27.05.2014
67. Filmfestspiele Cannes 2014

Sophia Loren und der Neorea­lismus des Lebens

Hochzeit auf italienisch
Nur Klischees? Sophie mit großem Decollté, in Hochzeit auf italienisch
(Foto: Interfilm)

Fahrraddiebe: Die Verteidigung des Nutzlosen, Go-Go-Boys, und die Schule des Starbetriebs – Cannes-Notizen, fünfte Folge

Von Rüdiger Suchsland

»You live and you suffer«
Antonio Ricci, in Fahr­rad­diebe

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In David Cronen­bergs Maps to the Stars wird eine Schau­spie­lerin mit einer Oscar­statue erschlagen – die Zuschauer applau­dieren zumindest innerlich, weil sie zuvor ihre Assis­tentin brutal gede­mü­tigt hat. In Relatos salvajes fliegt eine staat­liche Behörde in die Luft. Bei Godard in seinem neuen Film Adieu au langage erklingt an durchaus entschei­dender Stelle Pino Masis gesungene Auffor­de­rung zum Wider­stand (La caccia alle streghe), die den Refrain »Violenza, violenza« hat.

Die Lust auf grund­sätz­li­chen Wider­stand gegen die Verhält­nisse nimmt zu, die Bereit­schaft auch, im Kino Sympathie für Gewalt zu zeigen. Erkennbar fällt denn Leuten auf der Leinwand wie hinter der Kamera nichts anderes mehr ein, als Gesell­schafts­feinde und böse Kapi­ta­listen zumindest virtuell umzu­bringen, Banken und andere insti­tu­tio­na­li­sierte Feinde des Gemein­wohls in die Luft zu sprengen.

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Eine zentrale poli­ti­sche Frage, der auch hier in Cannes täglich in den Gesprächen der Festi­val­be­su­cher auftaucht, und an dem sich die Freiheit Europas, nicht zuletzt auch den europäi­schen Kinos entscheiden wird, ist das soge­nannte »Frei­han­dels­ab­kommen« (TTIP) zwischen der EU und den USA. Hinter dem Wort verbirgt sich de facto eher ein Angriff auf die Freiheit und die europäi­sche Zivi­li­sa­tion, dort, wo sich noch nicht restlos von den USA und dem american way of life kolo­nia­li­siert wurde.

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Das geplante Abkommen TTIP dient den Inter­essen der Konzerne und nicht uns Bürgern. Was unter anderem gegen TTIP spricht: TTIP höhlt Demo­kratie und Rechts­staat aus: Auslän­di­sche Konzerne können Staaten künftig vor nicht öffent­lich tagenden Schieds­ge­richten auf hohe Scha­den­er­satz­zah­lungen verklagen, wenn sie Gesetze verab­schieden, die ihre Gewinne schmälern. TTIP unter­gräbt die Freiheit: Es droht noch umfas­sen­dere Über­wa­chung und Gängelung von Inter­net­nut­zern. Exzessive Urhe­ber­rechte erschweren den Zugang zu Kultur, Bildung und Wissen­schaft.

Last not least: TTIP ist praktisch unum­kehrbar: Einmal beschlossen, sind die Verträge für gewählte Politiker nicht mehr zu ändern. Denn bei jeder Änderung müssen alle Vertrags­partner zustimmen. Die Bundes­re­pu­blik allein könnte aus dem Vertrag auch nicht aussteigen, da die EU den Vertrag abschließt.

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»Wenn ich mal nicht weiter weiß, gründe ich nen Arbeits­kreis« – die alte Regel des Poli­tik­be­triebs befolgt auch die SPD in dieser Frage. Bundes­wirt­schafts­mi­nister Sigmar Gabriel hat jetzt so etwas ins Leben gerufen. Sein Beirat ist plural besetzt. Ihm gehören Unter­neh­mer­ver­treter wie der BDI-Chef Ulrich Grillo und der IHK-Chef Eric Schweitzer an. Von Gewerk­schafts­seite sind Ver.di-Chef Frank Bsirske und der IG-Metall-Vorsit­zende Detlef Wetzel vertreten. Neben Verbands­ver­tre­tern, etwa aus der Ökoland­wirt­schaft, zählen auch Edda Müller (Trans­pa­rency Inter­na­tional) und der Künstler Klaus Staeck zu dem Gremium.

