Frankreich 2024 · 104 min. · FSK: ab 0 Regie: Emmanuel Courcol Drehbuch: Emmanuel Courcol, Irène Muscari Kamera: Maxence Lemonnier Darsteller: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Clémence Massart, Ludmila Mikaël u.a. |
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Zwei Schichten, zwei Leben... | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Letztens bei einem cinephilen Brettspielabend (so etwas gibt es wirklich!) unterhielten wir uns darüber, bei welchem Film wir zuletzt geweint haben. Die Filme waren so divers wie die Filmografien der Beteiligten und ich hätte mit Sicherheit Emmanuel Courcols Die leisen und die großen Töne nennen können, ja sollen und wollen, doch er fiel mir beim besten Willen an diesem Abend nicht ein. Obwohl er mir hätte einfallen müssen, weil das großartige Ende von Courcols Film, ein Ende ohne Worte, genau diesen tiefen Riss in der Seele erzeugt, einen Riss, der mit Tränen gefüllt zu einem rasenden Fluss wird.
Mein mangelndes Erinnerungsvermögen dürfte jedoch nicht nur an meinen eigenen Blockaden liegen, sondern auch an Courcols Film und wie er ihn inszeniert hat. Denn Die leisen und die großen Töne ist zwar auch ein Film der großen Gefühle und des großen Schmerzes, doch er ist ganz genau das auch nicht. Er ist genauso auch knallhartes, analytisches, sozialrealistisches Gesellschaftsdrama, so wie wir es von Ken Loach kennen oder etwas abgeschwächter vom jüngeren französischen Kino, er ist Liebesfilm, Musikfilm und ein Film über einen Wettbewerb. Also ein regelrechtes Genre-Kuddelmuddel.
Doch wie Chaos fühlt und sieht sich Die leisen und die großen Töne dann auch nicht an. Zwar mag die Geschichte über einen erfolgreichen Dirigenten, der aus purer Not auf seinen ihm bis dahin unbekannten Halbbruder in der französischen Provinz stößt, vielleicht Erinnerungen an andere Dirigentenfilme der letzten Zeit wecken, an Matthias Glasners Sterben (2024) oder Bradley Coopers Bernstein-Pic Maestro (2023), doch dürften diese Assoziationen nur leise anklingen und auch wieder ausklingen, denn jedes Mal, wenn dem so ist, wie eigentlichen bei jedem anderen Genre-Zitat in diesem Film, versteht es Courcol geschickt, Brüche zu erzeugen und in den nächsten Film überzuführen. Denn das ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem Film, dass er sehr viele Filme ist, ohne dass der Zuschauer dabei das Gefühl haben muss, in irgendeinem dieser Filme zu kurz zu kommen.
Dass das so perfekt gelingt, ist zum einen dem bis in die kleinsten Nebenrollen großartig besetzten Ensemble zu verdanken, denn wie sich hier der Großweltler Thibaut Desormeaux (Benjamin Lavernhe) und Kleinstädter Jimmy Lecocq (Pierre Lottin) näher kommen und dabei nicht nur der soziale Graben, der sich zwischen den zwei Brüdern auftut, erzählt (und nicht erklärt) wird, und damit auch der Graben, der sich durch ganz Frankreich, ja die ganze Welt, zieht, spürbar wird, ist großes Schauspielerkino. Und dann ist da natürlich eine überragende Regie, die mit dem klugen Drehbuch von Regisseur Emmanuel Courcol und Irène Muscari fast schon spielerisch die menschliche Komponente um die gesellschaftliche erweitert und vom Arbeitskampf an einem gefährdeten Standort einer Fabrik in der nordfranzösischen Provinz genauso erzählt wie vom Liebes- und Lebensalltag seiner Protagonisten.
Es sind Bilder und Geschichten, wie wir sie im deutschen Kino selten sehen, denn wann wird im deutschen Kino schon einmal mit großen Bildern und mit genauso großen Gefühlen vom Klassenkampf erzählt oder von Glück und Tragik des Geburtsortes, und Fragen wie: Was ist angeboren und was ist sozialisiert in eine überzeugende Geschichte gepackt? Das französische Kino der letzten Jahre ist voll davon, auch wenn es hin und wieder fast schon märchenartige Narrative sind, die wiederum klar machen, wie schwierig die Realität ist und wie wichtig es ist, nach Lösungen zu suchen. Was unzweifelhaft am besten mit dem Experimentierfeld Film geht. Allein schon die Vielfalt, mit der der französische Film hier an der offenen Wunde der Gesellschaft operiert, beeindruckt, sieht man etwa ganz und gar wahllos aus Zeit und Raum zusammengestellt Filme wie Mein Stück vom Kuchen, Geliebte Köchin, Oh la la – Wer ahnt denn so was?, Tandem – In welcher Sprache träumst du?, Ein leichtes Mädchen, Haute Couture – Die Schönheit der Geste, Die Küchenbrigade, Tenor oder den Gelbwestenfilm In den besten Händen.
Auch die Die leisen und die großen Töne bewegt sich in diesem Umfeld, ist dann jedoch mehr, weil er wie eingangs erwähnt erzählerisch mehr will und am Ende auch mehr gibt. Was dann allerdings die eingangs erwähnte und irritierende Folge haben kann, dass sich der Zuschauer nicht nur an einen, sondern gleich mehrere Filme erinnern wird und Wut, Lachen, Liebe und Traurigkeit ganz plötzlich ganz nah beieinander liegen.