21.10.2004

»Man macht sich was vor, und das ist auch gut so…«

Szenenbild aus AGNES UND SEINE BRÜDER
Nie den Blick unter die Oberfläche vergessen

Oskar Roehler unplugged

»Warum haben Sie diesen Film gemacht?« – manchmal geht es auch anders, wenn man einen Regisseur inter­viewt. Voraus­set­zung: Der hat was in der Birne, und Lust, sich selber Fragen zu stellen, etwas mehr von sich preis­zu­geben, als im Pres­se­heft steht. Bei Oskar Roehler musste man daran keine ernst­haften Zweifel haben – dazu genügt es schon, sich seine Filme näher anzusehen. Hier nun, zum Filmstart von Agnes und seine Brüder, das Ergebnis: Ein unge­wöhn­li­ches Gespräch mit einem unge­wöhn­li­chen Regisseur von Rüdiger Suchsland

Artechock: Beim Festival in San Sebastian lief gerade ein Doku­men­tar­film von der Schau­spie­lerin Maria de Medeiros – über die Beziehung zwischen Filme­ma­chern und Kritikern. Es kommt dabei schon deutlich heraus, dass beide Seiten im Grunde anein­ander vorbei­reden, eine sonder­bare Nicht-Beziehung haben. Ande­rer­seits gibt es auch richtige Liebes­ver­hält­nisse, in beide Rich­tungen. Heute gibst Du den ganzen Tag Inter­views. Warum machst Du so etwas – falls es überhaupt um mehr geht, als den Film zu verkaufen? Wie wichtig sind für Dich eigent­lich Kritiker? Sind sie überhaupt wichtig? Welche Form von Relevanz hat das?

Oskar Roehler: [zögert] Puh, das ist 'ne gute Frage. Denn irgendwie ist das ja Ich weiß es nicht Ich hab in letzter Zeit auch anhand der Kritiken, die ich jetzt über meine Filme lese – wo man sich natürlich über die guten freut, über die schlechten ärgert – habe ich natürlich bei den schlechten auch das Gefühl, dass da oft viele Animo­si­täten mit hinein­spielen, die eigent­lich mit dem Film gar nichts zu tun haben. Das ist aber vers­tänd­lich – genau so wie Du als Filme­ma­cher über Deinen eigenen Beruf nach­denkst, denkst Du auch über den Beruf der Kritiker nach, weil die einfach auch eng mit Dir verbunden sind. Und Du weißt dann, ok, dass sind die Typen, die sind gezwungen, morgens um 11 in irgend 'ne Pres­se­vor­füh­rung zu gehen...

artechock: 11 Uhr? Um 8.30 in Venedig oder Cannes! Das heißt, wir stehen um 7 auf. Und dann müssen wir uns Dogville angucken.

Roehler: [lacht] … Das finde ich zum Beispiel schon wieder okay. Da könnte ich mir sogar vorstellen, dass ich da auch mitmachen könnte, mental; und auch gerecht bleiben würde. Ich rede einfach von diesem every-day-life: Wenn Du Film­kri­tiker bist, und Du musst da dreimal pro Woche um 11 Uhr in ein Presse-Screening, und dann musst Du Dir irgend­einen Meg-Ryan-Film angucken. Wozu Du eigent­lich überhaupt keinen Bock hast!

Das ist einfach so ein voll­kommen falsches Timing. Viel­leicht hättest Du ja Lust, wenn Du nicht gezwungen wärst, irgend­wann mal abends mit Deiner Freundin in diesen Meg-Ryan-Film zu gehen. Und viel­leicht würdest Du ihn sogar gut finden. Oder zumindest okay. Und würdest nicht sofort abkotzen. Aber so – bleibt Dir eigent­lich nichts anderes übrig, als sofort abzu­kotzen.

Und damit fängt’s schon mal an: Irgendwo stimmt da was nicht. Genauso wie man in der Politik was ändert, muss man da einfach was ändern.

artechock: Filme abends zeigen? Weil Kino eigent­lich auch zur Dunkel­heit, zur Nacht gehört...

Roehler: Zum Beispiel.

artechock: Aber es gibt natürlich auch viele Schicht­ar­beiter unter den Kritikern, die mögen das dann wieder nicht und motzen.

Roehler: Okay, die können ja auch morgens gehen.
Aber dieser Spaß­faktor, der fehlt halt den Kritikern in dem Moment oft. Aber wenn Du den Film aufnimmst, für Dich, ist es ja wahn­sinnig wichtig, ob Du dann auf den Film Lust hast. Wie oft habe ich mich schon beob­achtet, dass ich ins Kino ging, weil ich mich abends gelang­weilt habe, und dann so eine halb­sei­dene Entschei­dung getroffen: Okay, dann guck ich mir jetzt keine Ahnung was an – ich war immer enttäuscht. Aber wenn ich auf irgend­einen Film Bock hatte, dann musste der nicht unbedingt perfekt sein, aber ich fand ihn trotzdem gut.

