Filme für alle Geschmäcker! |
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Filmtitel wie Eissorten: Vielfalt ist das Markenzeichen des Filmfest München (Zum Vergrößern hier klicken) | ||
(Zeichnung: Niko B. Urger) |
Von Dunja Bialas
Kein Wunder, dass sie bestens gelaunt sind: Im April erhielt das Leitungsduo des Filmfest München für weitere fünf Jahre einen Vertrag. Damit sind Christoph Gröner und Julia Weigl beauftragt, das zweitgrößte Filmfestival Deutschlands bis 2030 zu führen, viel Zeit und Planungssicherheit genug, um dem Festival eine eigene Handschrift zu geben. Doch jetzt setzen sie erst einmal auf das, was sie letztes Jahr, ihrem ersten gemeinsamen Leitungsjahr, erprobt haben. In vielem könnten wir jetzt ganz einfach auf unseren letzten Auftakttext verweisen oder schnell copypasten.
Es gibt also wieder: den verschwommenen Filmfestbeginn mit dem Warm-up-Freitag und dem Opening-Samstag. Es gibt immer noch die »Cinewaves«-Preistrophäen. Die Reihen wurden nicht umbenannt und haben noch wie letztes Jahr das Cine-Präfix. Wieder heißt das übergeordnete Motto »Pack die Badehose ein« bzw. »Bring your swimwear« – zum gemeinsamen Planschen in der Isar jeden Morgen gegen 9 Uhr an der Trauerweide-Insel.
Das war nun der erste »artechock«-Geheimtipp für dieses Festival, das mehr denn je von Geheimtipps lebt. Denn wo an der Oberfläche alles gleichbleibt, ändert sich an der Tiefenstruktur doch einiges – wie natürlich das Filmprogramm ein gänzlich anderes als letztes Jahr ist, siehe dazu unserer Empfehlungs-Marathon am Ende des Textes. Eine Meldung im Zusammenhang mit der News zum Leitungsduo ist, dass es wieder einmal entgegen der Ankündigung vor zwei Jahren, als Gröner zum Interimsleiter berufen wurde, keine Ausschreibung für eine Festivalleitung gab. Dieses Modell macht anscheinend Schule.
An dieser Stelle können wir uns darüber aber weniger aufregen als vor ein paar Monaten anlässlich der Neubesetzung der DOK.fest-Leitung. Auch das Filmfest München ist Mitglied in dem Verein AG Filmfestival mit dem strengen Code of Ethics, der vorsieht, dass Leitungen ausgeschrieben werden müssen – eigentlich. Aber: Selbst wenn Christoph Gröner und Julia Weigl – oder Grönerweigl, wie wir sie gerne nennen – nach wie vor in allen Pressemeldungen aus einem Munde sprechen und auch beim persönlichen Gespräch mühelos die angefangenen Sätze des jeweils anderen beenden, sind sie weder verwandt noch verschwägert.
Das Filmfestduo Grönerweigl hat so auch im zweiten Jahr ihrer Zusammenarbeit Skandale und Fettnäpfchen nicht zu befürchten. Das zeigt auch, wie geschickt und transparent sie in ihrer Kommunikation sind. Auch wenn für unser Dafürhalten hin und wieder noch zu viele Pressemitteilungssprechblasen im Raum stehen, definiert sich der neue Filmfest-Stil durch Individualität, Lebendigkeit und Persönlichkeit. Die Leitung repräsentiert nicht zwingend »Glamour« und verkünstelt sich dabei (wie es bei Iljine der Fall war), sondern sie lebt das Filmfest, rund um die Uhr, und strahlt dabei eine gewisse Sportlichkeit aus. Pack die Badehose ein!
Die Programmauswahl haben sie neu strukturiert, erzählen Grönerweigl im Gespräch. Wo es vormalig das Verantwortlichenprinzip einzelner Programmer für einzelne Reihen gab, gibt es jetzt eine dialogische Kuration, bei der das künstlerische Leitungsduo auf jeden Fall mitreden und vor allem auch mitgestalten möchte. Julia Weigl weist außerdem mit Nachdruck auf die Wichtigkeit der »Kontextualisierung« hin, will man heute ein Festival erfolgreich machen. So gehe es immer weniger um Einzelfilm-Solitäre, um die herum sich der Erfolg des Festivals quasi von allein ergibt. Sondern mehr um Querverbindungen im Programm und um Kooperationen mit anderen Institutionen in der Stadt. So dieses Jahr mit dem »Festival der Zukunft«, bei dem XR präsentiert wird, mit den Münchner Kammerspielen und dem CSD mit einem »Abend zu ukrainischer Folklore« mit dem Stummfilm Erde von Oleksandr Dowschenko. Auch die »guten Freunde« Museum Brandhorst und Filmfest »kann niemand mehr trennen«, wie es in der Festival-Programmzeitung heißt: Wie schon in den Vorjahren werden hier Arbeiten bildender Künstler in den filmischen Kontext gestellt. Zu sehen sind Werke von John Cage, Merce Cunningham, Cy Twombly und anderen. Empfohlen sei in diesem weitschweifigen Ausflug in andere Künste die Schlagerparade zu Fassbinder. Zum 80. Geburtstags des »notorischen Filmemachers« (Programmzeitung) präsentiert das Filmfest im Pavillon 333 in der Türkenstr. 15 eine Ausstellung zum Einsatz der Schlagermusik bei Fassbinder. Täglich wird zum gemeinsamen Hören und Reflektieren seines Hörspiels »Ganz in Weiß« eingeladen, das Fassbinder zusammen mit seinem Komponisten Peer Raben 1970 realisiert hat (Listening Sessions 13:00-18:30 Uhr).
