19.05.2018
71. Filmfestspiele Cannes 2018

Mit dem Feuer spielt man nicht

Der Leopard
Nachhaltig beeindruckend: Lee Chang-dongs Burning

Cannes in Flammen: Die Wettbewerbsfilme von Lee Chang-dong, Stephane Brize und Matteo Garrone – Cannes-Notizen, 9. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»You should read before burning«
aus: »Fahren­heit 451«

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Merk­wür­dige Koin­zi­denzen in den letzten Tagen an der Croisette: Tatsäch­lich ist es sehr merk­würdig, dass das Leitmotiv des Feuers und der Selbst­ver­bren­nung hier plötzlich in gleich drei Filmen hinter­ein­ander kommt, zudem hier auch jeweils ein Mensch brennt, sogar in fünf, sechs, sieben, wenn man noch Meta­pho­ri­sches wie Spike Lees Ku-Klux-Klan-Film BlacKkKlansman und Alicia Rohr­wa­chers Lazzaro felice dazu­rechnet, oder Fahren­heit 451 außer Konkur­renz, und natürlich Ulrich Köhlers In My Room, in dem ein Haus ange­steckt wird, in dem unter anderem auch eine kürzlich verstor­bene Groß­mutter aufge­bahrt liegt.
Aller­dings nimmt die Konkre­tion dieser Feuer dann sehr unter­schied­liche Formen an.

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Lee Chang-dong ist ein sehr bewährter korea­ni­scher Autoren­filmer, der schon mehrfach mit Filmen in Cannes war, der dort und in Venedig Preise gewann – kein Unbe­kannter also. Lee kann sehr poetische Geschichten erzählen, gleich­zeitig mischt sich seine Poesie mit einem genauen und dabei unbedingt huma­nis­ti­schen Blick einer­seits auf die Menschen, ande­rer­seits auf deren Zusam­men­leben.

Sein neuer Film Burning geht auf eine Kurz­ge­schichte von Haruki Murakami zurück. Hier erzählt Lee eine Drei­ecks­ge­schichte: Im Zentrum steht Jong-soo, ein junger Mann mit schrift­stel­le­ri­schem Ehrgeiz, der durch einen Zufall Hae-mi wieder­trifft, eine alte Kind­heits­freundin. Sie verlieben sich, beginnen ein Verhältnis. Dann lernt Hae-mi einen anderen Mann kennen, Ben, der sie faszi­niert, und zum Eindring­ling in diese Freund­schaft wird. Ben wird sofort als kalter, narziss­ti­scher Yuppie charak­te­ri­siert, als reicher Schnösel. Er fährt einen schwarzen Porsche 911. Im Gespräch vergleicht ihn Jong-soo mit Gatsby.
Sie sehen sich ein paar mal, in Bens Luxus­woh­nung wird gekocht, man geht mit seinen Freunden teuer essen. Jong-soo mag ihn nicht, wahrt aber den Schein. Was Hae-mi mit ihm wirklich verbindet, ob sie auch ein Verhältnis haben, bleibt unklar. Das geht so dahin, es gibt Eifer­sucht, man glaubt eher an ein übliches Bezie­hungs­drama.
Was dann aber passiert: Eines Tages ist die junge Frau sehr über­ra­schend weg. Jong-soo versucht sie zu erreichen, aber er findet sie nicht, sie ist spurlos verschwunden. Zugleich mehren sich ganz sachte die Indizien, dass Ben vermut­lich umge­bracht hat, dass er ein Seri­en­mörder ist, der regel­mäßig Frauen tötet… Das kann aber unser Held nicht beweisen. Deswegen nimmt Jong-soo das Gesetz selbst in die Hand: Er tötet Ben und verbrennt den Porsche und die Leiche.

