Fabian oder Der Gang vor die Hunde

Deutschland 2021 · 186 min. · FSK: ab 12
Regie: Dominik Graf
Drehbuchvorlage: Erich Kästner
Drehbuch: ,
Kamera: Hanno Lentz
Darsteller: Tom Schilling, Saskia Rosendahl, Albrecht Schuch, Meret Becker, Michael Wittenborn u.a.
Kippe im Mund und auch sonst nicht auf den Mund gefallen: Tom Schilling als Fabian
(Foto: DCM)

Virtuos oder beliebig?

Dominik Graf will mit seiner Erich Kästner Verfilmung Fabian oder der Gang vor die Hunde ein »Kaleidoskop« jener Zeit schaffen, doch wie es mit Kaleidoskopen so ist: man sieht durch sie zwar viel, aber streng genommen auch wieder nichts.

Weil die viel­be­schwo­renen »neuen« Roaring Twenties durch ein gewisses globales Phänomen bislang komplett »ins Wasser gefallen« sind, bleibt einem nur, wenigs­tens den Geist der »alten« Zwanziger im Kino zu atmen. Im Vorjahr kam bereits mit Burhan Qurbanis Berlin Alex­an­der­platz die Verfil­mung eines der großen Romane der Weimarer Republik in die Kinos, nun nimmt sich Altmeister Dominik Graf Erich Kästners viel­leicht besten reinen Erwach­se­nen­bu­ches an.

Genauer handelt es sich schon um 1931, als Grafs Fabian oder Der Gang vor die Hunde einsetzt, in dem die wellen­ar­tigen Ausläufer der alten und die düsteren Vorboten der neuen Dekade den Prot­ago­nisten Jakob Fabian (Tom Schilling) einhüllen. Wie im Buch ist der Plot nicht das Entschei­dende (wenn­gleich es alles andere als plot­be­freit ist): Der junge Moralist verliert seine unge­liebte Arbeit, findet nach einigen Frau­en­geschichten die große Liebe und verliert sie wieder, und zieht sonst als ironisch distan­zierter Beob­achter durch das an einer Zeiten­wende stehende Berlin, bis ihn schlag­artig die Realität einholt.

Man muss Graf dafür gratu­lieren, dass er aus dem Stoff keinen pompösen Ausstat­tungs­film gemacht und das Klima dieser Umbruchs­zeit in einen rauen, schmut­zigen, ener­vie­renden Look übersetzt hat. Bei aller Zurück­hal­tung ist die Mise-en-Scène äußerst detail­ge­treu, Ausstat­tung, Maske, Kostüm, stel­len­weise auch das Schau­spiel, haben einen histo­ri­sie­renden Charakter. Auf der Ebene der Kamera und des Tons wird gegen eine wohlfeile Immersion gear­beitet und durch das Spiel mit der Abstrak­tion immer wieder aufge­bro­chen, wie man es aus zahl­rei­chen Filmen Grafs kennt. Das hält den Zuschauer durch­ge­hend in der Schwebe und betont die Aktua­lität und Relevanz des Stoffes, im Gegensatz zu einer über­mäßigen Iden­ti­fi­ka­tion mit den Figuren. Genau hier beginnt der kritische Bereich, über den zu sprechen das eigent­lich Inter­es­sante ist, nämlich die Verschmel­zung von Inhalt und Form, Text und Metatext in einer originären Ästhetik, denn das, und nichts anderes, bezeichnet diesen Film.

