10.07.2025
42. Filmfest München 2025

»Wir wollen nicht Gespenster sein«

Miroirs No. 3
Das rote Auto von Truffaut und Godard
(Foto: Piffl)

Christian Petzold zu Häusern, Blicken, Elementen und dem Vertrauen zu seinem Ensemble – selbst wenn es gegen ihn rebelliert

Ein heißer Julitag auf dem Filmfest. Christian Petzold empfängt uns im Baye­ri­schen Hof, in bester Plau­der­laune, obwohl er erst am Vorabend aus Paris nach einer stra­pa­ziösen Fahrt ange­kommen ist. Im Anschluss: Revenge-Essen mit dem teuren Zimmer­ser­vice. Wir tauschen gemein­same Erin­ne­rungen an ein Festival in Palić aus. Da gab es eine Boots­rund­fahrt über einen toten See, und Petzold hat seitdem eine von der Gemeinde gestif­tete Sitzbank dort.
Was Petzold nicht weiß: Die Inter­viewe­rinnen haben sich schon stun­den­lang über seinen Film Miroirs No. 3 unter­halten, der beim Filmfest München der Abschluss­film war. Und freuen sich jedesmal wie Köni­ginnen, wenn Petzold etwas offenbart, was sie bereits geahnt hatten. Und, was Petzold auch nicht weiß: Amelie führt eine eigene Liste mit den Filmen von Petzold, die sie gesehen hat, und fährt das Fahrrad von Dunjas Tochter. Einfach so. Trotzdem: Der Film spiegelt das Leben. Das Leben tritt in den Film ein. Alles ist eins. Mit Petzold allemal.

Das Gespräch führten Dunja Bialas & Amelie Hoch­häusler

artechock: Du hast ja eine Trilogie in Angriff genommen mit Undine, das Wasser, Roter Himmel, das Feuer. Gehört dieser Film jetzt zur Trilogie und welches Element wäre es?

Christian Petzold: Als ich das Drehbuch geschrieben hatte, dachte ich: Passt nicht so ganz. Und dann am 10. oder 11. Drehtag hatten wir unglaub­liche Stürme, Winde, die durch­zogen. [Kame­ra­mann] Hans Fromm hatte wie immer gefragt: Was machen wir denn hier für einen Stil? Da habe ich gesagt: Das ist doch ein Western. Es muss ein Western sein. In den ameri­ka­ni­schen Western gibt es Gene­ra­ti­ons­kon­flikte, Bürger­krieg, Rache, Brüder. Das ist so kompli­ziert und so einfach erzählt. So müssen wir das auch angehen. Deswegen haben wir ein Haus, einen Zaun, einen Baum, zwei Fahrräder, ein Auto. Das sind unsere Werkzeuge, das ist unser Ort. Und als dann der Wind durchzog, sagte Barbara Auer: Aber das ist doch das Element, die Luft. Die lüftet. Die lüftet das, was stehen­ge­blieben ist, die Traumata, die ewigen Wieder­ho­lungen. Die Wieder­ho­lungen der Mutter, die immer wieder zu dem Zaun geht, wo sie ihre Tochter erwartet hat, wenn sie von der Schule nach Hause kommt. Und der Wind pustet, lüftet das mal so durch. Deswegen habe ich mich damit zufrie­den­ge­geben. Na gut, jetzt ist die Trilogie fertig.

artechock: Wenn wir schon bei diesem gelüf­teten Raum sind, was war denn bei der Gestal­tung des Raums wichtig und auch beim Filmen dieses Hauses? Es ist auffällig, wie immer durch Rahmen oder durch Fenster gefilmt wird. Es kommen keine Spiegel vor, aber viele Fenster, durch die geblickt wird, oder durch die Fens­ter­scheibe des Autos.

