West Side Story

USA 2021 · 157 min. · FSK: ab 12
Regie: Steven Spielberg
Drehbuch:
Musik: Leonard Bernstein, Stephen Sondheim, David Newman
Kamera: Janusz Kaminski
Darsteller: Ansel Elgort, Rachel Zegler, Ariana DeBose, David Alvarez, Mike Faist u.a.
Doppelte Feier der Familie
(Foto: Disney)

Antiquarische Fingerübung

1961 2.0: Steven Spielbergs Remake der »West Side Story« ist sehr schön, sehr klassisch und komplett überflüssig

Ein Junge liebt ein Mädchen. Das Mädchen liebt ihn zurück. Beide stammen aus verschie­denen, mitein­ander verfein­deten Gesell­schafts­gruppen, doch sie kümmern sich nicht darum; ihre Liebe soll eine Brücke zwischen beiden schlagen. Das gelingt, doch erst im Tod, erst um den Preis, dass Blut fließt...

Diese Liebe zwischen Maria und Tony ist klas­si­scher Kinostoff. Roman­tisch, melo­dra­ma­tisch, gutge­launt und traurig. Und gekleidet in zauber­hafte Musik.

Zugleich war die Verfil­mung von Leonard Bern­steins Broadway-Hit 1961 ein Manifest der damaligen Jugend­kultur, der »halb­starken« Rebellen im Geiste James Deans, das ein paar Jahre vor 1968 eindeutig Partei nahm für die Unzu­frie­den­heit der Jungen mit der wohl­tem­pe­rierten, forma­tierten Welt der Alten.

Sie war auch ein einziges »Fashion Statement«, so künstlich, dass es eine höhere Realität verkör­perte. Gedreht auf den Straßen von New York – was man sah. Insgesamt die unglaub­liche, großar­tige Moment­auf­nahme einer Epoche, die für immer verloren ist; ein Studi­en­ob­jekt für Histo­riker bis hin zu den Turn­schuhen, die die Straßen­banden tragen.

Es wer eben kein – auch kein histo­ri­scher – Realismus, sondern Hyper­rea­lität: In der West Side Story machen die Farben, was sie wollen. Sie sind selbst Akteure. Es gibt keine Schlä­ge­reien, sondern Tänze.

Die Poli­zisten heißen Schrank und Kruppke – bei diesen Namen dachte jeder 1961 an Nazi-Schergen. Bemer­kens­wert in der Geschichte ist auch die latente Über­le­gen­heit der Einwan­derer-Sharks über die Redneck-Jets. So war dies ein Film, die Jugend­ri­tuale der Rand­schichten ins Zentrum rückte, der die Gangs und ihre Rituale nicht als verlorene Indi­vi­duen, sondern als urbane Stämme mit ihren Riten schil­derte, der endlich einmal die Polizei der Moderne als repres­sive, einschüch­ternde Kontroll- und Diszi­plinar-Behörde zeigte.
Der aller­dings auch sozio­ö­ko­no­mi­sche Verhält­nisse – Arbeit? Die Eltern und Lebens­ver­hält­nisse der Jugend­li­chen – komplett (!) ausblen­dete. Und insofern fast genauso reak­ti­onär war, wie das übrige liberale Amerika.

Von alldem bleibt heute vor allem die Musik lebendig. Sie entfaltet unge­bro­chen ihren Zauber. In den Liedern der West Side Story hallt das »Ameri­ka­ni­sche Jahr­hun­dert« nach, wie kaum in einem Hollywood-Musical. Erin­ne­rungen an eine vergan­gene Zukunft.

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»'Romeo und Julia' zwischen den Hoch­haus­schluchten von New York« – das war die schlichte Grundidee von Leonard Bern­steins West Side Story, die 1957 zu einem Über­ra­schungshit am Broadway wurde, und bis heute als eines der besten Musicals aller Zeiten gilt. Dieses Musical erzählt eine univer­sale Geschichte, und dies in einer Fülle großar­tiger Kompo­si­tionen, viele von ihnen Meilen­steine der Genre-Geschichte.

Jetzt hat, genau 60 Jahre nach der Premiere von Robert Wise' erster gefei­erter und vielfach Oscar-gekrönter Verfil­mung, Holly­woods Altmeister Steven Spielberg das Musical neu verfilmt – als nost­al­gi­sche, dem Vorbild sehr stark verpflich­tete Hommage.

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Immer wieder 1961. Wir kommen nicht herum um den Vergleich der beiden Verfil­mungen! Ob es die großen Lieder sind: »Tonight« oder »Maria« oder »I want to be in America«. Oder ob es die Kämpfe sind zwischen den Jets und den Sharks. Oder die Kulissen, die Steven Spielberg in seiner Neuver­fil­mung viel mehr einsetzt als sein Vorgänger. Ob es berühmte Sequenzen sind, wie etwa jene Einlei­tungs­szene, in der 50 Jahre vor der ersten Drohne eine Kamera senkrecht über den Straßen­zügen von New York entlang flog.

Steven Spielberg hat diesen Vergleich selbst gewollt. Er hat ihn provo­ziert. Denn sein Remake der genau 60 Jahre alten »West Side Story« ist im Prinzip nur eine Kopie. Es ist keine Variation, kein virtuoses Spiel mit den Motiven, keine auch nur leichte Verschie­bung der Perspek­tiven, schon gar keine neue Inter­pre­ta­tion – egal ob unter revi­sio­nis­ti­schen oder nost­al­gi­schen oder iden­ti­täts­po­li­ti­schen Vorzei­chen.