Dafür bedient sich Graf einmal mehr recht frei aus einem reich­hal­tigen filmi­schen Hand­werks­kasten. Nur, damit klar ist, was einen erwartet: wackelnde Hand­ka­mera, krude Zooms, Zeitlupe, vari­ie­rende Belich­tungs­zeiten, Unschärfen, Bild-in-Bild-Collagen, Jump Cuts, Achs­sprünge, Lens Flares, Archiv­ma­te­rial, Super-8, einge­blen­dete Land­karten, Stills, gele­gent­li­ches Schwarz­weiß. Erzäh­ler­stimmen, von denen man als Kind Alpträume bekommen hätte, weiblich und männlich (leider jedoch gänzlich ohne Grafs gewohntes ureigenes Timbre, wie noch in Die geliebten Schwes­tern). Kako­pho­ni­scher Musik­ein­satz. Text­ein­blen­dungen. Kamera-Zwin­ker­blick. Habe ich etwas vergessen? Ähnlich kurzatmig und zugleich ausufernd wie diese Aufzäh­lung wirkt über weite Strecken logi­scher­weise auch der knapp dreis­tün­dige Film.
So schön es ist, dass ein Regisseur seine eigene, unver­kenn­bare Hand­schrift pflegt: Ist das noch virtuos, oder doch schon wieder beliebig? Oh, natürlich verdrängt: immer wieder diese pene­tranten händi­schen Close-Ups Marke »Schau­spiel­se­minar«, die sich irgend­wann erschöpfen. Das ist nah am stilis­ti­schen Overkill, post­mo­derner Eklek­ti­zismus, Dogma 95 meets Gruppe Vertov. Graf selber gibt zu Protokoll, er wollte ein »Kalei­do­skop« jener Zeit schaffen, doch wie es mit Kalei­do­skopen so ist – man sieht durch sie zwar viel, aber streng genommen auch wieder nichts.

Die Umsetzung hat neben dem über­bor­denden Gestal­tungs­willen aber auch mit der Hypothek von Kästners Sprache zu leben, die dem Roman Atmo­s­phäre und Ton verleiht, die ihn auch nach 90 Jahren zu einem immer jungen Lese­er­lebnis macht. Die ironische Schnodd­rig­keit Kästners, die er dem Mora­listen Fabian als seinem Alter Ego in den Mund legt und die den heiteren Tanz auf der Rasier­klinge vor der abseh­baren Kata­strophe so gut wieder­gibt – dieser Ton findet sich im Film trotz der vielen direkten Zitate nicht wieder. Woher kommt das? Zum einen über­la­gert der beschrie­bene Insze­nie­rungs­stil Kästner komplett. Der Film ist durch und durch Graf, es ist weniger eine Adaption als eine Inter­pre­ta­tion, eher sogar eine Übernahme. Er spielt die volle Autorität über den Stoff aus, den er sich ausge­sucht hat. Dagegen ist pauschal nichts einzu­wenden, sind wir doch im Kino und nicht im Buchclub. Das heißt auch nicht, dass die Bear­bei­tung nicht respekt­voll wäre. Es geht um das Wie, um den mangelnden Mut oder Willen zur stil­bil­denden Ironie der Vorlage. Zum anderen ist es die Besetzung.

Tom Schilling wirkt auf dem Papier wie der perfekte Fabian, doch die souveräne Leich­tig­keit der Buchfigur geht ihm komplett ab, er tendiert statt­dessen zu einer nasal-quen­ge­ligen Ernst­haf­tig­keit, die in sich auch reduziert ist, so dass er sich gegen das ihm entge­gen­ge­setzte Bild- und Tonge­witter erst recht nicht durch­setzen kann. Auch hier bräuchte es das gewisse Augen­zwin­kern, um den natür­li­chen Charme Schil­lings viel stärker durch­schim­mern zu lassen, man denke nur an Oh Boy. Es hilft zudem nicht, dass die Erzäh­ler­stimmen Kästners Text so into­nieren, dass er urplötz­lich wie Kafka klingt. So ist dann auch durch­gängig der hier gesetzte Ton in der Abgren­zung zum Buch: viel zerstreuter, abgrün­diger, exis­ten­zia­lis­ti­scher. Der Stil mag verspielt wirken, der Film ist es nicht.