Christian Petzold: Ich liebe Comics, Graphic Novels, immer schon. Als ich den Zeichner Art Spie­gelman entdeckt habe, war ich 18 oder 19 Jahre alt, ’79 oder ’80 war das. Ich habe ihn durch einen Text von Klaus Theweleit entdeckt. Der erste Comics von Art Spie­gelman in Deutsch­land wurde damals im Roten Stern Verlag veröf­fent­licht, mit einem langen Text von Klaus Theweleit über Comics, »Break­downs«. Da sagt er: »Im Comic sind alle Fenster blind, im Comic gibt es keine Spiegel. Der Comic selbst ist das Fenster.« In den Thea­ter­bühnen sind auch die Fenster blind. Und im Kino ist das Fenster die Cadrage, die Öffnung. Bei der Konzep­tion für dieses Haus gab es drei Sachen, die wichtig waren. Die erste Sache war: In Deutsch­land werden bei allen Häusern die Terrassen nach hinten gebaut. Jede Familie baut sich ihre eigene Gefäng­nis­zelle und glaubt, dass es die Freiheit ist. Je höher die Hecke zum Nachbarn ist, umso eher glauben sie: Jetzt dürfen sie machen, was sie wollen, aber letzt­end­lich bauen sie sich denselben Raum, wie für die Gefan­genen, wenn sie Ausgang haben für eine Stunde.

Und deshalb wollte ich, dass die Veranda nach vorne zur Straße ist. Das ist russisch und ameri­ka­nisch. Also wenn Clint Eastwood in Gran Torino vorne zur Straße sitzt und sich alles anguckt, während er sein Bier trinkt, dann wird die Veranda zum sozialen Ort. Die Straße ist ein sozialer Ort. Unser Haus erzählt davon, dass die Familie einmal offen war, zur Straße hin, in die Offenheit, in die Gesell­schaft gelebt hat und nicht nach innen, wie in einer Zelle. Das zweite ist, dass ich finde, dass man bei sehr, sehr vielen Filmen – gerade bei Erstlings- und Zweit­lings­filmen – keine Raum­ori­en­tie­rung mehr hat, weil die Produk­ti­ons­be­din­gungen schlecht sind und leider alle sich für die Hand­ka­mera entscheiden, um schneller fertig zu werden. Das Raum­ge­fühl aber gibt nicht nur Orien­tie­rung, der Raum erzählt Gefühle. Wie weit wir vonein­ander entfernt sitzen. Wie eine Aufstel­lung ist.
Mit dem Szenen­bildner K.D. Gruber, mit dem ich fast alle Filme gemacht habe, bauen wir uns immer einen Raum, der für die Schau­spieler die Möglich­keit gibt, diese Art von Gefühlen und Verhal­tens­weisen zu reali­sieren. Diesmal habe ich gesagt: Wir brauchen eine Haupt­achse. Einen Flur, am Ende des Flurs steht ein Klavier, auf dem anderen Ende ist der Eingang mit der Terrasse. Links ist die Küche, neben der Küche gibt es einen Durchgang zum Esstisch. Auf der anderen Seite ist eine Treppe, die hochführt in die Privat­ge­mächer, von denen wir nur diesen einen Raum kennen­lernen. K.D. Gruber hat das alles so gebaut. Dann fuhr ich mit den Schau­spie­lern dorthin und habe erklärt, warum wir das so gebaut haben. Und dann – ein ganz toller Moment – Paula, Barbara, Enno und Matthias wollten, dass ich verschwinde. Also ich habe mich unter den Baum gesetzt auf eine Bank und sah, wie sie durch das Haus gingen, das Haus in Beschlag nahmen.
Die haben sich vorge­stellt: Was kann da mal gewesen sein? Was gehört mir? Und von dem Moment an, als wir gedreht haben, das war drei Wochen später, wussten sie immer, wo sie sitzen, wo ihre Position ist. Matthias wusste sofort, dass er am Kopfende sitzt. Barbara wusste, dass sie mit dem Rücken zur Küche sitzt.

artechock: Das sind die Lieb­lings­plätze…

Christian Petzold: Ja, genau. Und die kannst du doch nur haben, wenn der Raum dich ernst nimmt. Setzt dich mal dahin, machen wir schön Licht, wie bei einer Fern­seh­pro­duk­tion: Dann ist kein Raum da.

artechock: Das Haus exis­tierte also vorher nicht, sondern du hast es quasi in diesem Frag­mentbau gebaut?