Was mich bei der Kritik oft stört, ist, dass da so bestimmte Ikonen hoch­ge­halten werden: Die sind immer spröde, immer streng. Es passiert in den Filmen eigent­lich immer nichts. Sie sind immer langsam, immer trist, es wird eigent­lich nie etwas wirklich gesagt in den Filmen – und das ist dann »die Berliner Schule«, die kommen immer gut weg und haben dann so 5000 bis 10.000 Zuschauer.

Da kann ich dann jemand wie Sönke Wortmann oder Detlev Buck verstehen, wenn die dann sagen, sie lesen keine Kritiken mehr.
Für mich ist das anders. Denn ich reagiere schon immer noch ziemlich deutlich auf die Kritik. Für mich ist das ein klarer Grad­messer, wie ein Film ankommt. Auch wenn ich trotzdem das Gefühl habe, dass da so eine kleine Nebel­schicht, irgendso eine kleine Wand von nicht ganz toller Publi­kums­stim­mung da mitspielt. Denn Du bist eben Kritiker, und Du kannst nicht immer nur Elogen schreiben. Oder?

artechock: Naja, Du schreibst aber als Kritiker auch nicht fürs Publikum – in so einen ganz direkten Sinn. Das geht ja auch gar nicht, Du kennst die Leute nicht. Und das sind hundert­tau­send Leute, da gibt es immer welche, die Dich für 'nen Depp halten und andere, die Dir Liebes­briefe schreiben. Du schreibst genauso für den Filme­ma­cher selbst, und für andere Kritiker, mit denen Du in einem direkten oder indi­rekten Dialog stehst. Und für Dich selbst, dafür, Deinem Gewissen gegenüber das Ange­mes­sene geschrieben zu haben. Im Idealfall auch für die Film­ge­schichte, dafür, dass Du das und das gesagt hast, als erster, dass man es später bei Dir nachlesen kann.
Sachlich-praktisch schreibst Du sowieso für Deinen Redakteur. Und wenn Du selbst Redakteur bist, schreibst Du für Deinen Kultur-Chef. Also für den, der Dein Super­visor ist, und Dich letztlich bezahlt.
So, wie Du vermut­lich als Regisseur ab und zu etwas machst, bei dem Du schon in dem Moment weißt: Das ist jetzt ein Kompro­miss – aber das gefällt Deinem Produ­zenten Stefan Arndt. Oder das musst Du sogar machen, weil er das so will, weil er den Film verkaufen muss. Viel­leicht würdest Du in zwei, drei Momenten mutiger sein, schräger, oder Dir einfach etwas erlauben, von dem Du weißt, dass ist jetzt viel­leicht ein Scheiß, aber ein Scheiß, der Dir gefällt. So eine innere Schere hast Du als Kritiker natürlich auch...

Roehler: Und wie sieht die aus? Wie äußert sich die, was heißt das konkret? Nicht schlecht schreiben über manches, oder nicht zu gut schreiben über anderes?.

artechock: Nein, nein, die Meinung beein­träch­tigt das nicht. Aber es beein­träch­tigt sicher die Art und Weise, wie Du eine Meinung ausdrückst. Weil Du schon mal weißt, die kommen dann an, und sagen: »Diesen Satz verstehen jetzt unsere Leser nicht.« Das ist so eine beliebte Floskel. Letzt­end­lich versteht es dann eigent­lich der Redakteur nicht – viel­leicht sogar gerade nur aus Denk­faul­heit.
Du erklärst letztlich etwas dem Redakteur. Du erklärst dem etwas, von dem Du viel­leicht sogar meinst, das müssten die Leser nicht erklärt bekommen. Oder: Die, die meinen Text lesen, die wissen das. Aber der Redakteur liest den ja auch, und der weiß das nicht. Also muss ich es dem jetzt erklären. Das sind so die Einschrän­kungen.
Oder Du sicherst Dich ab mit zwei, drei einschrän­kenden, objek­tiven Sätzen, weil sie sonst sagen: Das ist „zu“… zu pathe­tisch zum Beispiel. Du darfst ja nicht ganz subjektiv sein. Das kannst Du, wenn Du Redakteur bist. Michael Althen kann das, aber ich kann das so nicht.
Aber was ich klar­stellen wollte: Natürlich schreibe ich fürs Publikum, ich will auch, dass die Leute meine Texte mögen, freue mich auch, wenn die Leute es wenigs­tens schreiben. Ich beant­worte auch e-mails. Eigent­lich jede, auch noch die dümmste Dreck-e-mail. Bloß: Ich bin kein Restau­rant­kri­tiker – der dann am Ende sagt: Da schmeckt’s, und dort versalzt der Koch sein Essen.