In Superman-Comics gibt es eine Erde-2, einen Zwil­lings­pla­neten in einer anderen Dimension, auf dem alles genau umgekehrt ist. Das Gedan­ken­spiel sei gestattet: In dieser alter­na­tiven Welt hätte Dominik Graf letztes Jahr Berlin Alex­an­der­platz insze­niert, ein Schwer­ge­wicht deutscher Literatur, das ihm gemäß wäre, wo der besondere Stil Grafs, mit seinem redu­zierten Histo­rismus und einer colla­gen­ar­tigen Insze­nie­rung, Döblins Moder­nität entspro­chen und einen behut­samen und dennoch erfri­schend neuen Einblick in einen seit Fass­binder nicht mehr ange­fassten Klassiker geboten hätte; und Burhan Qurbani hätte »Fabian«, ein schmales, viel zu wenig gelesenes, aber doch so viel Zündstoff bietendes Buch radikal moder­ni­siert und mit einem Arsch­tritt in neonbunt und Cine­ma­scope endlich für eine neue Genera­tion adaptiert – Fabian, Geis­tes­mensch und Kind von Migranten, plötzlich wegra­tio­na­li­siert, hustlet auf der Hasen­heide, die vorge­täuschte Coolness zu wahren bemüht, während um ihn herum die Welt – ja, unsere heutige Welt! – Schritt für Schritt vor die Hunde geht… Aber schon klar, wir müssen uns bis auf weiteres mit Erde-1 begnügen.

Das Schluss­bild wiederum ist ein bril­lanter und zugleich auch der einzig genuin berüh­rende Einfall Grafs, wenn er über das Ende des Romans hinaus einen Bogen schlägt zum verhäng­nis­vollen Abend des 10. Mai 1933, den Kästner selbst als Opfer und Augen­zeuge miter­leben musste. Danach weiß jeder selbst, ob er sich ange­sichts dieser ästhe­ti­schen Sturmflut genauso an den Mast krallen musste wie dieser Rezensent. In jedem Falle sollte man schwimmen lernen.

Was bleibt, ist die Sehnsucht

Lust am Hinschauen, Lust an den Objekten: Dominik Grafs bezaubernde Verfilmung von Kästners »Fabian«

»Wir sitzen alle im gleichen Zug, und reisen quer durch die Zeit. Wir sehn hinaus, wir sahn genug, und fahren alle im gleichen Zug. Und keiner weiß wie weit.
Ein Nachbar schläft. Ein anderer klagt, ein dritter redet viel. Stationen werden angesagt; der Zug, der durch die Jahre jagt, kommt niemals an ein Ziel.«
aus: »Fabian«

»Und? Was führt Sie nach Sodom und Gomorrha?« – so lautet einer der ersten Sätze, die Fabian zu Cornelia sagt. Sodom und Gomorrha, das ist das Nacht­leben von Berlin, genauer gesagt, ein Lokal, in dem so ziemlich alles möglich ist und möglich gemacht wird: sexuell, musi­ka­lisch, und auch sonst »bewusst­seins­er­wei­ternd«; »sub- und supra­atomar«, wie es Fabians Zeit­ge­nosse Gottfried Benn mal formu­liert hat.
Dann reden die beiden, die ein Liebes­paar werden müssen und das eigent­lich auch schon wissen, über Engel. Schließ­lich hat er in ihr, mitten in diesem Sünden­pfuhl, einen solchen gesehen. »Unsere Zeit ist mit den Engeln böse, nicht?« fragt sie. Und er kann nicht wider­spre­chen.

+ + +

Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen hohem Ton und schnodd­rigem Ausdruck, zwischen Absicht und Einsicht, Fressen und Moral.
»Memoiren eines Mora­listen« hat Erich Kästner seinen »Fabian« genannt, nachdem ihm sein Verleger klar­ge­macht hat, dass er ihn nicht »Der Gang vor die Hunde« nennen durfte, und auch sonst vieles politisch oder sexuell Explizite gestri­chen werden musste. Der Münchner Regisseur Dominik Graf greift die unzen­sierte Ursprungs­fas­sung jetzt auf, und formt aus ihr, »frei nach Kästner«, seinen neuen Kinofilm Fabian oder Der Gang vor die Hunde.

