42. Filmfest München 2025
42. Filmfest München: Kurzkritiken |
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In Kooperation mit der LMU München.
Wir sind alle Loser. Oliver Rihs durchgeknallte Komödie versucht alle Grenzen zu sprengen und die Erwartungshaltungen jeglicher Art gleich mit dazu. Dabei kommt dann ein Neuköllner Clan-Chef raus, der zu einem wilden Grünen mutiert oder zwei Frauen, die einfach mal die Sau raus lassen wollen. Rihs schneidet diese abstrusen Berlin-Geschichten etwas erratisch zusammen, aber immerhin gibt es einen heißen Sommer, der dem dramaturgischen Chaos Sinn verleiht. Kein Kalauer ist zu blöd, ihn nicht dann doch zu verheizen und das Ganze wird durch fettestes Overacting noch einmal verstärkt. Dadurch verlieren einige der starken Geschichten wie die des Clan-Chefs zwar etwas an Fahrt und ist es bei all dem grotesken, tiefschwarzen Humor dann auch selten wirklich komisch. Aber irgendwie ist die Moral von der Geschicht dann einfach zu nett (und der Abschlusssong einfach zu fantastisch), um wirklich genervt zu sein: Loser aller Länder, vereinigt euch! – Axel Timo Purr
Wenn die alte Ordnung zerbricht, herrscht das Chaos, das Recht des Stärkeren. Die alte Kolchose existiert nicht mehr, die Armut grassiert, der Schafbestand ist dezimiert. Die Korruption erlebt eine Blütezeit. Unter diesen Umständen versucht Abel in der Wüste der kasachischen Region Almaty kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion, das beste für seine Familie herauszuschlagen. Er wohnt in der ehemaligen Kolchose, zu deren Erfolg er zu Sowjetzeiten maßgeblich beigetragen hatte. Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Kolchosemitgliedern bemüht er sich um Menschlichkeit im Prozess des Um- und Aufbaus der Gesellschaft; gleichzeitig macht er sich keinerlei naive Vorstellungen. Die betörenden, ruhigen, traumhaften Weiten der kasachischen Wüste sind in manchen Szenen von lauten, teils handgreiflichen Auseinandersetzungen und Enge geprägt. Die Hoffnung auf eine gute Zukunft in der Heimat, ohne die Vergangenheit zu vergessen, kommt ebenso zum Vorschein wie das unerbittliche Streben nach brutaler Macht mancher Männer. Ein trotz allem sehr schöner Film, der sich in der Schönheit nicht verliert, sondern durch sie viele Facetten des Menschen aufzeigt. – Paula Ruppert, LMU München
Landi watet durch den kubanischen Dschungel, ein Krokodil um die Schultern. Die Kamera folgt ihm unerbittlich dabei, wie er Schritt für Schritt sie Beute in seinen Unterschlupf mitten im Urwald schleppt, keine Menschenseele weit und breit. Der Film erzählt in schlichtem Schwarzweiß und mit langen, oft statischen Einstellungen. Vielleicht ist es diese Simplizität, die die Geschehnisse so beeindruckend macht; allerdings ist allein die Tatsache, dass Landi nur mit einem alten Kahn, einem Stecken und einem Seil wilde, ausgewachsene Krokodile fängt, beeindruckend, und als Zuschauerin fragt man sich, wie unglaublich stark dieser Mann sein muss. Im zweiten Teil lernt man das Leben seiner Frau kennen, die sich um ihren autistischen Sohn kümmert und den Haushalt führt, auch wenn sie vor Sorgen um ihren Mann fast einzugehen scheint. Al oeste, en Zapata ist ein beeindruckender Film über eine beeindruckende Familie. – Paula Ruppert, LMU München