Roehler: [lacht] Jaja, das verwech­selt man halt immer. Du denkst halt als Regisseur immer, die Kritiker sollten eigent­lich eine Werbe­fläche für Deine Filme sein.

artechock: Oder: »Hier lohnt sich die Geld­aus­gabe!« Das ist mir so scheißegal! Zum Beispiel „Berliner Schule“: Angela Scha­nelecs letzter Film, der hat mir weißgott nicht gefallen. Das habe ich auch geschrieben. Bloß würde ich das unter Umständen auch weglassen. Auf einem Festival kann man eher noch einfach schreiben: Das war jetzt nix.
Aber wenn der dann rauskommt, würde ich, wenn ich den überhaupt bespreche – man kann es ja auch einfach lassen, und sagen: Soll jemand anders machen. Aber das ist auch gönner­haft – dann würde ich auch schreiben: Leute geht doch mal rein. Guckt Euch das mal an, lasst Euch mal' drauf ein. Ihr geht in alle Wortmann-Filme, jetzt könnt ihr Euch auch mal 'nen Schanelec-Film angucken. Das ist etwas anderes – da erfährt man was darüber, wie Kino ist.
Schanelec ist viel­leicht jetzt deswegen ein schlechtes Beispiel, weil sie sehr deutlich raus­hängen läßt, dass sie am Publikum gar nicht inter­es­siert ist, dass sie keinen Wert darauf legt, die Leute, die in Wortmann-Filme gehen, auch mal für etwas anderes zu inter­es­sieren.
Aber ich mag Christian Petzolds Filme. In Christian-Petzolds Filme muss man reingehen. Da kann man sich unter Umständen auch lang­weilen, oder denken: Das ist jetzt eine Form von Strenge, die ich gerade überhaupt nicht brauche. Aber es ist doch jeden­falls ein bestimmter Gewinn, die man darin hat.
Es gibt auch Leute, die finden Deine Filme geschmacklos. Da würde ich dann auch sagen: Ja kann ja sein. Was muss der da im Wohn­zimmer kacken? Aber trotzdem: Guckt es Euch mal an. Das ist doch lustig.

Roehler: Aber das ist doch gar nicht so geschmacklos insze­niert. Das ist doch eigent­lich eher als Comedy und lustig insze­niert. Du siehst ja nicht mal was. Alles, was drastisch ist, wurde doch im Gegenzug eigent­lich unheim­lich diskret behandelt. Von daher haben wir da sehr drauf geachtet. Ganz bewusst. Ich wollte da einfach keinen Trash rein­kommen lassen….

artechock: Aber so bestimmte Extreme natürlich schon. Von extremen Gefühlen, extremen Lebens­lagen: es gibt Sex, es gibt Mord, alles Mögliche

Roehler: Ja schon. Aber ich wollte eigent­lich ganz normale Menschen in ganz normalen Berufs- und Arbeits­si­tua­tionen zeigen. Nämlich die drei Brüder. Einer von ihnen fällt natürlich wieder aus dieser Norma­lität raus, der ist wieder etwas anderes. Aber die beiden anderen funk­tio­nieren eigent­lich in unserer Gesell­schaft. Du siehst sie – und Du kannst sie sofort einschätzen, Du weißt sofort, was für ein Typ das ist. Und dann bekommst du langsam mit, dass da eigent­lich allerhand nicht stimmt. Das verfolge ich. Ich verfolge eigent­lich im Prinzip das Martyrium von ganz normalen kleinen Helden innerhalb ihres Alltags.

Wie sie nicht klar­kommen mit der Einsam­keit. Mit ihren Ängsten. Dass sie ihre Sehn­süchte nicht ausleben können. Dass irgend­wann die Frage im Raum steht: Ist in meinem Leben überhaupt noch Liebe? Oder wie komme ich denn da überhaupt wieder raus, ohne dass ich aus dem Fenster springen muss? Wo gibt es einen Weg raus? Und da zeige ich auch ein bisschen, wie die Gesell­schaft so funk­tio­niert. Nämlich dass es Selbst­hil­fe­gruppen gibt, und dass man viel­leicht sein Glück in der Porno­film­pro­duk­tion findet und nicht unbedingt da, wo man es erwartet.

Aber ich mache das dann immer mit so 'nem Tick „bigger than life“. Ich wollte nicht die Realität einfach abfilmen, oder in diesem Doku-Stil arbeiten, den viele benutzen. Weil der doch recht flach bleibt. Sondern die Haupt­fi­guren in meinem Film beob­achten, das sind Beob­achter. Wie im ameri­ka­ni­schen Kino. Das findest Du im deutschen Kino kaum. Du voll­ziehst als Zuschauer im Film nach, was sie sehen, Du siehst, was die beob­achten.

artechock: Du beob­ach­test die Beob­achter...

Roehler: Du beob­ach­test mit denen. Und Du siehst dann gleich­zeitig auch: Die schätzen das völlig falsch ein, was sie da sehen: Scheiße, jetzt knallt der seinen Alten ab, oder was macht der als nächstes? Und dadurch entsteht im Film so 'ne Spannung, weil ich mit dem Bewusst­sein der Figuren spiele, aber ganz konkret. Und das ist ja auch so neu an diesem Film gegenüber meinen anderen Filmen: Diese Beob­ach­ter­hal­tung, die meine Figuren einnehmen. Da war American Beauty für mich ein Schlüs­sel­er­lebnis. Das trage ich seit vier Jahren mit mir rum: Diese hyper­mo­dernen Figuren, diese hyper­trau­rige und trotzdem schöne Poesie und der Witz, den der Film hat. Da habe ich mir gedacht: O.o.k, versuch doch mal mit Deinen Mitteln etwas zu machen, was dem irgendwie entspricht.

