Virtuos oder beliebig? |
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Nah am stilistischen Overkill, postmodernem Eklektizismus, Dogma 95 meets Gruppe Wertow | ||
(Foto: Berlinale Presseservice) |
Von Sedat Aslan
Weil die vielbeschworenen »neuen« Roaring Twenties durch ein gewisses globales Phänomen bislang komplett »ins Wasser gefallen« sind, bleibt einem nur, wenigstens den Geist der »alten« Zwanziger im Kino zu atmen. Im Vorjahr kam bereits mit Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz die Verfilmung eines der großen Romane der Weimarer Republik in die Kinos, nun nimmt sich Altmeister Dominik Graf Erich Kästners vielleicht besten reinen Erwachsenenbuches an.
Genauer handelt es sich schon um 1931, als Grafs Wettbewerbsbeitrag Fabian oder Der Gang vor die Hunde einsetzt, in dem die wellenartigen Ausläufer der alten und die düsteren Vorboten der neuen Dekade den Protagonisten Jakob Fabian (Tom Schilling) einhüllen. Wie im Buch ist der Plot nicht das Entscheidende (wenngleich es alles andere als plotbefreit ist): Der junge Moralist verliert seine ungeliebte Arbeit, findet nach einigen Frauengeschichten die
große Liebe und verliert sie wieder, und zieht sonst als ironisch distanzierter Beobachter durch das an einer Zeitenwende stehende Berlin, bis ihn schlagartig die Realität einholt.
Man muss Graf dafür gratulieren, dass er aus dem Stoff keinen pompösen Ausstattungsfilm gemacht und das Klima dieser Umbruchszeit in einen rauen, schmutzigen, enervierenden Look übersetzt hat. Bei aller Zurückhaltung ist die Mise-en-Scène äußerst detailgetreu, Ausstattung, Maske, Kostüm,
stellenweise auch das Schauspiel, haben einen historisierenden Charakter. Auf der Ebene der Kamera und des Tons wird gegen eine wohlfeile Immersion gearbeitet und durch das Spiel mit der Abstraktion immer wieder aufgebrochen, wie man es aus zahlreichen Filmen Grafs kennt. Das hält den Zuschauer durchgehend in der Schwebe und betont die Aktualität und Relevanz des Stoffes, im Gegensatz zu einer übermäßigen Identifikation mit den Figuren. Genau hier beginnt der kritische
Bereich, über den zu sprechen das eigentlich Interessante ist, nämlich die Verschmelzung von Inhalt und Form, Text und Metatext in einer originären Ästhetik, denn das, und nichts anderes, bezeichnet diesen Film.
Dafür bedient sich Graf einmal mehr recht frei aus einem reichhaltigen filmischen Handwerkskasten. Nur, damit klar ist, was einen erwartet: wackelnde Handkamera, krude Zooms, Zeitlupe, variierende Belichtungszeiten, Unschärfen, Bild-in-Bild-Collagen, Jump Cuts, Achssprünge, Lens Flares, Archivmaterial, Super8, eingeblendete Landkarten, Stills, gelegentliches Schwarz-Weiß. Erzählerstimmen, von denen man als Kind Alpträume bekommen hätte, weiblich und männlich (leider
jedoch gänzlich ohne Grafs gewohntes ureigenes Timbre, wie noch in Die geliebten Schwestern). Kakofonischer Musikeinsatz. Texteinblendungen. Kamera-Zwinkerblick. Habe ich etwas vergessen? Ähnlich kurzatmig und zugleich ausufernd wie diese Aufzählung wirkt über weite Strecken logischerweise auch der knapp dreistündige Film.
So schön es ist, dass ein Regisseur seine eigene,
unverkennbare Handschrift pflegt: Ist das noch virtuos, oder doch schon wieder beliebig? Oh, natürlich verdrängt: immer wieder diese penetranten händischen Close-Ups Marke Schauspielseminar, die sich irgendwann erschöpfen. Das ist nah am stilistischen Overkill, postmoderner Eklektizismus, Dogma 95 meets Gruppe Wertow. Graf selber gibt zu Protokoll, er wollte ein »Kaleidoskop« jener Zeit schaffen, doch wie es mit Kaleidoskopen so ist – man sieht durch sie zwar viel, aber streng genommen auch wieder nichts.
