Crimes of the Future

CDN/F/GR/GB 2022 · 108 min. · FSK: ab 16
Regie: David Cronenberg
Drehbuch:
Kamera: Douglas Koch
Darsteller: Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart, Scott Speedman, Don McKellar u.a.
Immer noch neuere Organe
(Foto: Weltkino Filmverleih)

Körperunterwelten

Was David Cronenberg mit Crimes of the Future auf das Publikum niedersausen lässt, ist ein Spektakel, das an die Organe geht. Sofort einordnen muss man das alles nicht

Man denkt, es ist klar, worauf man sich einlässt. Wenn Cronen­berg drauf­steht, wird auch Cronen­berg drin sein. Und wenn es wie bei Crimes of the Future um die Rückkehr zu den blutigen Body-Horror-Wurzeln von Die Brut und Die Fliege geht, dann scheint die Amour fou zwischen Mensch und Technik, die in psycho­sexu­ellem Gemansche gipfelt, schon program­miert. Doch trotzdem lassen einen schon die ersten Minuten ratlos zurück. Da mampft ein Kind einen Plas­tik­mül­l­eimer und wird von der Mutter mit einem Kissen erstickt. In der nächsten Szene erwacht Viggo Mortensen in einem riesigen Apparat, der aussieht wie eine Walnuss aus Fleisch, und erklärt Léa Seydoux, dass dieses Bett eine neue Software brauche. Will­kommen im Wahnsinn.

Auch wenn es in Video­drome und eXistenZ noch so abstrus zuging, diese Filme hatten zumindest noch ein Bein in unserer wirk­li­chen Welt, bevor es bizarr wurde. Von der sind in Crimes of the Future nur Ruinen übrig geblieben. Diese nahe Zukunft ist herun­ter­ge­kommen und verödet, lediglich ihre Bewohner haben sich in eine vermeint­lich fort­schritt­liche Richtung entwi­ckelt. Das »Beschleu­nigte Evolu­ti­ons­syn­drom« sorgt dafür, dass der mensch­liche Körper immer neue unglaub­liche Stadien erreicht. So ist es für die meisten nicht mehr möglich, Schmerz zu empfinden. Auch Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux) sind Exemplare der weiter­ent­wi­ckelten Gattung. Wobei Saul wieder ein ganz beson­derer Fall ist: Dauernd wachsen ihm neue, doch sinn­lo­sere Organe. Das Paar macht aus diesem Überwuchs Kunst in Gestalt von aufse­hen­er­re­genden Perfor­mances, bei denen Caprice die neuen Innereien noch in Sauls Körper tätowiert und sie vor begeis­tertem Publikum heraus­ope­riert.

Ganz klar, nur wenige Regis­seure können es sich trauen, mit solchen Ideen um die Ecke zu kommen. Und irgendwie ist Crimes of the Future der Film, den man von David Cronen­berg schon lange sehen wollte. Für allzu Zart­be­sai­tete ist das Ganze natürlich nichts, dennoch ist der Ekel­faktor bei aller expli­ziten Organ­be­schauung relativ niedrig. Dieses Werk ist kein effekt­ha­sche­ri­sches Splatter-Event, vielmehr eine ästhe­ti­sche Einladung in faszi­nie­rende Körper­welten, der einzigen Sinnes­freude in dieser post­apo­ka­lyp­ti­schen Welt. Die Gefühls­wal­lungen beim Zusehen sind schwer zu beschreiben. Auf der einen Seite ist das Gezeigte natürlich verstö­rend, geht es doch im wahrsten Sinne an die Substanz, auf der anderen Seite ist die Sinn­lich­keit des Ganzen wirklich nicht zu leugnen. Mitunter wirkt Crimes of the Future wie ein verfilmtes Francis-Bacon-Gemälde, zu dem J.G. Ballard und William S. Burroughs das Drehbuch schrieben (beide hat Cronen­berg ja bereits verfilmt).

Was jedoch wirklich anstren­gend sein kann, ist der Versuch, dieser wahn­wit­zigen Handlung zu folgen. Neben den Kunst­ken­nern haben Saul und Caprice noch ganz andere Inter­es­senten auf sich gezogen. Da gibt es noch die National Organ Registry mit ihren beiden Beamten Wippet (Don McKellar) und Timlin (eine herrlich aufge­kratzte Kristen Stewart), die eine über­trie­bene Begeis­te­rung für Sauls Innen­leben hegen. Als Krönung des Ganzen tritt eine myste­riöse Unter­grund­or­ga­ni­sa­tion auf, angeführt von Lang Dotrice (Scott Speedman), die bereits die nächste Stufe der mensch­li­chen Trans­for­ma­tion vorweg­nimmt und von der Bekannt­heit des Künstler-Duos profi­tieren will. Und die Polizei in Gestalt von Cope (Welket Bungué) steht natürlich auch bereit.