artechock: Dein Film ist ja in mancher Hinsicht ein bisschen schärfer. Analy­ti­scher. Tiefen­struk­turen werden raus­ge­ar­beitet. Wenn beob­achten nur heißt: Ober­fläche sehen – dann bleibt er da nicht stehen, sondern geht darunter. Eine Farce, Gesell­schafts­farce, man kann auch Sitten­bild sagen. Für mich hat der Film eine konse­quente Ironie. Ich finde den Film nicht traurig und tragisch. Ich sehe ein starkes Satire-Element. Also eher noch Happiness als American Beauty, der ja auch etwas sehr pathe­ti­sches hat. Happiness ist schräger, hat noch eine Schärfe, die Agnes auch hat. Nur am Ende von Agnes ist das raus­ge­nommen, da gibt es einen leichten Tick ins Mora­li­sieren.
Aber Du meinst es ja wieder ironisch, wenn die am Ende sagen: »Wir gehen nach Bagdad.«

Roehler: Ja natürlich. Auf jeden Fall. Es sind viele Elemente von ameri­ka­ni­schen Filmen einge­flossen. Wenn der Sohn verschwindet, gibt es plötzlich klare Paral­lelen auch zum Eissturm: Die Einsam­keit der Ehe, aber man liebt sich trotzdem; man begreift, dass man im Begriff ist, das Wich­tigste zu verlieren. Da mußss man zusam­men­halten, man achtet auf den anderen, man ist hyper­sen­sibel. Das ist jetzt erst bewusst­be­wußt geworden, obwohl ich da sicher schon mal vorher darüber nach­ge­dacht habe. Ich habe den Film x-mal vorher gesehen. Und dann fließen ganz viele Sachen davon ein, es hat ganz viel von diesen Elementen.

Das war es auch, warum ich den Film gemacht habe: Dass ich in Deutsch­land etwas erzähle, das allgemein in seiner Aussage ist. Denn die Realität ist letztlich überall in den west­li­chen Ländern die gleiche, nur die Wahr­neh­mung der Realität ist natürlich in Amerika viel mehr gestei­gert, weil Du da natürlich viel tiefere soziale Abgründe hast und in anderer Hinsicht, auch mora­li­sche Abgründe, weil die Gesell­schaft viel stärker auf Moral aufgebaut ist, als hier – und wenn sie dann gebrochen wird, dann ist die Kata­strophe um so größer.

Ich wollte mit einer ganz geschärften filmi­schen Wahr­neh­mung an unsere deutsche Realität heran­gehen. Das war mir wichtig. Und da hab ich mich dann des Instru­men­ta­riums bedient, das ameri­ka­ni­sche Filme uns zur Verfügung stellen. Ich finde: Das wird oft nicht genutzt. Wobei ich merke, wenn Schau­spieler zu einer Hochform auflaufen, weil die Rolle das hergibt, wie hier beispiels­weise Moritz Bleibtreu und Herbert Knaup, um die beiden mal zu nennen, die da für mich auch vorrangig zu nennen sind, dann bedienen die sich, genau so, wie ich mich daraus bediene, dann orien­tieren die sich an Vorbil­dern wie Jack Lemmon oder Kevin Spacey. Die machen sich das Handwerk auch zueigen.

artechock: Wenn Du an so einem Stoff arbeitest, was kommt da eigent­lich am Anfang? Die Bilder oder die Geschichte? Wie wichtig ist zum Beispiel Literatur? Man kann an Updike denken, an Begley, das sind auch Sitten­ge­mälde…

Roehler: Wichtig, ganz wichtig. Da gibt es ein Dutzend Beispiele, an denen ich mich orien­tiert habe.

artechock:Etwa?

Roehler: Ich möchte gar nicht alle nennen. Denn an einem bin ich sogar relativ gefähr­lich dran. Obwohl es sich nach­weisen lässt, dass ich es nicht kopiert habe. Ich will’s eigent­lich nicht sagen.

artechock: Es ist ja offen­sicht­lich, dass diese Fami­li­en­struk­turen, die im Augen­blick das große Thema der Literatur sind, auch in Deinem Film domi­nieren…

Roehler: Eben! Total! Aber für mich waren die Filme das A und O, eigent­lich sind es diese drei Filme gewesen: Happiness, American Beauty und Eissturm, die mich am meisten beein­flusst haben.

artechock:Ist es dann so, dass Du ganz bestimmte Bilder im Kopf hast, von denen Du weißt: Die will ich im Film haben. Und dass Du dann um die herum in gewissem Sinn eine Geschichte baust?

Roehler: Nee, nein, so kann man’s nicht sagen. Das war viel­fäl­tiger. Mich haben schon im Prinzip drei Geschichten inter­es­siert … es ist ja immer so: Du hast ja immer irgendwie ganz vieles, was Du »immer mal machen« willst, und dann nie machst, aus verschie­densten Gründen, weil Du’s verwirfst, weil Dir neue Sachen einfallen.

Da gehörte zum Beispiel In einem Jahr mit 13 Monden dazu, dieser alte Fass­binder-Film, der mich extrem beein­druckt hat. Eigent­lich so ein Film, der in den tiefsten Keller­ar­chiven des deutschen Film­be­wusst­seins schlum­mert. Den kaum jemand gesehen hat, in dem Fass­binder selber Kamera gemacht hat, der fast nichts gekostet hat, der der Film ist, der am weitesten außen steht, quasi in der tiefsten Dunkel­heit – mal pathe­tisch gesagt.