Die Umsetzung hat neben dem überbordenden Gestaltungswillen aber auch mit der Hypothek von Kästners Sprache zu leben, die dem Roman Atmosphäre und Ton verleiht, die ihn auch nach 90 Jahren zu einem immerjungen Leseerlebnis macht. Die ironische Schnoddrigkeit Kästners, die er dem Moralisten Fabian als seinem Alter Ego in den Mund legt und die den heiteren Tanz auf der Rasierklinge vor der absehbaren Katastrophe so gut wiedergibt – dieser Ton findet sich im Film trotz der vielen direkten Zitate nicht wieder. Woher kommt das? Zum einen überlagert der beschriebene Inszenierungsstil Kästner komplett. Der Film ist durch und durch Graf, es ist weniger eine Adaption als eine Interpretation, eher sogar eine Übernahme. Er spielt die volle Autorität über den Stoff aus, den er sich ausgesucht hat. Dagegen ist pauschal nichts einzuwenden, sind wir doch im Kino und nicht im Buchclub. Das heißt auch nicht, dass die Bearbeitung nicht respektvoll wäre. Es geht um das Wie, um den mangelnden Mut oder Willen zur stilbildenden Ironie der Vorlage. Zum anderen ist es die Besetzung. Tom Schilling wirkt auf dem Papier wie der perfekte Fabian, doch die souveräne Leichtigkeit der Buchfigur geht ihm komplett ab, er tendiert stattdessen zu einer nasal-quengeligen Ernsthaftigkeit, die in sich auch reduziert ist, so dass er sich gegen das ihm entgegengesetzte Bild- und Tongewitter erst recht nicht durchsetzen kann. Auch hier bräuchte es das gewisse Augenzwinkern, um den natürlichen Charme Schillings viel stärker durchschimmern zu lassen, man denke nur an Oh Boy. Es hilft zudem nicht, dass die Erzählerstimmen Kästners Text so intonieren, dass er urplötzlich wie Kafka klingt. So ist dann auch durchgängig der hier gesetzte Ton in der Abgrenzung zum Buch: viel zerstreuter, abgründiger, existenzialistischer. Der Stil mag verspielt wirken, der Film ist es nicht. Vielleicht ist David Schalko mit seiner Serie Ich und die Anderen, auch mit Schilling, dann doch der bessere Quasi-Fabian fürs 21. Jahrhundert geglückt, denn hier kann man über die Odyssee eines Großstadtmenschen wenigstens so verzweifelt lachen wie bei dem großen Humoristen, der Kästner bei aller Traurigkeit bis zum Ende war.
In Superman-Comics gibt es eine Erde-2, einen Zwillingsplaneten in einer anderen Dimension, auf dem alles genau umgekehrt ist. Das Gedankenspiel sei gestattet: In dieser alternativen Welt hätte Dominik Graf letztes Jahr Berlin Alexanderplatz inszeniert, ein Schwergewicht deutscher Literatur, das ihm gemäß wäre, wo der besondere Stil Grafs, mit seinem reduzierten Historismus und einer collagenartigen Inszenierung, Döblins Modernität entsprochen und einen behutsamen und dennoch erfrischend neuen Einblick in einen seit Fassbinder nicht mehr angefassten Klassiker geboten hätte; und Burhan Qurbani hätte »Fabian«, ein schmales, viel zu wenig gelesenes, aber doch so viel Zündstoff bietendes Buch radikal modernisiert und mit einem Arschtritt in neonbunt und Cinemascope endlich für eine neue Generation adaptiert – Fabian, Geistesmensch und Kind von Migranten, plötzlich wegrationalisiert, hustlet auf der Hasenheide, die vorgetäuschte Coolness zu wahren bemüht, während um ihn herum die Welt – ja, unsere heutige Welt! – Schritt für Schritt vor die Hunde geht… Aber schon klar, wir müssen uns bis auf weiteres mit Erde-1 begnügen.
Das Schlussbild wiederum ist ein brillanter und zugleich auch der einzig genuin berührende Einfall Grafs, wenn er über das Ende des Romans hinaus einen Bogen schlägt zum verhängnisvollen Abend des 10. Mai 1933, den Kästner selbst als Opfer und Augenzeuge miterleben musste. Danach weiß jeder selbst, ob er sich angesichts dieser ästhetischen Sturmflut genauso an den Mast krallen musste wie dieser Rezensent. In jedem Falle sollte man schwimmen lernen.