Hier irgend­etwas zu verstehen, wird mitunter zur Zerreiß­probe. Wie bereits gesagt, Cronen­berg schmeißt das Publikum ohne Gnade ins kalte Wasser und lässt es ohne Kompass in seiner Dystopie umher­irren. Erst nach und nach ergeben sich Zusam­men­hänge, die man selbst zu einem Ganzen verweben muss. Natürlich kommt auch immer mehr die Frage auf, was Crimes of the Future eigent­lich sein will. Eine surreale Satire oder doch nur eine obsessive Tech-noir-Fantasie, die um ihrer selbst willen verstört? Die Verzwei­gungen zum Hier und Jetzt sind in dieser Melange aus Trans­hu­ma­nismus und Maso­chismus gegeben. »Opera­tionen sind der neue Sex« und Tumore die neue Kunst. Ohne Rücksicht auf sich selbst zerren die Haupt­fi­guren ihr Innerstes an die Öffent­lich­keit, nicht nur das Schmerz­emp­finden, sondern auch die Scham­grenze scheint in der rasanten Evolution zu verwäs­sern. Eine Medi­ta­tion über Kunst oder Social Media? Der Mensch wächst auf jeden Fall über sich hinaus, während die Welt um ihn herum verkommt. Letzten Endes ist das Innen das neue Außen und dessen schöner Schein täuscht wunderbar über jegliche Verfalls­er­schei­nungen hinweg. Ach ja, Plastik und seine neue Beziehung zum mensch­li­chen Körper spielt irgend­wann auch eine sehr spannende Rolle.

Daneben funk­tio­niert Crimes of the Future aber auch als düster-roman­tisch in Szene gesetzter Körper­horror, als ein Film, der kompro­misslos er selbst ist, und aus den tiefsten Löchern der Krea­ti­vität schöpft. Ob man in ihm verwirrt taumelt oder genuss­voll lust­wan­delt, muss man mit sich selbst ausmachen. Auf der Leinwand tut sich ein Gemälde auf, das erst nach längerem Hinsehen seine Details preisgibt. Crimes of the Future provo­ziert Fragen im Gehirn des Zuschauers, welche das jedoch sind, kann man zuvor – und auch direkt danach – schwer sagen. Kurzum, dieser Film ist ein hervor­ra­gendes Alters­werk Cronen­bergs, bei dem er noch mal alle Register zieht, für die sein Name steht.

Wir ewigen Mutanten!

Wie eine unfreiwillige Selbstparodie: David Cronenbergs beunruhigender, schräger Film Crimes of the Future zeigt die Hinfälligkeit alles Körperlichen

»We all thought that the body was empty. Empty of meaning. And we've wanted to confirm that. So that we could fill it with meaning.«
Caprice (Lea Seydoux) in Crimes of the Future

Die Anfangscredits sind über eine pupurrote diffuse Ober­fläche gelegt. Ein bisschen wie ein Samttuch, ein Kardi­nals­mantel. Das weckt Erwar­tungen. Dann folgt ein erstes tolles Bild. Man sieht ein gestran­detes Schiff; es ist zur Seite hin umgekippt. Ein Junge spielt am Strand, doch kurz darauf im Bad nimmt er einen Plas­tik­eimer – und isst ihn! Er kann Plastik verdauen, er ist ein kleines Monster und seine Mutter tut, was eine Mutter tun muss, und tötet den Sohn. Eine tolle erste Szene.

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»Body­horror« – wer da zuerst an Heidi Klum denkt, liegt vermut­lich gar nicht falsch.
Trotzdem: Dieses Wort »Body­horror« steht wie kein zweites für das Werk des kana­di­schen Regis­seurs David Cronen­berg. Seit jeher hat sich Cronen­berg – zum Beispiel in heraus­ra­genden Filmen wie Video­drome (1982), Die Fliege (1986) und eXistenZ (1999) – den Abgründen des Leib­li­chen verschrieben und die Schnitt­stellen zwischen Mensch und Maschine erforscht.
Mit seinem neuen Film Crimes of the Future (auf deutsch also wörtlich »Verbre­chen der Zukunft«) kehrt der 1943 geborene Cronen­berg jetzt zu seinen Ursprüngen zurück – in doppelter Hinsicht: Denn tatsäch­lich gab es schon einen Film Cronen­bergs, der genau diesen Titel trägt. Es ist sein zweiter, er stammt aus dem Jahr 1970. Zwar geht es um ähnliche Themen wie Kosmetik, Körper­ver­zer­rung und perversen Sex, der Film ist aber kein Prequel.