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Es gibt also einen Kampf der Demo­kra­tien. Hinter den vier kleinen Buch­staben versteckt sich der mögliche Untergang der europäi­schen Kultur. Die deutsche Kultur­szene, auch wir Cinephile und Blogleser, täten gut daran, endlich aus unserem Schlaf zu erwachen und geschlossen gegen den trans­at­lan­ti­schen Ausver­kauf die Stimme zu erheben, zu wählen, zu demons­trieren.

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»There is no crisis in cinema. There are negative periods. There are times when some films are received well and others aren’t. The past teaches us that some films were received badly, while others go sailing on. ... Let tele­vi­sion do tele­vi­sion, let them do docu­men­ta­ries, but cinema as such should be shown on screens, because there’s no one more lazy than the public.«
Vittorio de Sica

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Sophia Loren stellt noch immer alle in den Schatten: Ob Julianne Moore, Mia Wasi­kowska oder Robert Pattinson, um mal nur einige zu nennen, die in den letzten Abenden über den roten Teppich von Cannes flanierten. Allen­falls die Anwe­sen­heit vom aller­neu­esten Damen­schwarm, dem Ameri­kaner Ryan Gosling provo­zierte ähnliches Fan-Geschrei und -jubel, später aller­dings auch heftige Pfiffe. Gosling stellte in der Sektion Un Certain Regard nämlich seine erste Regie­ar­beit vor, und um Lost River für einen guten Film zu halten, musste man schon ein echter Fan sein.

Die Loren dagegen wird in diesem Jahr für ihr Lebens­werk geehrt. In der Klassiker-Schau stellte sie den frisch­re­stau­rierten Hochzeit auf italie­nisch von Vittorio de Sica vor, in dem sie an der Seite von Marcello Mastroi­anni einen glanz­vollen Auftritt hat. Und zur anschließenden Wett­be­werbs-Premiere kam sie als »einfache Zuschauerin« und stellte in der Gunst der Paparazzi selbst Frank­reichs Star Marion Cotillard in den Schatten. In einer Master­class wird sie dann noch über ihr Leben im Schein­wer­fer­licht berichten – Lorens Schnell­kurs in der alten Schule des Star-Glamours riss zur Halbzeit des Festivals auch hart­ge­sot­tene Cinephile mit.

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»I consider Sophia a great... a good actress and a great perso­na­lity. Because she is a Neapo­litan. Like me.«Vittorio de Sica

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Am Mittwoch wollte sich Violeta aus Barcelona im Salle Debussy hinsetzen, doch wenige Sekunden zuvor warf eine italie­ni­sche Kriti­kerin über drei Sitze noch schnell einen Rucksack auf den Platz, um ihn für Kollegen zu reser­vieren, die noch gar nicht da waren. Ein kurzer Blick­wechsel – dann nahm sie den Rucksack weg, lächelte schüch­tern und sagte: »I feel ashamed. Cannes brings our worst parts out of us...«

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»Shit, ich glaube die haben mein Fahrrad gestohlen!« rief Martina am Morgen nochmal an. Es folgten drei Stunden Polizei und über 200 Euro Kaution waren auch futsch. Am nervigsten: Es ist ganz gut möglich, dass der Verleih seine eigenen Fahrräder auf diesem Weg nachts wieder einsam­melt und sich auf diese Weise ein Zubrot verdient und ein zweites mit dem Geld der Versi­che­rung. Denn das Festival ruft viel­leicht auch bei den Einhei­mi­schen die schlech­testen Eigen­schaften hervor.

Das alles war natürlich nicht lustig, aber es passt dann doch ganz gut zu einem Film­fes­tival – denn auch das Leben ist manchmal neorea­lis­tisch. Und aus Vittorio de Sicas Film wissen wir schließ­lich, dass Schwarz und Weiß manchmal täuscht, dass Grau in Grau der Wahrheit näher kommt, und dass manche Fahr­rad­diebe ihre sehr guten Gründe haben, Fahrräder zu stehlen, oder einfach Not leiden. Was die Sache nicht unbedingt besser macht, aber wenn wir uns jetzt mal vorstellen, dass der Dieb nicht ein böser versi­che­rungs­be­trü­gender Fahr­rad­ver­leih war, sondern ein Bruder im Geiste von Antonio Ricci, dem Film­helden bei de Sica, dann geht es einem gleich besser. Kino, auch das ist eine neorea­lis­ti­sche Einsicht, kann trösten, selbst außerhalb des Kinosaals.