Nicht nur Seitenblicke, auch Filme gibt es »für alle Geschmäcker«, wie auf der Filmfest-Website gedichtet wird. Endlich eine Steilvorlage für unseren Auftakt-Cartoon! In der Tat ergibt sich beim Durchblättern des Programms der Eindruck, dass einfach alles vertreten ist, dass dies aber noch nicht einmal von Nachteil ist. Denn so ist tatsächlich große Varianz und Vielfalt garantiert. Achtung, es folgt ein Empfehlungsmarathon!
Es gibt Gewinnerfilme und Starfilme der wichtigen Festivals. So Joachim Triers Sentimental Value, Mascha Schilinskis In die Sonne Schauen, Oliver Laxes Sirât oder Richard Linklaters Nouvelle Vague.
Es gibt Geheimtippfilme, die nicht breit rezipiert wurden, aber Garanten für ein cineastisches Filmerlebnis sind. Darunter zwei Filme des philippinischen Meisters des Slow Cinema Lav Diaz (Magellan, Phantosmia) und den epischen Must-See-Film O riso e a faca (I Only Rest In The Storm) des Portugiesen Pedro Pinho.
Außerdem gibt es viele Wiedersehen mit alten Bekannten: einen neuen Film von Christian Petzold mit Paula Beer (Miroirs No. 3, Filmfest-Abschlussfilm), einen neuen Film des Mexikaners Nicolás Pereda (Lázaro de noche), gleich zwei Filme des US-Independent Alex Ross Perry (Videoheaven, Pavements), François Ozons Quand vient l’automne (Wenn der Herbst Naht), und, spektakulär und hochgradig überraschend, umwerfend komisch und dabei dennoch tieftraurig: Hard Truth von Mike Leigh. Unsere besondere Empfehlung unter vielen Empfehlungen!
Als außergewöhnliche Filme zu empfehlen sind die kolumbianische Melancholie in Un Poeta von Simón Mesa Soto, die israelische Nationalhymnen-Satire Yes von Nadav Lapid und Daniel Hoesls Kapitalismus-Kritik Un Gran Casino. Auch der Krokodilwilderer-Dokumentarfilm Al oeste, en Zapata des Kubaners David Bim sei erwähnt, selbst wenn er nicht zu unseren Lieblingsfilmen zählt. Wer Musicals mag, kommt bei Anne Bonnins Partir un jour (Nur für einen Tag) auf seine Kosten, dem diesjährigen Eröffnungsfilm von Cannes.
Newcomer haben dieses Jahr ihre großen Auftritte, so auch beim Filmfest: Lilith Kraxner und Milena Czernovsky kommen mit ihrem Film Bluish (Gewinner FIDMarseille 2024), Alexandra Makarová kommt mit Perla und Ehemann Simon Schwarz, einem sehr tollen Migrationsfilm, der bis in die Zeit des Kalten Krieges zurückreicht. Dieses Jahr feiern außerdem etliche Schauspieler:innen ihr Regiedebüt, so auch Harris Dickinson mit der Obdachlosen-Ballade Urchin.
Und dann gibt es natürlich noch das Neue Deutsche Kino mit Weltpremieren, das Aushängeschild des Filmfest München, das sich mit dieser Reihe zum wichtigsten Festival Deutschlands macht. Das Kuratorium aus Grönerweigl und Urs Spörri achtet auch hier auf ästhetische Diversität, die als Markenzeichen der neuen Leitung gelten darf. Wir empfehlen blind: Unterwegs im Namen der Kaiserin von Glamour-Feministin Jovana Reisinger und Das Glück der Tüchtigen vom mutigen Franz Müller, eine Art Sequel zum grandiosen (und gesehenen!) Die Liebe der Kinder.
»artechock« berichtet täglich vom Filmfest München, mit Kurzkritiken, Langtexten, Interviews und Podcasts!