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Eine schreck­liche Handlung, gleich­zeitig, so paradox es klingt, ein schöner Film, der sehr viel über die korea­ni­sche Gesell­schaft erzählt, auch in beiläu­figen Eindrü­cken. Es geht nicht zuletzt um Kritik am Korea der Gegenwart, an charak­ter­li­cher und sozialer Korrup­tion, und darum, wie Korea sich von sich selbst entfremdet und viele Tradi­tionen des Zusam­men­le­bens verloren gehen – die Einsam­keit im modernen Hyper­ka­pi­ta­lismus.
Und es geht um die neu entste­henden Klas­sen­ge­sell­schaften: Denn Ben ist der Sohn aus reichem Hause, er arbeitet nicht, er will den west­li­chen Lebens­stil adap­tieren, italie­nisch kochen, Porsche fahren, einen ameri­ka­ni­schen Namen tragen.
In Hae-sis und Jong-soos Verhalten ihm gegenüber zeigt der Regisseur zwei poten­ti­elle Verhal­tens­weisen der Unter­klassen: Frus­tra­tion und unter­drückter Hass bei Jong-soo, Oppor­tu­nismus, Anbie­de­rung und Faszi­na­tion bei Hae-si, unaus­ge­spro­chener Neid bei beiden.

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Das ästhe­tisch Besondere von Burning ist zum einen der genaue Blick, zum anderen die Beiläu­fig­keit des Erzählens. Meine Seh-Erfahrung – die eben geschil­derte Handlung kannte ich ja vorher nicht – war die, dass ich mich immer wieder während des Films gefragt habe, was denn hier jetzt eigent­lich passiert?
Zum Beispiel, als die drei sich im Eltern­haus von Jong-soo treffen. Gegenüber wuchs Hae-mi auf, das Haus ist aber abge­rissen, und spurlos verschwunden. Alle drei trinken, rauchen Marihuana, aus der Musi­kalage von Bens Porsche läuft Mies Davis, und die bekiffte Hae-mi tanzt dazu in der Abend­sonne. Irgend­wann zieht sie ihr T-Shirt aus, tanzt mit nacktem Busen weiter: Verfüh­re­risch, selbst­ver­gessen. Ganz langsam wandelt sich das Strahlen ihres Gesichts in Verzweif­lung und Schluchzen…
Später unter­halten sich Ben und Jong-soo. Er würde ab und zu leer­ste­hende Gewächs­häuser anzünden, sagt Ben, alle zwei Monate. Das Gespräch, das zunächst nur die Gleich­gül­tig­keit und Launen­haf­tig­keit des Zynikers Ben zu illus­trieren scheint, wird später erst als Metapher einer boshaf­teren Wahrheit, als Geständnis Bens, erkennbar.

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Als Hae-mi dann verschwindet, geschieht auch dies beiläufig: Jong-soo erreicht sie nicht. Man denkt sich nichts dabei, auch als das eine Weile so geht, denkt man, sie taucht nur ab, weil sie sich gestritten haben: »Die kommt schon wieder« – tut sie eben nicht.
Das alles, auch diese schmerz­hafte Erkenntnis erleben wir mit den Augen der Haupt­figur; mit Jong-soos Augen der Haupt­figur sammeln wir – sozusagen detek­ti­visch – kleine Indizien: Hae-sis Uhr in Bens Bade­zim­mer­schub­lade. Bens Katze, die auf den Namen von Hae-sis Katze hört. Das wissende Lächeln auf Bens Gesicht: Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, das du weißt… Der unter­drückte Hass findet keinen Ausweg, aber Jong-soo ist auch keine Maus, mit der Benn wie eine Katze spielen kann.
Der Film ist auch ansonsten sehr genau erzählt und beob­achtet, über Objekte wie das Feuerzeug von Ben, das dieser am Abend vor Hae-sis Verschwinden bei Jing-soo vergisst, und das am Ende das Feuer entzünden wird, sowie über die Beschrei­bung von Orten, Wohnungen, Zimmern.

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Bei Hae-si Tanz im Sonnen­un­ter­gang läuft Miles Davis' Musik von Fahrstuhl zum Schaffott – toll! Und im Rückblick natürlich bewusste Prophetie des Regis­seurs oder gar ein zynischer Witz von Ben.