Christian Petzold: Das Haus gibt es. Es ist in der Uckermark, ein Haus von Ende der 30er-, Anfang der 40er-Jahre. Zu DDR-Zeiten wurde es von einer Familie bewohnt. Das Haus ist wahn­sinnig hässlich. Wir mussten dem Haus etwas geben. Wir haben die Veranda gebaut, fran­zö­si­sche Fens­ter­läden aus Holz daran­ge­macht. Wir haben es aber nicht einmal gestri­chen, wir haben das Dach nicht verändert. Wir haben den Drahtzaun wegge­rissen und statt­dessen einen Latten­zaun gesetzt. Und so hatte das Haus plötzlich einen Traum. Wenn man rausfährt aus der Großstadt und man sieht die Häuser, ist jedes Haus auch Ausdruck von einem Wunsch, einem Traum. Den die Leute einzeln oder als Familie, als Paar gehabt haben. Viele Träume sehen scheuß­lich aus, das muss man sagen. Aber manchmal sind auch Entwürfe dabei, wo man denkt: Die haben sich was gewünscht.

artechock: Das mani­fes­tiert sich dann.

Christian Petzold: Ja, und so ein Haus wollte ich haben. Die meisten Häuser sind ja von Paaren gebaut. Wenn das Haus fertig ist: Scheidung. Das Projekt selber ist eigent­lich die Liebe. Und so haben wir dieses Haus schön gemacht. Am 15., 16. Drehtag komme ich morgens in das Haus – ich gehe immer 20 Minuten vor den Schau­spie­lern noch einmal durch die Orte, an denen wir drehen. Auch um ein bisschen Ruhe zu haben. Und da steht eine Frau in dem Haus mit einem Mann, ein sehr altes Paar. Und dann sagt die Frau: Ich bin hier in dem Haus groß geworden. Ich habe hier in den 50er- und 60er-Jahren gewohnt, 20 Jahre. Das Haus ist jetzt so schön. Als ich hier gelebt habe, war es so furchtbar und so hässlich. Und dann fing sie an zu weinen und sagte: Wie einfach es ist, aus der Häss­lich­keit Schönheit zu machen. Die Häss­lich­keit kommt also aus uns, nicht aus der Umgebung. Das fand ich brutal, den Satz.

artechock: Weil du von den Fenstern und Durch­läs­sig­keiten gespro­chen hattest: Du hast den Film Miroirs No. 3 nach Maurice Ravel genannt, was relativ abstrakt über dem Film schwebt. Warum hast du den Titel gewählt?

Christian Petzold: Ich fand natürlich das Musik­stück von Ravel wichtig für den Film. Ich hatte das bei Roter Himmel immer gehört. Mir gefiel, was er auch ein bisschen von Bach hat, dass er ein Thema hat und das variiert. Und dann taucht das Thema wieder auf, und es variiert. Das hat gleich­zeitig was mit Programm­musik und dem Meer zu tun. Auch das Meer ist immer gleich und doch anders. Und gleich­zeitig ist der Unter­titel »Une barque sur l’Océan«, also gewis­ser­maßen »ein Boot auf dem See«. Es geht natürlich darum, dass es auf dem Ozean Momente der Harmonie und der Stille gibt und der tödlichen Gefahr. Filme kümmern sich immer über Über­le­bende. Das ist das Grund­thema. Das Kino inter­es­siert sich nicht für die, die keine Schwie­rig­keiten haben zu überleben. Es inter­es­siert sich für prekäre Menschen, die kämpfen müssen, um eine Arbeit zu behalten, die für ihre Rechte kämpfen, für die Liebe, nicht verlassen zu werden.
In diesem Film geht es um Über­le­bende eines Schiffs­un­glücks. Die treiben auf der Wasser­ober­fläche. Die müssen sich aus den Trüm­mer­s­tü­cken dieses unter­ge­gan­genen Schiffes versuchen, ein Rettungs­boot zu bauen. Sie bauen sich eine Barke und ihnen beim Bauen dieser Barke zuzusehen, das ist das Kino. Das Über­le­bens­schiff kann auf Lügen und furcht­baren Sachen basieren, aber es trägt sie. Das ist die Metapher.

artechock: Dein Werk ist ja quasi ein großer Film zu zwei großen Motiven, den Gespens­ter­ge­schichten und den Wieder­gän­gern. Was hat das Kino für dich mit diesen beiden starken Motiven zu tun?