Jetzt erzählt Cronen­berg von einer dysto­pi­schen Welt, in der es keine Schmerzen gibt, dafür künst­liche Organe, die Geschwüren gleichen und in der der mensch­liche Körper zum Objekt schräger Kunst­per­for­mances geworden ist.

Cronen­bergs neuer Film spielt in einer Zukunft, in der die Menschen mutieren. Das soge­nannte Syndrom der »beschleu­nigten Evolution« führt dazu, dass sich in dieser schön-schreck­li­chen neuen Welt die mensch­li­chen Körper auf bizarre Weise verändern und manchmal rätsel­haft anziehend, manchmal abstoßend ekel­er­re­gend aussehen. In jedem Fall grotesk. Aber auch die Maßstäbe scheinen komplett verloren gegangen. Body-Shaming ist ein Fremdwort. Manche Menschen nähen sich Ohren an ihren Körper und tanzen mit ihm öffent­lich zu Musik an der Schnitt­stelle zwischen Ballett und HipHop; andere müssen sich öffent­li­chen Opera­tionen unter­ziehen – zur Unter­hal­tung des Publikums werden Organe aus ihrem Körper entfernt.
In einigen Fällen können die Körper­mu­ta­tionen aber auch die Fähigkeit der Menschen, ein normales Leben zu führen, beein­träch­tigen.

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Die Haupt­fi­guren von Crimes of the Future sind Saul Tenser (charis­ma­tisch verkör­pert von Viggo Mortensen) und seine Assis­tentin und Beglei­terin Caprice (großartig gespielt von Léa Seydoux). Saul »leidet« an genau diesem Syndrom: In seinem Körper haben sich Organe gebildet, die der Wissen­schaft unbekannt sind und deren Funk­ti­ons­weise nicht sehr gut unter­sucht ist. Aber es ist eigent­lich auch unnötig, sie zu studieren. Wozu noch Wissen?

Die Welt der Zukunft ist eine offene Welt, in der nichts versteckt sein soll, in der es aber auch keine Geheim­nisse zu geben scheint. Es herrscht der Terror der Trans­pa­renz. Dafür ist Paranoia allge­gen­wärtig. Fake News stehen gleich­be­rech­tigt neben Fakten.

Weil es in Cronen­bergs Fanta­sie­welt keinen Schmerz mehr gibt, gibt es auch keinen Fort­schritt. Gesell­schaft und Kultur stagnieren. Das haupt­säch­liche Hobby dieser neuen Menschen ist es, sich gegen­seitig auf subtile Art und Weise zu verstüm­meln – da sie eben keinen Schmerz mehr empfinden, ist dieser Vorgang für sie seltsam lustvoll. Für Saul ist das Heraus­schneiden von Organen der Weg zu einer Art innerer Erlösung.

Caprice hingegen glaubt, dass die neuen Organe so etwas wie Krebs­tu­more sind, die recht­zeitig ausge­rottet werden müssen. Denn der Tod ist in der Welt der Zukunft immer noch unver­meid­lich.

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Insgesamt ist die Welt der Zukunft in diesem Film ein trauriges Schau­spiel. Man darf nicht darauf hoffen, dass der Film irgend­einen futu­ris­ti­schen Drive besäße, oder auch nur die bissige Ironie von eXistenZ. Trotz seiner schräg anmu­tenden Optik fällt es schwer, den Film als eine Geschichte über die Zukunft selbst zu sehen. Es blinken keine Neon­lichter, es gibt keine einzig­ar­tigen neuen Verkehrs­mittel, und die Gebäude sehen aus wie die, die wir heute auf der Straße sehen.
Der Film schafft es aber nicht, seine Zuschauer in die entspre­chende Atmo­s­phäre eintau­chen zu lassen – die ganze Umgebung atmet viel eher den Hauch einer buchs­täb­lich muffigen altmo­di­schen Welt, eine depres­sive Dystopie, die visuell an Spider erinnert, oder an die großar­tigen Earwig (2021), Evolution (2013) und Innocence (2008) von Lucile Hadzi­ha­li­l­ovic. Aber sie entfalten keine kraft­volle Wirkung, weil die Details, die sie erzeugen könnten, einfach nicht vorhanden sind. Hinzu kommt, dass das schmale Budget Cronen­berg zusätz­lich behin­derte, es nicht erlaubte, das volle Potential seiner Vorstel­lungs­kraft zu entfalten.

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»Weird«, das englische Wort zwischen »seltsam«, »schräg«, »durch­ge­knallt« und »gestört«, fasst den Eindruck am besten, den Crimes of the Future hinter­lässt.
Das Beste, was der kana­di­sche Meis­ter­re­gis­seur hier vorweisen kann, sind erstaun­liche und stilvolle visuelle Effekte. Die Dialoge und das Drehbuch sind dagegen das schwache Element des Films.