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Ein ungemein cooler Film! Mein erster Gedanke nach dem Screening: Der gewinnt nix. Jetzt bin ich mir nicht mehr ganz so sicher.
Der Film und seine Figuren sind überdies derart offen, dass jederzeit alles passieren kann. Man hält es sogar für möglich, dass ganz am Schluss Hae-si plötzlich wieder auftaucht, und Jong-soo einem bitteren Irrtum, einer Hass-Paranoia erlegen ist.
Was ist die Moral des Films über Obses­sionen? Zum einen: Man will sich manchmal einfach rächen, will einfach bestrafen. Es gibt das Gefühl: Der soll nicht leben. Der soll nicht glücklich sein.
Zum zweiten: Männliche Verun­si­che­rung und male rage. Am Frei­tag­abend dachte ich nach Nuri Bilge Ceylans Drei­stun­den­film, dass dessen junger Schrift­steller Jong-soo verblüf­fend ähnelt. Auch der kehrt ins Eltern­haus zurück. Auch der hat Probleme mit dem Vater, der ihm peinlich ist – in Burning steht der chole­ri­sche Vater vor Gericht und wird wegen Wutaus­bruchs zu achtzehn Monaten Haft verur­teilt. Und natürlich bricht am Ende bei auch Jong-hoo unter­drückte Wut aus.
Der Mörder Ben hingegen ist hilflos, ist rettungslos indif­fe­rent, kann nicht connecten. Er wirkt wie eine korea­ni­sche Ausgabe von Patricia High­s­miths Ripley.

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In einem Gespräch von vier Ameri­ka­ne­rinnen lauschend höre ich, dass sie die Frau­en­figur nicht mögen, weil sie zu sexy sei. Warum finden die Leute, wenn eine Frau sexy ist, sie blöd?

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In En guerre von Stephane Brizé geht es zunächst mal um das innere Feuer. Der Titel heißt »im Krieg«, aber es schwingt auch das englische Wort »Anger« mit, also Wut.
Das gibt die Richtung vor: Das Erregungs- und Inten­si­täts­level in diesem Film liegt permanent bei 120 Prozent, es wird unter­bro­chen geschrien, geprügelt und geflucht. Eine Firma wird geschlossen und zwar von deutschen Heuschre­cken. Plötzlich stehen über 1000 Leute auf der Straße und wollen das nicht mitmachen, sie verweisen auf Verspre­chungen, die von der Arbeit­ge­ber­seite gemacht und nicht gehalten wurden. Die Realität des Marktes und die Verspre­chen der Vergan­gen­heit. Nun streiken sie.
Charis­ma­ti­sches wie mora­li­sches Zentrum ist dabei der von Vincent Lindon verkör­perte kommu­nis­ti­sche Arbei­ter­führer Eric. Ihn als einzigen lernt man näher und ein wenig privat kennen. Man sieht dieses soziale System »Gewerk­schaft im Streik«, die Arbeiter permanent beim Demons­trieren und Verhan­deln, Privates und Psycho­lo­gi­sches fehlt – eher glaubt man einer natu­ra­lis­tisch-posi­ti­vis­ti­schen Lang­zeit­be­ob­ach­tung in langen Einstel­lungen und einer Gebrauchs­ab­lei­tung zum Streik zu folgen. Das Ganze entwi­ckelt sich: Zäh, konse­quent, immer auf einem sehr hohen Wut-Level, es werden Streik­bre­cher verspottet, Verhand­lungen geführt. Arbeits­kampf ist ein mühe­voller, ein quälender Prozess und in diesem Fall auch für den Zuschauer quälend: Denn als der Streik nach Monaten scheitert – greift Eric zum dras­ti­schen aller möglichen Mittel: Er zündet sich selbst an!
Mit 20 Minuten Standing Ovations belohnte das Premie­ren­pu­blikum diesen auto­ag­gres­siven Schluß­ak­kord in einem inhalt­lich depri­mie­renden, formal sehr einsei­tigen Film – der aber offenbar zumindest in Frank­reich den Nerv der Zeit trifft, und schon daher durchaus zu den erwei­terten Palmen­fa­vo­riten gehört. Ich hatte das Gefühl bei diesem ungelogen zwanzig Minuten langen Applaus, dass hier die Wut auf erleich­ternde Weise sich entladen kann, indem man diesen Film sieht, gewis­ser­maßen als Stell­ver­treter für die eigenen Gefühle.