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Cannes ist sowieso ein fast italie­ni­scher Ort im Guten wie im Schlechten. Früher gehörte es mal zu Italien, man spricht von der »fran­zö­si­schen Riviera«, und außer Sophia Loren und italie­ni­schen Filmen, ziert diesmal das Festi­val­plakat Marcello Mastroi­anni in voller Schönheit. Cannes, das ist italie­ni­sches Frank­reich, so wie auch das Festival von Locarno viel­leicht nicht zufällig in der italie­ni­schen Schweiz statt­findet.

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Außer dem Wett­be­werbs­bei­trag Le mera­vi­glie von Alice Rohr­wa­cher, den ich am Wochen­ende nachholen muss, gibt es hier nur einen italie­ni­schen Film: Incom­presa von Asia Argento. Der war bei aller Liebe zur Regis­seurin, leider eine Enttäu­schung. Argento kann großartig Kinder insze­nieren und hat viel Sinn für Pop-Glamour und Musik, aber das ist es dann eben auch.

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Alles spielt 1984 in einer dysfunk­tio­nalen Familie, und ist in einem Candy-bunten Comic Stil erzählt. Die Haupt­figur ist ein 9-jähriges Mädchen aus Rom namens Aria, der Vater ein berühmter Schau­spieler, die Mutter Künst­lerin und Hippie und jetzt kann sich jeder selbst überlegen, ob das irgend­etwas auto­bio­gra­phisch mit der Regis­seurin zu tun hat, deren Vater ein berühmter Filme­ma­cher war, die Mutter Hippie und Schau­spie­lerin und die 1984 neun Jahre alt war, in Rom aufwuchs und mit zweitem Vornamen Aria heißt.

Die Mutter wird in diesem Fall von Charlotte Gainsburg gespielt, die reichlich voll­ge­dröhnt und verpeilt wirkt, was viel­leicht ja wirklich nur gut gespielt ist, aber im Film mag man sie kaum angucken. Toll dagegen Giulia Salerno in der Haupt­rolle. Argento entwirft ein Traum­reich der Kindheit mit schlechten eigen­süch­tigen Eltern, die getrennt sind und sich nicht um ihre Kinder kümmern, auch wenn ein kleiner Selbst­mord­ver­such Wunder bewirkt. Aria schreibt in der Schule die besten Aufsätze, hat eine beste Freundin, mit der sie sogar zusammen aufs Klo zum kotzen geht. Sonst allerlei Girls-Stuff, denn unser­einer gern sieht und sofort glaubt. Auch wer ein bisschen älter ist, hat Spielchen gespielt, wie Post klauen und öffnen, Nachbarn anrufen und zur Polizei schicken. Aber alles trägt nicht weit, ist nett anzusehen – kann aber in der Reizü­ber­flu­tung nach einer Woche Festival keinen eigenen Reiz mehr entfalten.

Ein paar nette Szenen, wie eine Punk-Verwüs­tung der Eltern-Wohnung sind alles was von dieser Geschichte eines unglück­li­chen Mädchens im Gedächtnis bleibt, das sich am Schluß dann wirklich vom Balkon stürzt, und wie Schnitz­lers »Fräulein Else« in einem unklaren Zwischen­stock­werk zwischen Tod und Leben den Film beendet.

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Ein weib­li­cher Don Quixote, allein gegen die ganze Welt: Nira ist eine junge Kinder­gärt­nerin und liebt Poesie. Eines Tages bemerkt sie, dass Yael, eines der von ihr betreuten Kinder, wie selbst­ver­s­tänd­lich dichtet. Offen­sicht­lich eine Natur­be­ga­bung. Der Junge wird aber von seiner Umgebung und den auf begabte Kinder kaum einge­stellten Insti­tu­tionen nicht zurei­chend gefördert, und darum beschließt die junge Frau, sich auf eigene Faust des Kindes anzu­nehmen.

