an Hexen glauben muss – wie im Vorjahr in Suspiria.
Man fragt sich auch, ob man sich da selbst eigentlich wiederfindet: Im Fanatismus der Fehlerlosigkeit, des Rechthabens, der Moral. Ich kann damit wenig anfangen, und insofern ist Nina Hoss'
Figur mir sehr fremd. Vollkommen fremd ist mir auch, dass die Regisseurin offenbar an Wunder glauben will, und dass ihr Film auf philosophischer Ebene ein Einfallstor reaktionärer Dummheit ist: Eine Feier der Esoterik und des Irrationalen auf Kosten der Vernunft, und darin nicht mal ein entfernter Verwandter von Friedkins Exorcist.
Um so bemerkenswerter, dass das alles dem Film nicht
schadet. Und Gebbes implizite Frage, ob es das Böse gibt? Und wenn ja: »Was ist das Böse?« hat natürlich jede Berechtigung.
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Auch ein Mythenspiel, wenn auch ganz anderer Art, ist der neue Film des New Yorker Regisseurs James Gray.
Er heißt Ad Astra – Zu den Sternen. Es gibt einige lateinische Anspielungen oder Anspielungen auf die Kosmologie und die Entdeckung der Raumfahrt, die man im Einzelnen noch entschlüsseln muss. Sofort aufgefallen ist mir z.B., dass die Mondstation, wo Brad Pitt einen
Zwischenstopp macht, Tycho heißt, benannt nach Tycho Brahe, dem großen Astronomen.
Am Anfang gibt es ein paar Schriftzüge mit Angaben: »in the near future ... a time of hope and conflict. The promise of progress« – dann kommt der Titel: to the stars.
Am Anfang sehen wir Brad Pitt beim psychologischen Test. Er sagt ein paar Dinge, die sich als eine Art von Standardprogramm entpuppen und die sich am Ende des Films, das wissen wir aber natürlich noch nicht, wiederholen werden. Wir wissen noch nicht, dass er diesen Trip überleben wird.
I am calm, steady, active and engaged, aware of my senses, attentive. I am focused to the essential. And to the exclusion of all else.
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Einmal mehr geht es, wie so oft im amerikanischen Kino, um Väter und Söhne. Inzwischen leicht verwittert, aber immer noch blendend aussehend, spielt Brad Pitt den Sohn eines Astronautenhelden. Vor über 20 Jahren blieb er bei einer Mission verschollen, jetzt deutet plötzlich manches darauf hin, dass er noch leben könnte, irgendwo bei den Ringen des Neptun. Und so geht der Sohn auf eine Reise, die von sehr fern an ein Apocalypse Now im Weltall erinnert: Faszinierend zeigt Gray das Leben der Zukunft auf dem Mond und auf dem Mars, um die Pitt-Figur dann auf einen Trip zu schicken, in dem er dem Vater (Tommy Lee Jones) wiederbegegnen wird – um ihn endgültig zu verabschieden. Gray, der Regisseur der ödipal besessenen Söhne Amerikas (in Little Odessa oder We Own the Night) plädiert für das Loslassen der Väter – das ist eine optimistische Botschaft, die man in Amerika auch politisch beherzigen könnte.
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Das war so eines dieser Ereignisse, wie sie nur bei Festivals passieren: Ich wollte später in einen Dokumentarfilm über Imelda Marcos gehen und mir bis dahin einfach eine halbe Stunde Zeit totschlagen. Also ging ich in ein anderes Kino, weil es dort auch kühl ist und habe gedacht, ich könne mir ja mal die ersten Minuten des spanischen Films angucken. Aber dann war dieser Film doch so, dass ich noch ein bisschen blieb und dann noch ein bisschen, dann noch ein bisschen und plötzlich war die Zeit rum und ich blieb ganz drin – ich habe es nicht bereut.
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Madre von Rodrigo Sorogoyen ist ein Film über die Wiederkehr des Nicht-Verdrängten. Es geht um die Schuldgefühle einer Mutter, die ihren Sohn nicht retten konnte, der mit sechs Jahren an einem französischen Strand spurlos verschwand, sie zuvor noch angerufen hatte. Gleichzeitig hasst sie die Wirklichkeit und das Schicksal, das ihr eine private Katastrophe beschert hat. Sie hasst ihren Ex-Freund Ramon, den Vater des Jungen, der die Schuld an allem
trägt.
Zugleich ist dies auch ein Sommerfilm, der an einem Badeort irgendwo im Südwesten Frankreichs in der Biskaya spielt. Die Mutter ist zehn Jahre später zum Ort des Verschwindens des Sohns gezogen; sie hat ein leeres Leben, wenig Geld, sie arbeitet als Serviererin in einem Touristen-Cafe. Eines Tages glaubt sie ihren Sohn in Jean, einem 16-jährigen Surfer, zu erkennen. Es gibt ein paar wirklich schöne und besondere Kamera-Szenen: Manchmal läuft der Dialog parallel zu einem
Bild.
Am Anfang gibt es einen Schwenk von rechts nach links am Strand entlang auf die Mutter zu, sie erkennen wir zuerst gar nicht. Dann läuft ihr eine Gruppe von Surfern entgegen und dann ahnen wir schon, was jetzt kommt. Ihr jetziger Freund wird gespielt von Alex Brendemühl.
Der ältere Bruder von Jean sagt eines Tages zu ihr: »We'll rape you to death.« Überhaupt gibt es einige Szenen, in denen Männer als Bedrohung aufscheinen. Ein sehr gelungener, sehenswerter Film.
(to be continued)