Christian Petzold: Der Gespens­ter­film ist der, der sich um die Gespenster kümmert, wo die Gespenster sagen: Wir wollen nicht Gespenster sein. Wir wollen riechen, schmecken. Und deshalb, in Miroirs, ist Paula Beer jemand, die wieder lernt: riechen, schmecken, arbeiten, Fahrrad fahren. Wir lernen ein ganzes Leben lang. Die fühlte sich aber wie ein Gespenst, als sie runter zum Wasser geht und der Fährmann des Todes auf seinem Steh­paddel vorbei­kommt, dann denkt sie schon für einen Moment: Da ist nichts mehr.
Die Depres­sion können wir ja alle nach­voll­ziehen, wir kennen ja auch so Tage, die sind mit lustlos noch nett beschrieben. Es gibt Tage, wo man denkt: Den schaffe ich nicht. Mir macht überhaupt nichts Spaß. Habe keine Lust zu lesen, lasst mich alle in Ruhe. Und im Film kriegen wir jemanden, dem das wieder beigebracht wird.

artechock: Der Anfang des Films kommu­ni­ziert stark mit dem Ende. Es scheint, als ob in dieser letzten Einstel­lung, in diesem Augen­blick, in diesem Glänzen in den Augen, der ganze Film noch einmal aufscheint und dieses Gespens­ter­hafte genau viel­leicht dort dann aussetzt.

Christian Petzold: Ich hatte ein ganz anderes Ende. Ich hatte einen Film von Claude Sautet im Kopf, wo Romy Schneider zwei Männer verlässt, die beide in sie verliebt sind, und sie hält das nicht mehr aus. Am Ende kommt sie wieder in die Stadt zurück und sieht, dass diese beiden Männer in der Zwischen­zeit die besten Freunde geworden sind und sie gar nicht mehr brauchen. Die sitzen da am Frühstück und reden und umarmen sich. Und dann muss sie wahn­sinnig lachen. Ich hatte ins Drehbuch geschrieben, dass die Familie nach dem Konzert wieder ins Haus zurück­kehrt und Rührei isst und Kaffee trinkt. Und plötzlich steht da Laura mit der Reise­ta­sche am Zaun. Und dann kommt der Satz: Die drei sehen sie, stehen auf, sie öffnet den Zaun. Und dann habe ich ins Drehbuch geschrieben: Und sie betritt den Raum der Familie.
Ich war von diesem Satz besoffen. Anders kann ich das nicht sagen. Dann gehe ich runter zu meiner Frau und sage: »Boah, ich habe den Satz gerade geschrieben. Der Schluss­satz, der ist der Hammer. Und dann haben wir das auch gedreht. Die Editorin Bettina Böhler sagte: Das sieht doch grau­en­haft aus. Und ich sage: Das ist grau­en­haft. Nicht grau­en­haft gefilmt, aber der ganze Film dafür, dass jemand Tochter sein möchte? Da habe ich zwei Wochen eine Depres­sion gehabt. Ich musste mir überlegen: Worum geht es denn eigent­lich? In diesem ganzen Film geht es doch darum, dass eine junge Frau einen Auto­un­fall hat und gefunden wird von jemandem, der ihr keine Fragen stellt. Dadurch hat sie die Chance, ganz von vorne anzu­fangen. Sie wird wie ein Baby ins Bett gebracht. Sie wird nachts gefüttert. Ihr wird was beigebracht: das Streichen. Sie wird in die Natur einge­führt. Auch am Abend­essen­tisch muss sie sich überhaupt nicht recht­fer­tigen. Sie kriegt ihr Fahrrad, darf am Wochen­ende alleine bleiben und den Jungen besuchen. Das ist eine richtige Geschichte.
Und diese junge Frau, die soll am Ende Tochter für ihr ganzes Leben lang bleiben? Was ist denn das für eine Moral von der Geschichte? Und da hat Bettina gesagt: Die muss zu sich nach Hause zurück­kehren. Das hatten wir nicht gedreht. Woraus aber besteht denn das Apartment? Das besteht im Grunde genommen aus dem Wind und dem Vorhang, dem Geräusch und der sich öffnenden Tür. Der einzige Unter­schied ist dieses Gesicht, das am Anfang des Films das Apartment betritt, und dieses Gesicht, das am Ende des Films das Apartment betritt. Dazwi­schen liegt die Geschichte. Das müssen wir spüren. Und dann habe ich Paula und die Produk­ti­ons­firma angerufen und gesagt: Wir müssen noch eine Szene drehen. Das kostet Geld. Das war Monate später. Paula sah ganz anders aus, voll­kommen verändert. Das war natürlich wunderbar. Dann habe ich das allen erklärt, alle haben es begriffen.
Und weil Paula begriffen hat, dass sie nun erwachsen, unab­hängig ist, und deshalb auch die Familie für sich leben kann und sie als Ersatz­tochter geschafft hat, was die andere Tochter durch ihren Selbst­mord nicht geschafft hat: sich loszu­lösen und jemand zu werden. Sie ist jemand geworden. So kommt sie rein in das Apartment, und das war dann ganz toll.«