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En guerre ist wie ein Ken-Loach-Film und zwar ein sehr schlechter Ken-Loach-Film aus Frank­reich. Mit agita­to­ri­scher Musik, Heroi­sie­rung, lauter Wut, Inten­sität, Propa­ganda.
Für mich ist das ein sehr unklarer Film. Möchte Brizé uns depri­mieren, uns vermit­teln: »Streiken lohnt sich nicht«? Wohl kaum. Also sollen Arbeiter jetzt den Selbst­mord als Mittel einsetzen?

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Dann kam Dogman von Matteo Garrone. Dazu muss man wissen, dass von Garrone der Film Gomorrah stammt. Wie dieser ist auch Dogman ein Mafiafilm eigener Art, keiner mit gnadenlos eleganten Böse­wich­tern. Hier geht es eher um die schmud­de­lige Seite der Mafia, die südita­lie­ni­sche, arme Variante der Mafia. Bei ihr sind vor allem die Underdogs der Gesell­schaft, die Unter­schichten invol­viert, sozial-schwachen Verhält­nisse – Mafia meint ja nicht nur Menschen, sondern auch Struk­turen. Edle Anzüge trägt deshalb hier keiner. Manchmal haben die Menschen ein zusam­men­ge­rolltes Geld­bündel in der Hand, oder ein Päckchen Kokain versteckt in der Tasche
Die Haupt­figur heißt Marcello. Der kümmert sich rührend um die Tochter und verdient sein Geld auf anstän­dige Weise: Mit einem Hundeshop für zuge­lau­fene Tiere, als Hunde­sitter, etc. Hier merkt man schnell, wie sensibel er ist, dass er ein Herz hat, eine schwache Seite für Hunde, um die er sich rührend kümmert.

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Wichtiger ist: Es gibt einen Mensch, der auch eine Art Tier ist: Simone, der junge Mafia-Boy des Viertels, ein Schläger und Tauge­nichts. Er trietzt alle, ärgert alle, bricht alle denkbaren sozialen Regeln. »A loose cannon.«
Die Männer des Ortes sitzen dann irgend­wann einmal beim Wein zusammen und sagen: »›Sooner or later, someones gonna kill him. Wir müssen ihn umbringen lassen‹ – so wird da geredet.
Marcello – ›Come with us. Its an easy job.‹ – wird rein­ge­zwungen in einen krimi­nellen Akt. Tatsäch­lich wird er dann erwischt, muss die Haft­strafe stell­ver­tre­tend für Simeone verbüßen – als er dann wieder heraus­kommt, ist sein bishe­riges Leben kaputt. Nun will Marcello wenigs­tens Geld bekommen, eine Entschä­di­gung von Simeone. Als er das nicht bekommt, sondern weiterhin dessen Opfer wird, rächt er sich.
Zunächst sitzt Simeone irgend­wann in einem Hundekäfig. Dann bricht er aus, und unter einer Verket­tung von Umständen (sind sie ›unglück­lich‹?) kommt es dazu, dass Simone stirbt und tot in Marcellos Laden liegt. Die Leiche muss dann verschwinden, sonst kommt unser Dogman ja wieder ins Gefängnis – und was macht man mit einer Leiche, die in Südita­lien verschwinden muss? Man verbrennt sie.«

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Ein Film über Zwangs­lagen. Beacht­lich, wie Garrone in fünf Minuten ein Milieu skizziert – das gelingt Brizé im ganzen Film nicht, da kann er sich einiges abschauen. Am Schluss eine minu­ten­lange Groß­auf­nahme von Marcellos Gesicht

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Es gibt Filme, die gewinnen über die Tage, es gibt Filme, die verlieren. Burning wird immer stärker, Dogman zerfällt beim Schreiben in seine Bestand­teile. En guerre war schon immer schlecht.

(to be continued)