+ + +

Dies ist eine Liebes­ge­schichte, die auch zum Verzwei­feln ist, aber immer prag­ma­tisch, nie melo­dra­ma­tisch, also echt und zeitgemäß, nie »ausge­dacht«: Alles spielt unter Akade­mi­kern, einer in jenen Jahren der Welt­wirt­schafts­krise und des poli­ti­schen Extre­mismus unver­hofft prekär gewor­denen Klasse.

Es sind drei Doktoren: Fabian, das ist Dr. Jakob Fabian, Germanist, der viel­leicht dem Verfasser nicht so unähnlich ist und sich jetzt als Werbe­texter, »Propa­gan­dist« und Gele­gen­heits­jour­na­list durch­schlägt, und sich fort­wäh­rend über alles in einem kleinen Heft Notizen macht, die in etwas Größeres münden sollen. Cornelia, das ist Dr. Cornelia Batten­berg, Juristin, was schon der nütz­li­chere Beruf ist in einer Zeit, in der selbst die Liebe noch zum Vertrags­ver­hältnis wird – bis zu dem Punkt, dass es in Fabian eine Szene gibt, in der eine fremd­ge­hende Ehefrau dem Liebhaber vor dem Geschlechts­ver­kehr einen die Folgen regelnden Vertrag zur Unter­schrift präsen­tiert. Cornelia arbeitet in der Rech­te­ab­tei­lung eines großen Film­stu­dios in Babels­berg – aber auch sie träumt von etwas Höherem: Sie möchte Film­schau­spie­lerin werden. Und ihr Chef macht ihr Hoff­nungen, wenn auch, wie sie sofort durch­schaut, viel­leicht nur aus Eigennutz und Interesse an ihren äußeren Reizen. Und dann ist da noch Labude, Dr. Stephan Labude, Fabians bester Freund, der einen reichen Rechts­an­walt zum schlechten Vater hat – wieder Juristen! – und gerade seine germa­nis­ti­sche Habi­li­ta­tion über Lessing beendet, ebenso eine Verlobung in Hamburg. Jetzt ist Labude, zwischen Welt­schmerz und Utopie hin- und herge­rissen, doppelt Aktivist: tagsüber kommu­nis­tisch und nachts hedo­nis­tisch.

Labudes Idea­lismus, Cornelias Pragmatik und Fabians Ironie bilden den inneren Dreiklang dieser Geschichte. Sie bestimmen zugleich die freund­schaft­liche Spannung, die zwischen den Figuren herrscht, die sie zusam­men­hält und doch immer wieder vonein­ander entfernt.

+ + +

Der Roman »Fabian« ist für seine Zeit äußerst unge­wöhn­lich und in seiner Bedeutung unter­schätzt. Für Grafs Film bildet er trotzdem nur das Material zu etwas ganz Eigenem. Denn dies ist alles andere als eine typische Lite­ra­tur­ver­fil­mung. Vielmehr ein über­ra­schend zärt­li­cher und intimer, auch immer wieder stiller Film. Die Ausstat­tung ist großartig, aber es wird nie mit ihr geprotzt. Es fehlen alle Klischees, die das Publikum norma­ler­weise seit Cabaret mit »Weimar« und »Prä-Nazizeit« verbindet. Und wo sie sein müssen, da bleibt es dezent.

Statt­dessen ist dies ein Film, der ganz um seine zwei bis drei Haupt­fi­guren herum zentriert ist. Um einen jungen Mann, der opti­mis­tisch und positiv denkt, aber zugleich verzwei­felt in diesem Opti­mismus. Der im Berlin der späten Weimarer Republik mitten in der Welt­wirt­schafts­krise zu überleben versucht. Die Verhält­nisse sind zutiefst unglück­lich und werden noch unglück­li­cher, als Fabian, der zunächst als Werbe­texter arbeitet, arbeitslos wird. Zugleich sind sie glücklich, denn Fabian verliebt sich in Cornelia, und diesmal meint er es ernst.