artechock: Das ist ein wahn­sinnig starkes Ende geworden. Vorher haben wir diesen kurzen Moment, wo sie das Fahrrad wegschmeißt, wo sie die Wieder­gän­ger­rolle verlässt. Ich hatte den Eindruck, die Figuren dürfen gegen Petzold rebel­lieren.

Christian Petzold: War auch so. Hat mir gut getan. Als ich besoffen von meinem eigenen Satz war, kamen Enno Trebs und Paula zu mir und haben gesagt: Wie ist das eigent­lich mit dem Ende, findest du das richtig? Klar, habe ich gesagt. Ich war richtig autoritär. Und dann habe ich bei der Produk­tion gemerkt, dass die etwas in der Grund­ge­schichte entdeckt haben, für sich, das Ensemble, alle, auch Matthias und Barbara. Was mir im Blick von oben als Autor nicht klar war. Als Vater, als Mutter, als Bruder, als Tochter haben sie etwas in dem Material entdeckt, was ich durch sie auch erst entdeckt habe.

artechock: Wie gehst du generell an deine Filme ran? Ich habe gehört, dass du mit deinen Schau­spie­lern Einstim­mungen suchst und Refe­renz­filme zeigst. Was wäre das hier?

Christian Petzold: Ja, das mache ich immer so, mehrere Tage. Wir lesen erst mal nur. Ich erzähle drei Stunden lang, warum ich das geschrieben habe und was mir da in den Kopf gegangen ist. Und die Musik spiele ich vor. Und danach schauen wir uns einen Film an oder Ausschnitte. Und dann am nächsten Tag fahren wir dann zu den Motiven. Wir fahren herum und schauen uns alles an. Dann haben die Schau­spieler zwei, drei Wochen Zeit, in der sie das Material verin­ner­li­chen, verar­beiten. Die Filme, die wir ange­schaut haben, waren von Nanni Moretti Das Zimmer meines Sohnes und Rebecca von Hitchcock. Das war für Barbara Auer wichtig. Man sieht sie ganz wenig in Bewegung. Die Haus­häl­terin bei Hitchcock, Rebecca, sieht man nicht, die ist plötzlich da. Das wiederum hat Hitchcock bei Murnau und Nosferatu gelernt.
Diese Angst, die anderen, die sind da. Wenn Paula zum Beispiel zum Klavier geht und drei Tasten anschlägt, dann steht Barbara plötzlich da und sagt: Spielst du Klavier? Das war wichtig für Barbara zu sehen, dass dieser Effekt, den Hitchcock bei Rebecca hat, nicht einfach nur ein cine­as­ti­scher Gag ist, sondern etwas mit ihren Figuren zu tun hat, dass sie in diesem Haus eine kleine Hexe ist.

artechock: Und bestimmte Motive, wie das Fahr­rad­fahren. Wie viel Humor steckt in diesem Film? Wir haben nicht eine Frau auf dem Fahrrad, sondern zwei. Die Männer fahren auch Fahrrad, können es aber nicht. Der Auto­un­fall, der sehr gestellt wirkt. Und es gibt auch keine Psycho­lo­gi­sie­rung der Figuren, die sind einfach da.

