Encanto

USA 2021 · 103 min. · FSK: ab 0
Regie: Jared Bush, Byron Howard, Charise Castro Smith
Drehbuch: , ,
Musik: Germaine Franco
Schnitt: Jeremy Milton
Familie als Schreckgespenst
(Foto: Disney)

Der Fluch der besonderen Gabe

Als ob Hollywood nichts Neues mehr einfällt – mit seiner süß-sauren familienpsychologischen Bestandsaufsaufname Encanto bedient Disney dieses Mal nicht nur Familien, sondern auch deren Therapeuten

Wer nur mit einem Auge auf Hollywood blickt wie zuletzt unser Cinema Moralia, dem mag bei all den Remakes, Sequels und Prequels das Grauen kommen, wer jedoch beide Augen öffnet und sich allein Disneys Gesamt­ka­talog für das Jahr 2021 ansieht, wird fest­stellen, dass das Portfolio voller Risiken und kreativer Untiefen steckt, dass hier die auf Sicher­heit bedachte Block­buster-Politik mit Titeln wie Spider-Man: No Way Home oder West Side Story letzt­end­lich nur dazu dient, riskante Projekte wie Ridley Scotts düster-nihi­lis­ti­sches Ritter­drama The Last Duel oder Peter Jacksons über­ra­gend-nerdige Doku The Beatles: Get Back quer­zu­fi­nan­zieren. Oder sich erneut auf einen originären Stoff und seine Umsetzung von Jared Bush und Byron Howard einzu­lassen, die bereits 2016 mit Zootopia zeigten, dass Zeichen­trick­film auch hoch­po­li­tisch für die ganze Familie funk­tio­nieren kann.

Mit Encanto gehen die beiden Regis­seure und Dreh­buch­au­toren erneut einen unge­wöhn­li­chen Weg. Nicht nur die Wahl des Ortes, das kolum­bia­ni­sche Hochland, über­rascht, sondern auch eine dezidiert indigene Perspek­tive wie sie zuletzt über­zeu­gend in Coco umgesetzt wurde. War es dort die singuläre Beschäf­ti­gung mit dem Tod und trans­ge­ne­ra­tio­nalen Traumata, so weitet sich hier der Blick noch einmal. Zwar erzählt auch Encanto von einer Trau­ma­ti­sie­rung, aller­dings nicht durch die Musik, sondern die jahr­zehn­te­langen kolum­bia­ni­schen Bürger­kriege, die über eine betrof­fene Familie thema­ti­siert werden. Gleich­zeitig wird jedoch auch über die gnaden­lose Binnen­psy­cho­logie moderner Familien erzählt, die mit ihren Heli­ko­pter- und Über­el­tern-Syndromen mehr kaputt­ma­chen als heilen.

Aber keine Angst. Wie bislang jeder Disney-Stoff werden auch diese heiklen Themen in kunst­vollste, thera­peu­ti­sche Zucker­watte gepackt, so dass tatsäch­lich jeder nur das sieht, was er auch erträgt. So dürften kleine Kinder vom magischen Realismus der Handlung angezogen werden, in der durch eindring­liche, kolum­bia­nisch-folk­lo­ris­tisch inspi­rierte Anima­tionen die Geschichte der Familie Madrigal erzählt wird, die in einer verwun­schenen Stadt in den Bergen Kolum­biens lebt, und in der bislang jedes Kind sich durch eine besondere Gabe auszeichnet – sei es Blumen wachsen zu lassen oder die Sprache der Tiere zu verstehen. Bis auf die inzwi­schen 14-jährige Mirabel, die während ihres Über­gangs­ri­tuals keine Gabe verliehen bekommen hat und dementspre­chend darunter leidet, mehr noch als die Matri­ar­chin der Familie dies auch als Defizit wertet. Ein klas­si­sches Kinder­film­motiv, das auch klassisch und mit den üblichen, Krisen- und Freude beglei­tenden Disney-Songs (von Coco-Komponist Germaine Franco) behutsam aufgelöst wird.

Für ältere Kinder und inter­es­sierte Eltern wird jedoch nicht nur deutlich, was ein im Bürger­krieg erlit­tenes Trauma (der Ehemann der Matri­ar­chin wird bei der Flucht vor einem bewaff­neten Überfall getötet) für eine Familie bedeutet – nämlich ein lebens­langes »Versteck­spiel« vor der Realität –, sondern es wird vor allem die psycho­lo­gi­sche Binnen­per­spek­tive einer Familie ausge­leuchtet, die eben nicht nur in einem terrorü­ber­zo­genen Land wie dem früheren Kolumbien zu finden ist, sondern inzwi­schen wohl die Stan­dard­fa­mi­lien-Variante in fast jedem west­li­chen Land ist.

Eine Familie, in der die Eltern, in diesem Fall die Mutter und Groß­mutter, ihre Kinder zur »Beson­der­heit« animieren oder mit Talenten »ausstatten«, weil nur diese »Allein­stel­lungs­merk­male« in einem kapi­ta­lis­ti­schen System erfolg­ver­spre­chend sind und die Familie auch als Familie erst erfolg­reich, also reich ist. Was in Encanto mit entspre­chend dras­ti­schen Bildern illus­triert wird: Liegt das Haus der Madrigals auf einem Hügel, so resi­dieren die Nicht-Begabten als simpel Glück­liche in den Niede­rungen des kleinen Tals. Wie hoch der Preis für diese Hier­ar­chien und Talent­hu­be­reien ist, wird im Laufe des Film immer mani­fester, bilden sich in der glit­zernden, sich ständig selbst­be­s­tä­ti­genden Fami­li­en­har­monie doch zunehmend Risse, die weit über die Gegenwart und die psychi­schen Irri­ta­tionen hinaus­rei­chen.

Dass es oft eine tatsäch­lich destruk­tive Therapie braucht, nämlich eine psychisch wie physische Erneue­rung, zeigt Encanto ebenfalls und wird erst am Ende etwas zu »magisch« und versöh­nend, will hier wohl niemand Albträume riskieren wie sie etwa in Henry Selicks thema­tisch verwandtem Coraline durchaus vorstellbar sind.

Doch scheint diese Vorsicht sich bislang nicht ausge­zahlt zu haben, ist der Film bei all der bunten Barbarei und dem fami­li­en­the­ra­peu­ti­schen Subtext viel­leicht doch zu komplex, denn seit dem vier­wöchigen Kino­re­lease-Zeit­fenster (bis zur Disney+-Veröf­fent­li­chung am 24.12.2021) hat Encanto bislang nur knapp die Hälfte der für einen Break-even notwen­digen 400 Millionen Dollar einge­spielt. Gut möglich also, dass dieser Verlust ein weiteres Franchise-Abenteuer nach sich ziehen wird.