Das ist ein irrer Film. Ich hab' den im Kino mehrmals immer wieder über die Jahre gesehen. Das ist so ein Film, da fröstelt’s einen eigent­lich permanent. Weil der aus einer Ecke des Bewusst­seins agiert, die etwas voll­kommen Unver­söhn­li­ches hat mit der Gesell­schaft: Die Ausge­stoßenen, die die wirklich am Abgrund sind. Und zwar ganz massiv. Und nur nach­emp­funden von jemandem, der selbst da ist.

artechock: Geht Dir das so, dass Du diese Form von Unver­söhn­lich­keit auch selber spürst, Du meinst sie zu haben?

Roehler: Ich bin auf der einen Seite ein Clown und auf der anderen Seite bin ich wahr­schein­lich auch von so einer ganz tiefen Frus­tra­tion bestimmt.

artechock: Der neue Film hat ja trotzdem etwas Gelas­senes. Das heißt nicht, dass er nicht scharf wäre, dass er weich­ge­spült wäre. Aber er ist zugleich relaxed.

Roehler: Absolut! Ich glaube, dass ich das auch mit einer großen Gelas­sen­heit geschrieben habe. Um noch mal darauf zurück­zu­kommen, wie so eine Geschichte entsteht: Das war so, dass sich an verschie­denen Punkten Interesse für bestimmte Geschichten heraus­ge­bildet hat. Und dass ich dann auf den Moment gewartet habe. Man ist da immer so ein bisschen unter Druck, wenn man merkt: Da brennt’s an verschie­denen Ecken und das ist alles irre inter­es­sant, und dann fragst Du Dich, wie man das zusam­men­bringt. Aber ich konstru­iere das dann nicht. Ich kann’s eigent­lich nicht konstru­ieren. Bei mir fängt der Motor irgendwo an zu arbeiten, und dann kommt eins zum anderen. Bei mir ist dann der Spaß am Fabu­lieren und am Erzählen vorrangig. Wenn ich merke, es geht mit so einer Figur wirklich weiter, dann setzt sich die aus ganz vielen Spektren zusammen. Aus eigenen Erfah­rungen, aus Sachen, die ich toll fand, die ich gelesen habe. Und dann addiert sich eins zum anderen.

Wobei so eine Drei­er­ge­schichte für mich eine schwere Aufgabe war, weil ich das noch nie gemacht habe. Ich habe davor gezittert, ob ich das hinkriege. Man bekommt dann auch mal die Panik und hat Angst, zu scheitern. Aber das ist auch ein gutes Zeichen, weil man merkt, dass man die Messlatte ziemlich hoch gelegt hat.

artechock: Woran genau zu scheitern?

Roehler: An der Konstruk­tion. Ob man die Konstruk­tion hinkriegt. Das war für mich wirklich etwas Neues. Die Geschichte ist komplexer als die anderen, die ich bisher erzählt habe. Und das hat dann auch viel mit Puzzle­spiel und Denken zu tun: Wie krieg' ich jetzt das mit dem zusammen? Wann kann ich dies jetzt rein­bringen? Das ist auch eine Denk­sport­auf­gabe gewesen, und da wusste ich nicht, ob ich die jetzt bewältige. Die Heran­ge­hens­weise war sehr cine­as­ti­scher Natur, basierte auf der Frage: Wie kann ich dass, was ich da verdaut habe, im Kino umsetzen, ohne dass ich jetzt billig kopiere oder abschreibe? Wie kriege ich das hin?

artechock: Du hast eben gesagt: »Bigger than life«. Ich erinnere mich auch daran, dass Du Dich einmal auch darüber mit Christian Petzold gestritten hast. Was ist das für Dich, »Bigger than life«?

Roehler: »Bigger than life« sind für mich erst mal die großen ameri­ka­ni­schen Filme.

artechock: Also es geht um Emotionen? Oder um Bilder?

Roehler: Es geht um vieles. Es geht zum einen darum, ein gesell­schaft­li­ches Panorama zu zeichnen. Ich meine wirklich ein Panorama. Wie in den Filmen von Stevens, Minelli oder Kazan. Wo sich innerhalb eines Films das Bild der Gesell­schaft völlig verändert. Das war für mich auch der Anspruch, auch wenn der Film von der empfun­denen Zeit her nur ein paar Wochen dauert.
Auf der anderen Seite ist es auch die Frage, wie Schau­spieler in Szene gesetzt werden, welche Auftritte Du ihnen gibst: Moritz in der Stabi. Wie kommt Herbert nach Hause? Er wird einge­führt durch das Auto, durch den Garten, den Hund – das sind alles Tricks des ameri­ka­ni­schen Kinos. Wie beschreibt man einen Alltag? Letztlich dann auch, wie die Schau­spieler selbst an ihre Rollen heran­gehen. Nämlich, dass sie sich mit großen Vorbil­dern konfron­tieren, dass sie sich wirklich Jack Lemmon in »Das Apartment« angucken, der Knaup Kevin Spacey studiert, sich dann auch Trittin genau anguckt. Das fehlt mir so oft an deutschen Filmen. Das kann zum Beispiel Helmut Dietl auch auf eine ganz andere Art. Das war auch unser Anspruch.