+ + +

Vieles wird getragen von den Darstel­lern. Und so zentral Meret Becker als Anwalts­gattin Frau Moll und Albrecht Schucht als Labude in bestimmten Momenten für den Film werden, so prägnant und einprägsam ihre Figuren gezeichnet sind und lebendig werden, so sehr ist dies doch der Film von Tom Schilling als Fabian und Saskia Rosendahl als Cornelia. Ihre beiden Figuren sind Menschen, die zugleich Personen der Epoche sind, wie Indi­vi­duen aus dem Hier und Jetzt. Bis zum Schluss über­ra­schen sie, bis zum Schluss zeigen beide fort­wäh­rend neue Facetten, neue Ausdrücke. Das Leben scheint sich in sie, ihre Gesichter wie ihre Körper einzu­prägen, ihre Bewe­gungen mitzu­ge­stalten, von ihren Blicken erwidert zu werden. Bis zum Schluss mischen sich in ihren Gesich­tern Trauer und Euphorie, Leid und Hoffnung. Allein das ist in beiden Fällen eine phäno­me­nale Leistung.

Die Kame­ra­ar­beit von Hanno Lentz tut ein Übriges mit ihren Tempi­wech­seln, die pulsie­rend auf das, was sie beob­achten, eingehen. Die Kamera tanzt mit den Figuren und den Objekten – ständig in leichter, nie aufdring­li­cher Bewegung. Dazu gehören Passagen auf Super-8, die den Bildern für ein paar Augen­blicke etwas Raues, Grobes, eine vom Kies und Asphalt der Straßen durch­zo­gene beiläu­fige Atmo­s­phäre geben – analog zu den soge­nannten »Asphalt­filmen« dieser Zeit. Die über­zeu­gende Montage von Claudia Wolscht verknüpft Lentz' Bilder immer wieder organisch mit kurzen doku­men­ta­ri­schen Einschüben, für die sie sich aus dem bekannten Archiv­ma­te­rial bedienen konnte.

+ + +

Ein wichtiges Thema für sich, das aber in einer Rezension nicht ange­messen zu fassen ist, sind die zahl­rei­chen indi­rekten, oft sehr beiläu­figen, nie aufdring­li­chen Bezüge auf das Kino der Weimarer Republik, das noch immer das Fundament der deutschen Film­ge­schichte, und nicht nur dieser, bildet. Insbe­son­dere Georg Wilhelm Pabst, so glaubt man zu sehen, ist eine geheime Referenz für Grafs Blick auf die Weimarer Epoche.

Dazu gehört die Über­tra­gung des auch bei Kästner immer zwischen den Zeilen präsenten Stils der Neuen Sach­lich­keit auf den Film. Es ist ein Stil, der in diesem Fall, wie Kästners Schreiben, nicht aufdring­lich und program­ma­tisch, sondern einem Zweck unter­ge­ordnet anwesend ist. Er kulmi­niert in der Figur des Flaneurs – Fabian ist ein solcher Flaneur, ein Beob­achter, ein Passiver, ein Ironiker, dessen Existenz von Hand­lungs­hem­mungen ebenso durch­zogen ist wie von einer voyeu­ris­ti­schen Lust am Hinschauen. Diese mitunter feti­schis­tisch aufge­la­dene Lust an den Objekten, am Eintau­chen in alles Mögliche, auch Gegen­sätz­liche, am strei­fenden Verviel­fäl­tigen der eigenen Lebens­er­fah­rung, gehört sowohl zur proto­ty­pi­schen »Weimarer Erfahrung«, in der Begriffe wie »Kult der Zerstreuung« (Siegfried Kracauer) aufkamen und Konsum mit einem Mal zum positiv konno­tierten Alltags­ver­gnügen wurde. Sie gehört aber auch zu unserer Gegenwart, zu einer Wahr­neh­mung der Welt als eines »Flow«, eines Bewusst­seins­stroms, und zur Exis­tenz­form des Driftens, wie sie seit etwa einem Vier­tel­jahr­hun­dert zur genuin (pop-)modernen Erfahrung geworden ist. Alles dies ist in Grafs Film zu jeder Sekunde, in jedem Bild präsent und mitge­dacht. Insgesamt ist Fabian auch dadurch eine großar­tige Leistung der Insze­nie­rung wie des ganzen Teams.