»Let us create what will guide us into the heart of darkness.«... »I don’t like what’s happening with the body. Espe­cially what’s happening with my body....«

In diesem Film fallen solche Sätze, wie sie nur in Cronen­berg-Filmen fallen können, ohne dass man lacht: »Body is reality.« Bähm!
»Surgery is the new sex.« Bumm! (Da haben dann aller­dings in der Vorstel­lung, in der ich war, doch einige gelacht.) Trotzdem: Solche Sätze muss man erstmal hinschreiben. Aber es reicht diesmal nicht wirklich, um aus diesem Film ein so einma­liges, in aller Verstö­rung auch produktiv welt­ver­än­derndes Erlebnis zu machen, wie es andere Cronen­berg-Filme waren.

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Die Charak­tere sind nicht entwi­ckelt, ihre Charak­ter­zeich­nung ist geradezu unbe­holfen. Das gilt auch für manche Momente der Schau­spiel­auf­tritte: Es scheint, dass in der Welt der Zukunft nicht nur der Schmerz verschwindet, sondern alle möglichen sinn­li­chen Ausdrucks­formen der mensch­li­chen Natur, einschließ­lich der Gefühle. Alles wirkt seltsam steril.
Das Drehbuch lässt gar keine echten schau­spie­le­ri­schen Höchst­leis­tungen zu. Die Handlung von Seydoux' Figur beispiels­weise wird auf die lange Bank geschoben, und die Art ihrer Beziehung zu Morten­sens Figur bleibt bis zum Schluss des Films unklar.

Dennoch verdienen die Schau­spieler ein unein­ge­schränktes Lob. Sowohl Viggo Mortensen als auch Léa Seydoux und Kristen Stewart, die später zu den beiden stößt, geben alles – so gut sie es unter diesen Umständen können.

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Crimes of the Future ist von einer tragi­schen Grund­stim­mung durch­zogen, alles ist humorlos, alles ist auch ein bisschen gestört, aber man begreift nicht wirklich, warum. Manchmal wirkt alles wie die Parodie eines Cronen­berg-Films, und zwar wie eine unfrei­wil­lige Selbst­par­odie.

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Die Themen körper­liche Verwand­lungen und orga­ni­sche Muta­tionen waren schon immer Cronen­bergs Lieb­lings­themen: Seine bekannten Obses­sionen sind auch hier sehr präsent, aber diese beun­ru­hi­gende filmische Medi­ta­tion über Kunst und Evolution ist keines­wegs in jeder Hinsicht ein Triumph. Viele Subtexte wirken aufge­setzt, Einfälle präten­tiös, Nuancen ener­vie­rend, Wieder­ho­lungen zeit­schin­dend.

Zugleich ist Crimes of the Future ein Film, der sich seines Platzes im Werk des Filme­ma­chers sehr bewusst ist. Fast eine Art Schluss­stein der Cronen­berg-Kathe­drale. Er nimmt nicht nur visuelle und erzäh­le­ri­sche Elemente aus früheren Werken wieder auf, sondern direkt auf mehrere von ihnen Bezug. Cronen­berg greift einige Entwick­lungen der Jahr­zehnte in der Welt auf (wie die Verschär­fung der Klima­krise, den Wahnsinn der Beziehung zwischen Kunst und sozialen Netz­werken, das Universum der plas­ti­schen Chirurgie) und formu­liert den Triumph eines Recht­ha­bers (»Ich habe es euch ja gesagt!«) in Form eines Spiel­films.

Dazu gehören auch philo­so­phisch-exis­ten­tia­lis­ti­sche Debatten, die hier mitunter die visuellen Schocks und Einfälle in den Schatten stellen. »Welcome to the New Flesh«, rief James Woods am Ende von Video­drome. »Good-bye to the New Flesh« könnte der Schluss­satz von Crimes of the Future sein. Aber es ist Cronen­berg selbst, der seinen gesamten Film auf einer Rückkehr zum alten Fleisch aufbaut. Und sich vom Kult des Körper­li­chen, den er einst selbst beför­derte, verab­schiedet.

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Den Film ein zweites Mal zu sehen, nutzt ohne Frage. Trotzdem bleibt das Gesamt­ergebnis ein beun­ru­hi­gender, vor allem ein schräger Film, sehr fremd für die einen und wunderbar für kritik­lose Fans, ansonsten heraus­for­dernd für uns alle, die wir dank Cronen­bergs Kino unsere eigene Existenz gelernt haben, als die von ewigen Mutanten zu verstehen.