artechock: Würdest Du sagen, dass das für Dich auch eine Aneignung des ameri­ka­ni­schen Kinos ist? Denn Deine anderen Filme erinnern an europäi­sche, vor allem deutsche Film­tra­di­tionen. Da würde man nicht sagen: Das erste, was einem einfällt, ist Hollywood…

Roehler: Nee wirklich nicht… [lacht] Überhaupt nicht, nee, das kann man wirklich nicht sagen. Aber ich habe mir dann gedacht: Ok, das sind doch die, die ich wirklich gut finde. Filme die so eine profunde Gesell­schafts­kritik, so eine leise Trauer, so einen leichten Hyper­rea­lismus, so `ne Komik und Eloquenz haben. Das war mein Anspruch. Denn das gibt’s ja in Deutsch­land auch. Wir sind ja auch nicht wirklich blöder. Und in der Literatur schon gar nicht – deutsche Gegen­warts­li­te­ratur ist sehr sehr gut. Beim Film hinkt man immer noch so ein bisschen nach, was die Film­sprache angeht. Ich merke aber langsam, wie sich das auch verflüch­tigt, wie sich das auch ändert. Aller­dings nicht durch diese „Berliner Schule“, sondern durch Filme wie Muxmäu­schen­still. Wo Du denkst: So ein geiler Typ, wie schlau ist der denn? Das ist ja super, etwas ganz neues, ein echter Quan­ten­sprung. Und dann gibt es immer wieder Beispiele von wirklich brillant gemachten Filmen. Ob Andreas Dresen oder Leander Haussmann. Tom Tykwer hat jetzt leider schon länger keinen gemacht.
Was gab’s denn noch? In Deutsch­land gibt’s eigent­lich immer mehr, wo ich dann stutzig werde, und denke: Nicht schlecht. Was war davor? Lehmann… Viel mehr fällt mir jetzt auch nicht ein… [lacht]

artechock: Naja, es gibt natürlich auch die Versuche, dann auf 'ne andere Art Holly­wood­kino zu machen, wie es sicher Sönke Wortmann tun will – was ihm meiner Meinung nach nicht gelingt. Aber da kann man sich ja streiten, genau wie über diese „Berliner Schule“.

Roehler: Den letzten Wortmann hab ich gar nicht gesehen…

artechock: …gar nicht gesehen? Das ist natürlich auch ein Urteil…

Roehler: Nein, den wollte ich nicht zum Start­termin sehen. Weil, wenn es heißt: »Der Bundes­kanzler war drin«, dann sträubt sich bei mir irgendwas. Was aber nicht heißt, dass ich ihn mir nicht auf Video angucken werde.

artechock: Das reicht ja auch wahr­schein­lich. Worüber wir in jedem Fall reden müssen, ist das von Dir schon genannte Stichwort 1968. Es ist klar: Die drei Brüder sind die Kinder von 1968, Vadim Glowna ist der 68er-Vater, der die Probleme seiner Kinder ja provo­ziert und produ­ziert hat. Es ist klar, dass das eine völlig kaputte Familie ist, die unter­schied­lich spoiled mit ihren Emotionen vom Vater sind. Das kann man auch ganz gut mit Deinen früheren Filmen, den Eltern-Kinder-Bezie­hungen, der Art, wie Du Dich an Deinen eigenen Eltern abge­ar­beitet hast, verbinden…

Roehler: Das kann man, ja.

artechock: Wie weit geht es Dir auch um grund­sätz­liche State­ments zu 68 als einem Gesell­schafts­phä­nomen? Wenn Du von Gesell­schafts­pan­orama sprichst, wenn Du Der Eissturm anzi­tierst, der ja in gewissem Sinne konser­va­tive Kritik an den Hippies ist… Natürlich stellt sich da die Frage: Sind die eigent­lich wirklich so schlimm? Ich hatte kein Problem mit 68er-Lehrern, insofern hatte ich auch kein Problem mit 68…

Roehler: Eltern?

artechock: Nein, auch eher konser­vativ…

Roehler: Sei froh!

artechock: Da denkt man: 68 war doch eigent­lich ganz gut…

Roehler: Nein, ich glaube, dass die ihre Kinder total versaut haben. Ich glaube, dass die, die solche Eltern haben, so eine »lost gene­ra­tion« geworden sind. Auf eine unschein­bare Art. Nicht jetzt wie Jack Keruac oder Borroughs – obwohl auch so, wenn ich an meine eigenen 80er Jahre denke…

artechock: Nicht eher eine „lost gene­ra­tion“ wie F.Scott Fitz­ge­rald? Saufen in Paris, Glamour? Die waren doch wie die Pop-Kinder heute. Und Du sitzt dann auch mit schönen Frauen in der Berliner Paris-Bar… Das ist doch auch ein Fitz­ge­rald-Leben.