Christian Petzold: Eine Menge Humor ist hinter der Kamera, bei den Dreh­ar­beiten. Wir haben eine Menge Spaß. Aber ich mag keine parodis­ti­schen Filme, mich über Filme lustig machen. Es gibt natürlich Dinge, die aus meiner Kinoblase kommen, rote Autos, ob das Catherine Deneuve ist, die in Das Geheimnis der falschen Braut in einem roten Wagen fährt oder Le mépris. Ich finde, das ist so ähnlich wie die Märchen­mo­tive, die in dem Film auftau­chen. Das sind nicht Dinge, wo ich mich lustig mache oder den Film verkünstle oder den Zuschauern Hinweise gebe. Ich finde, der Realismus – von Frieda Grafe gibt es einen Text: »Realismus ist immer sur, hyper, neo«. Ich finde, Realismus braucht eine Verschie­bung, ein gram­ma­ti­ka­li­sches System. Sonst wird es nicht wahr­haftig. Einfach die Welt abfilmen geht nicht. Wir kadrieren sie, wir bear­beiten sie, wir sehen sie ja, wir sind ja selber anwesend, das sind ja Blicke. Ich bin froh, wenn die Natur eigen­s­tändig ist. Durch den Wind, oder wenn die Schau­spieler eigen­s­tändig sind, wenn sie sich wehren gegen die Insze­nie­rung.

artechock: Wir hatten den Eindruck, dass man deinen Film aufschlägt wie ein Buch und darin liest. Der Film verrät­selt sich nicht künstlich. Alles liegt einfach alles da, man muss es nur lesen.

Christian Petzold: Ja, das stimmt. Früher, so in den 40er-Jahren, gab es Filme, da waren die Credits ein Buch. Da wurde geblät­tert. Das hat mir irgendwie gefallen, als Übergang. Man kommt ins Kino, man hat noch vorher ein paar Probleme, die Metro kommt nicht oder den Uber nicht gekriegt, Blödsinn von der Mutter oder so. Und dann sitzt man im Kino, es kommt noch Werbung, und dann geht endlich das Licht aus – und dann wird ein Buch umge­blät­tert. Und danach beginnt ein Film. Da hatte ich immer das Gefühl, das Buch umblät­tern ist der Übergang in die Fiktion. Und da das Kino somnabul ist – wir sind anwesend und abwesend zugleich, unser Körper ist da, unser Geist ist woanders – braucht man diese Übergänge. Bei Roter Himmel hatten wir Peter Boda­no­vichs Is' was, Doc? angeguckt mit den Schau­spie­lern. Da gibt es auch ein Buch am Anfang. Obwohl das alles in San Francisco spielt und sehr real ist. Und dann sagt dieses Buch: Was jetzt kommt, ist ein Märchen, aber es ist wahn­sinnig wirklich.

Und so ähnlich versuche ich das auch. Ich versuche auch, dass die Filme keine Aufzeich­nungen sind von Szenen, sondern Blicke auf Szenen. Wir blicken auf etwas, wir sind anwesend, wir sind aber auch ohnmächtig, wir können nichts ändern. Man sieht den Unfall nicht, hört ihn nur, hört dann, dass die Vögel erschre­cken und aufsteigen. Und dann sieht man Barbara Auer rennen. Und dann ist der Wind wirklich da. Und dann dieses Szenario: Das Auto, der Tote, die junge Frau in den Weiden mit einem verlo­renen Schuh, wie Aschen­puttel. Das geht nur, wenn vorher der Wind und die Vögel echt waren.