+ + +

Melan­cholie und Hedo­nismus, das Glück des Tages und grund­sätz­liche Verzweif­lung vermi­schen sich zu einem bezau­bernden, bitter­süßen Portrait einer vergan­genen Epoche, die der unsrigen im Guten wie im Schlechten ziemlich ähnlich sieht.

Dies ist ein trauriger Film. Dies ist aber auch ein wunder­schöner Film. Vor allem ist er uner­wartet. Über­ra­schend. Berückend in der Weise, in der er die Vergan­gen­heit nie verleugnet, doch Gegen­wär­tig­keit herstellt, zu jeder Sekunde. Nie sieht hier irgend­etwas wie Kulisse aus. Immer ist es anfassbar, haptisch, materiell. Dies ist viel­leicht die größte Kunst des Filme­ma­chers Dominik Graf, die Vergan­gen­heit so greifbar, so gegen­wärtig zu machen.

In Grafs riesigem Werk – über 50 Filme für Kino und Fernsehen sowie Serien und Seri­en­folgen – gehört dieser Film zum Besten, Origi­nellsten. Immer noch vermag sich dieser deutsche Ausnah­me­re­gis­seur weiter­zu­ent­wi­ckeln. Zugleich fügt sich Fabian ins Gesamt­werk über gewisse Leit­mo­tive: Das Interesse an Dreier-Konstel­la­tionen, die erotisch zumindest aufge­laden sind; der nüchterne, realis­ti­sche, aber nie natu­ra­lis­ti­sche Blick auf Verhält­nisse; die Genau­ig­keit, mit der Orte ausge­wählt und einge­richtet sind und zu einem Teil der Insze­nie­rung werden, ins Ganze eingehen; eine Schön­heits-Vorstel­lung, der alle Glätte fehlt; die Bereit­schaft, im Wirk­li­chen auch etwas Utopi­sches zu sehen, im Kleinen auch das Exem­pla­ri­sche, Große, Univer­sale. Schließ­lich der empa­thi­sche Blick auf die Jugend, auf Aufbruch und Zukunft, die sie verkör­pert und ein unver­hoh­lenes Wissen um Vergäng­lich­keit: Die der Jugend, wie die eines Zeit­al­ters, das im Kino kurz und prägnant beschworen werden kann, aber nie ganz eingeholt werden wird. Und so sind noch die schönsten Bilder von melan­cho­li­scher Trauer durch­zogen, aber nie von Nostalgie.
Nostalgie empfindet Graf aller­höchs­tens für die Gegenwart, die immer wieder von fern im Spiegel seines Weimar-Bildes aufscheint. Grafs Wissen ist das Wissen darum, dass die Vergan­gen­heit sich wieder­holen kann und dass auch noch die gegen­wär­tigste Erfahrung eines Tages vom Wind der Geschichte verweht sein wird.
Es geht alles bergab und vorbei; oder, wie es im Roman heißt: vor die Hunde.

+ + +

Am Ende sehen wir ein Feuer. Ein kleiner Junge wärmt seine nassen Klamotten mit dem Heft, in dem Fabian seine Notizen gemacht hat. Wir haben dieses Heft über den Film hinweg oft gesehen. Jetzt sehen wir das Feuer, in dem alles, was notiert wurde, alle Gedanken, alle Gefühle, alle Empfin­dungen verschwinden – was bleibt, ist die Sehnsucht. Die Sehnsucht von Cornelia, die zur gleichen Zeit im Café sitzt, wo sie Fabian erwartet. Sie werde jetzt jeden Tag kommen, um 3 Uhr, sagt sie zum Kellner voller Gewiss­heit, dass eines Tages der Geliebte zu dieser Zeit den Raum betritt. Sie weiß noch nicht, so wie alle Menschen damals noch nicht wussten, sondern besten­falls ahnen und fürchten konnten, dass wenige Monate später nicht nur die Notizen eines nicht besonders erfolg­rei­chen Werbe­tex­ters verbrannten, sondern dass das Feuer größer wurde, es Bücher erfasste, Häuser, Menschen, ein ganzes Land, und ganz Europa.