Roehler: Ich? [lacht]

artechock: Ja, schon mal irgend­wann…

Roehler: Jaa [lacht]. Aber ich… Stimmt, ja, die gibt’s auch, die anderen, die saufen und mit schönen Frauen… Stuckrad-Barre und wie sie alle heißen, die gibt’s auch noch. Die, äh… die sind aber…

artechock: Jetzt hab ich Dich aus dem Konzept gebracht?

Roehler: Nein, eigent­lich nicht, das ist inter­es­sant. Das hat eher zum Nach­denken angeregt. … Weil, äh … Ja, aber ich meine…

artechock: Die Glamour-Fraktion. Es gibt die „Berliner Schule“ und die Glamour-Fraktion mit ihrem „bigger than life“. Das sind beides die Kinder von 68. Christian Petzold ist auch spoiled von ‘68 in gewissem Sinn. Darum macht er das, was er macht.

Roehler: Ja, das ist richtig.

artechock: Da kommt ja auch dabei etwas raus. Ihr seid ja genau die Leute und die Gene­ra­tion, die gescheites Kino macht. Das ist ja nicht Doris Dörrie.

Roehler: Nee. Ja, das stimmt schon. Da hat sich schon etwas entwi­ckelt, wenn man es mal genauer analy­siert. Wobei die unter­ein­ander eigent­lich verfeindet sind. Eigent­lich kann keiner den anderen leiden, jeder verachtet den anderen. Das ist so eine schräge Nummer. Und dann gibt es die aus dem Osten, die gibt’s auch noch…

artechock: Stimmt, die gibt’s auch noch. Aber die können ja auch nicht durch die 68er ruiniert worden sein.

Roehler: Aah… Nicht wirklich, das stimmt.

artechock: Ich glaube, dass zum Beispiel einem, wie dem SZ-Film­kri­tiker Rainer Gansera Dein Film deswegen so gut gefällt, weil er selber Teil dieser Gene­ra­tion ist, und da etwas an sich selber abar­beitet.

Roehler: Ja, das stimmt schon. Aber da gibt es viele Animo­si­täten, und eigent­lich Feind­schaften unter den deutschen Filme­ma­chern, die sogar relativ tief gehen. Oder Verach­tung, die wirklich tief geht, weil die so an die Grund­feste der jewei­ligen Ideale rührt.
Deswegen – schade, dass ich da zu keiner Schule gehöre. Ich gehöre zur Lost-Gene­ra­tion-Schule, wahr­schein­lich. … Ich bin so ein Inter­nats­schüler. Ich würde mich zu den »Internen« des Internat zählen, die eigent­lich nur Scheiße gebaut haben, nur Terror gemacht haben, und nachts ging’s dann irgendwie weiter.

Ich kann mich noch entsinnen, wie ich irgend­wann mit 12 bei meinen Großel­tern – die mich gnädi­ger­weise aufge­nommen haben, weil meine relativ kaputten Eltern eben irgendwie nie Zeit für mich hatten und mich da völlig verwahr­losen ließen – wie ich da irgend­wann mal auf dem Giebel der Villa stand und runter­ge­brüllt habe: »Hier lebt ein Kapi­ta­lis­ten­schwein – Free Angela Davis!« [lacht].

Und meine Großel­tern standen unten, mit Keulen bewaffnet, und ich dachte, die müssen mich jetzt wirklich töten. Kurz darauf bin ich dann ins Internat gekommen, wo erst der eigent­liche Terror losging. Wo wir alle völlig fertige, bier­trin­kende Pausen­clowns waren und in der 7ten, 8ten Klasse die Schule komplett auf den Kopf gestellt haben. Darüber mach' ich auch mal 'nen Film, das wird wirklich lustig. Das war Krieg total.

Meine Haltung gegenüber der Gesell­schaft ist schon von einer gewissen Scha­den­freude daran bestimmt, Leute bei ihren Fehl­tritten zu beob­achten, und zu sagen: Es ist alles so bitter, aber nehmt’s nicht so ernst. Weil es sonst wirklich trist wäre. Und trist soll es nicht sein. Bitter ist wirklich in Ordnung.

artechock: Diese Tristesse, dieses Bleierne ist es doch, was man in Deutsch­land im Augen­blick allgemein merkt. Schon wenn man wieder­kommt, am Flughafen: Wie die drauf sind. Also fragen wir’s mal so: Ist Dein Film ein Kommentar zur Krise?

Roehler: Ja, das ist ein Kommentar zur Krise. Das ist eine Pille, die, je nachdem, wo man drauf­beißt, schmecken kann, wie eine ganz teure süße Mozart­kugel, oder wie ein ganz bitteres Medi­ka­ment, oder eine saure Brause. Es ist von allem etwas drin, was das Leben zu bieten hat.

artechock: Aber keine graue Krise?

Roehler: Nein, nein. Wenn ich an den Film zurück­denke, dann ist das Bild oder die Erin­ne­rung die von einem Jahr­hun­dert­sommer, den wir im Garten verbracht haben, bis wir braun-rot im Gesicht waren. Mit Sonnen­brand – toll! Wie diese langen Feri­en­tage, die wir in der Kindheit, wo richtig viel gespielt wurde.

artechock: Ist das Gras im Film eigent­lich echt?

