05.03.2021

Virtuos oder beliebig?

Fabian
Nah am stilistischen Overkill, postmodernem Eklektizismus, Dogma 95 meets Gruppe Wertow
(Foto: Berlinale Presseservice)

Dominik Graf will mit seiner Erich Kästner Verfilmung Fabian oder der Gang vor die Hunde ein »Kaleidoskop« jener Zeit schaffen, doch wie es mit Kaleidoskopen so ist: man sieht durch sie zwar viel, aber streng genommen auch wieder nichts.

Von Sedat Aslan

Weil die viel­be­schwo­renen »neuen« Roaring Twenties durch ein gewisses globales Phänomen bislang komplett »ins Wasser gefallen« sind, bleibt einem nur, wenigs­tens den Geist der »alten« Zwanziger im Kino zu atmen. Im Vorjahr kam bereits mit Burhan Qurbanis Berlin Alex­an­der­platz die Verfil­mung eines der großen Romane der Weimarer Republik in die Kinos, nun nimmt sich Altmeister Dominik Graf Erich Kästners viel­leicht besten reinen Erwach­se­nen­bu­ches an.

Genauer handelt es sich schon um 1931, als Grafs Wett­be­werbs­bei­trag Fabian oder Der Gang vor die Hunde einsetzt, in dem die wellen­ar­tigen Ausläufer der alten und die düsteren Vorboten der neuen Dekade den Prot­ago­nisten Jakob Fabian (Tom Schilling) einhüllen. Wie im Buch ist der Plot nicht das Entschei­dende (wenn­gleich es alles andere als plot­be­freit ist): Der junge Moralist verliert seine unge­liebte Arbeit, findet nach einigen Frau­en­geschichten die große Liebe und verliert sie wieder, und zieht sonst als ironisch distan­zierter Beob­achter durch das an einer Zeiten­wende stehende Berlin, bis ihn schlag­artig die Realität einholt.
Man muss Graf dafür gratu­lieren, dass er aus dem Stoff keinen pompösen Ausstat­tungs­film gemacht und das Klima dieser Umbruchs­zeit in einen rauen, schmut­zigen, ener­vie­renden Look übersetzt hat. Bei aller Zurück­hal­tung ist die Mise-en-Scène äußerst detail­ge­treu, Ausstat­tung, Maske, Kostüm, stel­len­weise auch das Schau­spiel, haben einen histo­ri­sie­renden Charakter. Auf der Ebene der Kamera und des Tons wird gegen eine wohlfeile Immersion gear­beitet und durch das Spiel mit der Abstrak­tion immer wieder aufge­bro­chen, wie man es aus zahl­rei­chen Filmen Grafs kennt. Das hält den Zuschauer durch­ge­hend in der Schwebe und betont die Aktua­lität und Relevanz des Stoffes, im Gegensatz zu einer über­mäßigen Iden­ti­fi­ka­tion mit den Figuren. Genau hier beginnt der kritische Bereich, über den zu sprechen das eigent­lich Inter­es­sante ist, nämlich die Verschmel­zung von Inhalt und Form, Text und Metatext in einer originären Ästhetik, denn das, und nichts anderes, bezeichnet diesen Film.

Dafür bedient sich Graf einmal mehr recht frei aus einem reich­hal­tigen filmi­schen Hand­werks­kasten. Nur, damit klar ist, was einen erwartet: wackelnde Hand­ka­mera, krude Zooms, Zeitlupe, vari­ie­rende Belich­tungs­zeiten, Unschärfen, Bild-in-Bild-Collagen, Jump Cuts, Achs­sprünge, Lens Flares, Archiv­ma­te­rial, Super8, einge­blen­dete Land­karten, Stills, gele­gent­li­ches Schwarz-Weiß. Erzäh­ler­stimmen, von denen man als Kind Alpträume bekommen hätte, weiblich und männlich (leider jedoch gänzlich ohne Grafs gewohntes ureigenes Timbre, wie noch in Die geliebten Schwes­tern). Kako­fo­ni­scher Musik­ein­satz. Text­ein­blen­dungen. Kamera-Zwin­ker­blick. Habe ich etwas vergessen? Ähnlich kurzatmig und zugleich ausufernd wie diese Aufzäh­lung wirkt über weite Strecken logi­scher­weise auch der knapp dreis­tün­dige Film.
So schön es ist, dass ein Regisseur seine eigene, unver­kenn­bare Hand­schrift pflegt: Ist das noch virtuos, oder doch schon wieder beliebig? Oh, natürlich verdrängt: immer wieder diese pene­tranten händi­schen Close-Ups Marke Schau­spiel­se­minar, die sich irgend­wann erschöpfen. Das ist nah am stilis­ti­schen Overkill, post­mo­derner Eklek­ti­zismus, Dogma 95 meets Gruppe Wertow. Graf selber gibt zu Protokoll, er wollte ein »Kalei­do­skop« jener Zeit schaffen, doch wie es mit Kalei­do­skopen so ist – man sieht durch sie zwar viel, aber streng genommen auch wieder nichts.