Alles das und vieles mehr wäre möglich gewesen; nichts davon macht Spielberg.

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Spiel­bergs »West Side Story 2021« ist eine respekt­volle Hommage voller Liebe fürs uner­reich­bare Vorbild, eine nost­al­gisch-anti­qua­ri­sche Wieder­auf­er­ste­hungs­ü­bung; in sehr klas­si­schem Stil, fehlerlos, aber unin­spi­riert.

Natürlich gibt es ein paar Zuge­ständ­nisse an den poli­ti­schen Zeitgeist – anders hätte auch Spielberg diesen Film gar nicht reali­sieren können. Aber im Prinzip ist er vor allem daran inter­es­siert, nichts Wesent­li­ches zu verändern.

Damit tritt die entschei­dende Differenz aber nur um so deut­li­cher hervor: Denn damals, als 1961 Robert Wise das Musical verfilmt hat, war der Stoff gerade vier Jahre alt. Also pure Gegenwart! Er war in der damaligen Zeit ange­sie­delt, erzählte von ihr in deren Stil, chan­gierte zwischen Gesell­schafts­kritik und Sozi­al­ro­mantik.

Dieser Film nun macht das nicht, er spielt irgend­wann in den 50er Jahren, ist also keine West Side Story 2021 die zum Beispiel zwischen Schwarzen und Weißen, Juden und Moslems, unter Asiaten, Arabern und Russen statt­findet, zwischen Mafia­gangs und Piraten, Web-Nerds und Trum­pisten, Geistern und Vampiren, die »Black Lives Matter« kommen­tiert, oder US-Bezie­hungen zum Iran, Sexismus, oder Narco-Banden, oder Homo­phobie, oder Esoterik.
Man hätte sich auch eine Verfil­mung denken können, die sich komplett von den thea­tra­li­schen Wurzeln der Vorlage löst und die Möglich­keiten ausschöpft, die der Hand­lungs­kern und die außer­ge­wöhn­li­chen Songs bieten.

Spielberg wählte die ödeste, unin­spi­rier­teste aller Möglich­keiten und dreht eine »Version 1961 2.0«. Er scheint im Prinzip vor allem daran inter­es­siert, in die Haut von Robert Wise zu schlüpfen – den manche Film­kri­tiker schon vor Jahren eher zu Unrecht als den Spielberg seiner Zeit bezeichnet haben.

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Natürlich hat es das in der Kunst­ge­schichte immer gegeben: Viele Künstler haben ihre Version des Garten Eden, der Kreuz­ab­nahme, der Salome oder der Venus gemalt. Die Film­ge­schichte ist auch keine Fort­set­zung der Malerei mit anderen Mitteln, so wenig wie des Romans. Und die mittel­al­ter­li­chen oder früh­neu­zeit­li­chen Zeiten, in denen man einen fest­ste­henden Kanon beliebig zitieren konnte, sind vorbei. Aber schon vor hunderten von Jahren ging es auch den Malern darum, ein Motiv zu variieren, und nicht abzumalen.

Leider fügt sich dieser Versuch in die äußerst unein­heit­liche und erra­ti­sche jüngere Filmo­gra­phie von Spielberg. Man erinnere sich nur an mittel­mäßige Werke wie Die Abenteuer von Tim und Struppi (2011), War Horse (2011), Lincoln (2012). Die Ausnahme bildet der über­ra­schende Ready Player One (2018).

Formal betrachtet passt West Side Story 2021 zum ideo­lo­gisch-ethischen Horizont Spiel­bergs, seinem Glauben an die poli­ti­sche Religion des Ameri­ka­ni­schen Traums – in seinem mit Film­zi­taten gespickten Huma­nismus und der doppelten Feier der Familie, sei es der biolo­gi­schen oder der Bande der Freunde.

Umgekehrt ist es natürlich auch albern, jetzt gerade diesem Stoff vorzu­werfen, dass es verein­facht und Klischees repro­du­ziert. Musicals waren noch nie Doku­men­tar­filme. Sie stützen sich sehr oft auf Stereo­typen, um eine größere, allge­mei­nere Aussage zu formu­lieren, als sie es könnten, wenn sie sich auf spezi­fi­sche, tatsäch­liche Merkmale konzen­trieren würden. Ohne Stereo­typen gäbe es keine Musicals. Auch die Jets sind stereo­ty­pi­siert, und im Ausgangs­ma­te­rial von Shake­speare sind es auch die Veroneser.

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Die alles entschei­dende Frage lautet: Warum? Warum macht man überhaupt diesen Film? Gerade jetzt, in einer Zeit, in der das Kino exis­ten­ziell gefährdet ist. In der es neue, womöglich stärkere Reize braucht, in der es visuelle Kicks und Schocks braucht, um gegen die Anfech­tungen der Streaming-Dienste und gegen unser aller Müdigkeit in der Pandemie zu bestehen.
In der man die Menschen zum Kino verführen und verlocken müsste.

Kaum einem hätte man diese Verfüh­rungs­leis­tung eher zugetraut, als Steven Spielberg, dem großen Märchen­er­zähler und Versöhner des Kinos, zugleich einem der inno­va­tivsten Regis­seure Holly­woods während des letzten halben Jahr­hun­derts.
Dutzende seiner Filme haben das Kino voran­ge­bracht. Dieser nicht. Denn was soll in diesen Zeiten eine anti­qua­ri­sche Fingerü­bung?

Die neue West Side Story ist sehr schön, sehr klassisch und komplett über­flüssig!