Nadav Lapid, einer der begab­testen Nach­wuchs­re­gis­seure des israe­li­schen Kinos, erzählt diese Geschichte – in seinem zweiten Spielfilm The Kinder­garden Teacher, der in Cannes seine Premiere feierte. Der Film lief aber nicht im Wett­be­werb, sondern in der Sektion Semaine de La Critique. Wie es sich anfühlt, wenn man Preise gewinnt, weiß Lapid bereits: 2011 gewann er den Silbernen Leopard bei den Film­fest­spielen von Locarno für sein Spiel­film­debüt Ha-shoter (Policeman). »Mir ging es um die Vertei­di­gung der nutzlosen Dinge« erzählte Lapid im Vorab-Interview: »Poesie verwei­gert sich den Zwängen des Ökono­mismus«. Sein Film erzähle auch von einem Mysterium, denn wie ein 5-jähriger dazu komme, Gedichte zu erfinden, sei uner­klär­lich. Der Film sei sogar zu Teilen auto­bio­gra­phisch: »Im Alter zwischen 4 und 7 Jahren schrieb ich etwa 100 Gedichte« behauptet er. Obwohl Policeman, der auch in Deutsch­land startete, auf den ersten blick sozial-realis­ti­scher wirke, als diese Fabel, sieht der Regisseur große Ähnlich­keiten zwischen beiden Werken: »Beide Filme handeln von jungen Frauen, die sich im Krieg mit der 'Welt wie sie ist' befinden.« Auf origi­nelle Weise fasst der Film eine sympa­thi­sche Botschaft in Bilder: Die Poesie an die Macht!

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Insgesamt sechs israe­li­sche Filme liefen in Cannes, noch ein zweiter in der Semaine: Self-Made (Boreg) von der 1971 geborenen Shira Geffen. Der Film erzählt die Geschichte zweier Frauen, einer Israelin, einer Paläs­ti­nen­serin, deren Leben nichts mitein­ander gemeinsam hat. Eines Tages kommt es an einem Gren­zü­ber­gang zu einer folgen­schweren Verwechs­lung – plötzlich muss jede der jungen Frauen das Leben der anderen leben.

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Eine tolle Geschichte war die von Menahem Golan und Yoram Globus. Die beiden überaus unglei­chen Cousins, die in Israel in armen Verhält­nissen aufge­wachsen waren, wollten diesem Leben mit aller Kraft entkommen und wagten die unge­wissen Reise ins Gelobte Land – die USA der späten Sechziger. Das ameri­ka­ni­sche Film­stu­dio­system war gerade am Boden, und das so hoch­be­gabte wie geschäft­s­tüch­tige israe­li­sche Duo wurde eher durch Zufall zu Begrün­dern des Hollywood-Studios Cannon Films und damit einer Variante des ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Kinos. Sie produ­zieren Billig-Filme, darunter Schlüpf­riges und Schrilles, verdienten in den 80er Jahren mit Chuck Norris und Charles Bronson-Filmen viel Geld, und verant­wor­teten den 80er-Hit Fool for Love. So rollten sie Hollywood gewis­ser­maßen von unten auf: Eine sehr persön­liche Variante des »American Dream«. Irgend­wann waren Golan und Globus so bekannt und reich, dass sie sogar mit der Queen von England verkehrten. Inzwi­schen ist es um die beiden stiller geworden. Hilla Medalia’s Doku­men­tar­film The Go-Go-Boys, der in den »Cannes Classics« gezeigt wurde, erzählte die unge­wöhn­liche Geschichte der Cousins. Die israe­lisch-ameri­ka­ni­sche Regis­seurin war bisher für schwerere Kost bekannt: To Die in Jerusalem handelte 2007 von Selbst­mord­at­ten­tä­tern, Dancing in Jaffa erzählt von Tanz­un­ter­richt in den besetzten Gebieten – ein Film, der um die Welt ging. The Go-Go-Boys bot eine nost­al­gi­sche Reise in die Vergan­gen­heit des Kinos – die Gegenwart erscheint demge­genüber natürlich weniger roman­tisch, und viel viel unsi­cherer.