Die Umsetzung hat neben dem über­bor­denden Gestal­tungs­willen aber auch mit der Hypothek von Kästners Sprache zu leben, die dem Roman Atmo­s­phäre und Ton verleiht, die ihn auch nach 90 Jahren zu einem immer­jungen Lese­er­lebnis macht. Die ironische Schnodd­rig­keit Kästners, die er dem Mora­listen Fabian als seinem Alter Ego in den Mund legt und die den heiteren Tanz auf der Rasier­klinge vor der abseh­baren Kata­strophe so gut wieder­gibt – dieser Ton findet sich im Film trotz der vielen direkten Zitate nicht wieder. Woher kommt das? Zum einen über­la­gert der beschrie­bene Insze­nie­rungs­stil Kästner komplett. Der Film ist durch und durch Graf, es ist weniger eine Adaption als eine Inter­pre­ta­tion, eher sogar eine Übernahme. Er spielt die volle Autorität über den Stoff aus, den er sich ausge­sucht hat. Dagegen ist pauschal nichts einzu­wenden, sind wir doch im Kino und nicht im Buchclub. Das heißt auch nicht, dass die Bear­bei­tung nicht respekt­voll wäre. Es geht um das Wie, um den mangelnden Mut oder Willen zur stil­bil­denden Ironie der Vorlage. Zum anderen ist es die Besetzung. Tom Schilling wirkt auf dem Papier wie der perfekte Fabian, doch die souveräne Leich­tig­keit der Buchfigur geht ihm komplett ab, er tendiert statt­dessen zu einer nasal-quen­ge­ligen Ernst­haf­tig­keit, die in sich auch reduziert ist, so dass er sich gegen das ihm entge­gen­ge­setzte Bild- und Tonge­witter erst recht nicht durch­setzen kann. Auch hier bräuchte es das gewisse Augen­zwin­kern, um den natür­li­chen Charme Schil­lings viel stärker durch­schim­mern zu lassen, man denke nur an Oh Boy. Es hilft zudem nicht, dass die Erzäh­ler­stimmen Kästners Text so into­nieren, dass er urplötz­lich wie Kafka klingt. So ist dann auch durch­gängig der hier gesetzte Ton in der Abgren­zung zum Buch: viel zerstreuter, abgrün­diger, exis­ten­zia­lis­ti­scher. Der Stil mag verspielt wirken, der Film ist es nicht. Viel­leicht ist David Schalko mit seiner Serie Ich und die Anderen, auch mit Schilling, dann doch der bessere Quasi-Fabian fürs 21. Jahr­hun­dert geglückt, denn hier kann man über die Odyssee eines Groß­stadt­men­schen wenigs­tens so verzwei­felt lachen wie bei dem großen Humo­risten, der Kästner bei aller Trau­rig­keit bis zum Ende war.

In Superman-Comics gibt es eine Erde-2, einen Zwil­lings­pla­neten in einer anderen Dimension, auf dem alles genau umgekehrt ist. Das Gedan­ken­spiel sei gestattet: In dieser alter­na­tiven Welt hätte Dominik Graf letztes Jahr Berlin Alex­an­der­platz insze­niert, ein Schwer­ge­wicht deutscher Literatur, das ihm gemäß wäre, wo der besondere Stil Grafs, mit seinem redu­zierten Histo­rismus und einer colla­gen­ar­tigen Insze­nie­rung, Döblins Moder­nität entspro­chen und einen behut­samen und dennoch erfri­schend neuen Einblick in einen seit Fass­binder nicht mehr ange­fassten Klassiker geboten hätte; und Burhan Qurbani hätte »Fabian«, ein schmales, viel zu wenig gelesenes, aber doch so viel Zündstoff bietendes Buch radikal moder­ni­siert und mit einem Arsch­tritt in neonbunt und Cine­ma­scope endlich für eine neue Genera­tion adaptiert – Fabian, Geis­tes­mensch und Kind von Migranten, plötzlich wegra­tio­na­li­siert, hustlet auf der Hasen­heide, die vorge­täuschte Coolness zu wahren bemüht, während um ihn herum die Welt – ja, unsere heutige Welt! – Schritt für Schritt vor die Hunde geht… Aber schon klar, wir müssen uns bis auf weiteres mit Erde-1 begnügen.

Das Schluss­bild wiederum ist ein bril­lanter und zugleich auch der einzig genuin berüh­rende Einfall Grafs, wenn er über das Ende des Romans hinaus einen Bogen schlägt zum verhäng­nis­vollen Abend des 10. Mai 1933, den Kästner selbst als Opfer und Augen­zeuge miter­leben musste. Danach weiß jeder selbst, ob er sich ange­sichts dieser ästhe­ti­schen Sturmflut genauso an den Mast krallen musste wie dieser Rezensent. In jedem Falle sollte man schwimmen lernen.