Roehler: Nee, das Gras ist nicht echt. Das hätten wir nicht anbauen dürfen.

artechock: Und der nackte Hintern von Katja Riemann?

Roehler: Double. Body-Double.

artechock: Diese Verspieße­rung, die Du beschreibst, hat die eigent­lich auch was positives? Weil ich ja diese allge­meinüb­liche Kritik an Joschka Fischer – er habe seine alten Ideale verraten, sei jetzt der böse Kriegs­treiber – ein bisschen billig finde. Man muss deswegen nicht für alle diese Kriege sein, aber ich finde es als Kritik billig.

Roehler: Ich wollte schon jemanden zeigen, der ziemlich aus dem Ruder gelaufen ist. Und der durch einen Wink des Schick­sals darauf gestoßen wird, was er eigent­lich für ein Arschloch ist. Indem er merkt, jetzt gilt es Prio­ri­täten zu setzen. Aber ich finde die Struk­turen, die der Knaup-Charakter sich da aufgebaut hat, in keiner Weise zu recht­fer­tigen. Wobei ich auch ganz abgesehen von der Figur der Meinung bin: Ein gewisser Wert­kon­ser­va­tismus könnte eigent­lich niemandem schaden.
Ich glaube, das ist auch eine allge­meine Tendenz, dass man versucht, sich zu besinnen.

artechock: Das ist aber doch auch nur ein Krisen­phä­nomen: In dem Moment, wo die Leute keine Utopien mehr haben, keine Träume mehr haben, da besinnt man sich auf das Alte.
Zum Beispiel ist ja einer dieser aktuellen Best­seller dieses „Manieren“-Buch. Das ausge­rechnet auch noch von 'nem Afrikaner, einem äthio­pi­schen Prinzen geschrieben wurde. Man weiß nicht so genau, ob er nicht einen Ghost­writer hatte.
Aber egal – dass dies ein Best­seller wurde! Das paßt genau dazu. Die finden das so toll: »Die jungen Menschen wollen wieder Manieren lernen.« Viele verlockt diese Idee: Wir kommen wieder zur „guten alten Zeit“. Irgend­wann sind wir wieder im 19. Jahr­hun­dert. Aber das läuft ja nicht. Das ist ja Quatsch. Die Schei­dungs­raten steigen trotzdem.

Roehler: Das ist natürlich wahn­sinnig verblendet. Auch wenn Du diese jungen Paare auf der Straße siehst, und denkst: Mann, was für nen fucking… Was leben die denn da? In was für 'ner Lebens­lüge leben die denn jetzt da? Wobei es ist ja keine Lebens­lüge – das kann man so nicht sagen.

artechock: Es gibt nützliche Lebens­lügen. Oder funk­tio­nie­rende Lebens­lügen. Viel­leicht ist auch Liebe immer eine Lebens­lüge. Man macht sich da was vor, und das ist auch gut so.

Roehler: Man macht sich da was vor, und das ist auch gut so – genau so würde ich’s auch ausdrü­cken.

artechock: Aber dieser Lebens­stil, der dann dazu­gehört, diese ganze Objekt-Ausstat­tung, die dann dazu­gehört, die Ausstat­tung der Räume, der Autos, des eigenen Lebens – und genau so »trägt« man auch Werte. Das sind im Grunde auch nur Dinge, die man jetzt wieder kauft und anzieht. Das kommt in Mode. Aber es hat keine Substanz.

Roehler: Nein, denn die Gesell­schaft hat sich weiter­ent­wi­ckelt. Und Du kannst vieles nicht rück­gängig machen, willst Du auch nicht.
Aber es gibt natürlich immer einen Gene­ra­tio­nen­kon­flikt. Und den gibt es jetzt auch zwischen den Leuten, die jetzt 40 sind und denen, die jetzt Anfang 20 sind. Der ist auch für mich spürbar. Weil die Ideen vom Leben ganz andere sind.

artechock: Hast Du das Gefühl, dass die, die jetzt Anfang 20 sind, glatter, in gewissem Sinn geris­sener sind, oder dass die eher wieder neue Utopien entwi­ckeln?

Roehler: Ich glaube, die haben ein Revo­lu­ti­ons­po­ten­tial, dass sie nicht ausleben können, das Potential für eine Revolte. Weil ihnen die Gesell­schaft nicht genug gibt. Dafür, dass sie so weit entwi­ckelt sind, und sie eigent­lich so viel machen könnten, steht ihnen eigent­lich viel zu wenig bereit. Das ist ganz deutlich spürbar. So eine Verzweif­lung. Dass aus diesem Trotz oder dieser arro­ganten Abwehr­hal­tung eine starke innere Revolte entsteht – gegen dieses ganze Arsch­lochtum und die Dummheit der Älteren, die es nicht geschafft haben, ihnen gute Bedin­gungen zu schaffen. Das spüre ich schon.

artechock: Siehst Du im deutschen Kino einen, der das zum Ausdruck bringt?

Roehler: Muxmäu­schen­still. Ganz klar.

artechock: Also der nächste Film muss dann von der Revolte handeln.

Roehler: Nicht von mir, das muss der Stahlberg machen.