Gewittergrollen über Zapata. Mit sicherem Schritt schiebt der Jäger sein Ruderboot durch das brusthohe Wasser des kubanischen Sumpfs. Da durchbricht vor ihm ein Krokodil die Wasseroberfläche. Ausgerüstet nur mit einer Seilschlinge nähert er sich dem Raubtier. Minutenlang setzen Mann und Tier all ihre Kräfte ein in diesem fast lautlosen Kampf um Leben und Tod. Erschöpft blickt der Mann sich um – als urplötzlich und nur für den Bruchteil einer Sekunde sein warnender Blick an der Kamera hängen bleibt. Bleib, wo du bist. Das ist kein Spielfilm – es ist eine Dokumentation. In langen, ruhigen Sequenzen begleiten wir Landi und seine Frau Mercedes: Er jagt, sie kümmert sich um den Sohn. Plastische Schwarzweiß-Bilder fesseln den Blick, ohne reißerisch oder mitleidig zu wirken: Jagd und Familienleben packen gleichermaßen. – Anna Edelmann
Geballte menschliche Grausamkeit — größtenteils präsent durch Geräusche, die Bilder bauen sich nur in den Köpfen der Zusehenden auf. Dies ist der Alltag für sogenannte Cleaner, die »Ersthelfer des Internets«, wie sich Protagonistin Daisy (Lili Reinhart) scherzhaft selbst nennt. Gebunden an Ergebnisquoten und Company Policy, eingepfercht im Großraumbüro, gestützt nur von Drogen, Zynismus und lautstarken, gewalttätigen Gefühlsausbrüchen. Sie werden bezahlt, um die Abgründe der Gesellschaft zu beurteilen, die sich im Internet ausbreiten. Was das mit Menschen macht, zeigt die zunehmende Abstumpfung der Figuren: Der Job ist auch abends bei Drinks kein Tabu. Einen Gegenpol zur Apathie findet das Publikum in der obsessiven Gewaltspirale, in die Daisy fällt — und bleibt tief verstört zurück. – Anna Schellkopf, LMU München
Glück macht dumm: Sollten Bauernregeln gültig sein, so wie das Wetter am Siebenschläfertag, nachdem sich die Qualität des kommenden Sommers misst, dann sieht es für das Filmfest München eher mau ist, zumindest wenn man das Festival nach einer alten Festivalbesucherregel an seinem Eröffnungsfilm misst. Denn die leichte Komödie über vergangene Liebe und verratene Ideale auf einer einsamen irischen Insel, auf der ein Musiker von einem unterbelichteten, aber reichen Fan erst gestalked und dann therapiert wird, tut wegen ihrer liebenswerten Schrulligkeit und großartigen musikalischen Einlagen zwar gut wie eine Kopfschmerztablette, ist aber einen Tag später schon wieder vergessen. – Axel Timo Purr
Stell dir vor, du hast viel Geld und lebst auf einer Insel: Welchen Star würdest du gerne nötigen, Zeit mit dir zu verbringen? Eigentlich eine wunderbare Idee, die der Brite James Griffiths hatte – sie gibt aber trotzdem wenig her. Irgendwann fragt man sich, während man dem immerhin sehr humorvollen Spiel von Tim Key, Tom Basden und Carey Mulligan auf der beschaulichen Wallis Island zusieht, ob man in diesem Film nicht co-gekapert ist. Zu durchschaubar, auch zu läppisch sind die Plot-Zwangslagen und das Agieren der Hauptfiguren. Selbst der Höhepunkt, das intime Gitarren-Konzert für den superreichen Fan wird durch allzu viel gewollte Emotionalität vergeigt. Immerhin: Wie Folk-Star Herb McGwyer wünscht man nichts mehr, als von dieser Insel der Eintönigkeit endlich wieder fortzukommen. So funktioniert der Film dann doch. – Dunja Bialas
»Ja. Und...« Dies Prinzip hält Impro-Theater am Laufen. Und so funktioniert auch die Dramaturgie von Jay Duplass’ Debut als Solo-Regisseur ohne Bruder Mark. Der Start ein Meet-Cute: Weihnachten in Baltimore, Maryland (Staatshymnen-Melodie: »Oh Tannenbaum«). Auf dem Weg zur Familie seiner Verlobten schlägt sich ein neuerdings trockener Ex-Standup-Comedian einen Zahn aus. Die Not-Zahnärztin wurde von ihrer Tochter versetzt, zugunsten des Vaters. Die beiden ziehen – »Yes. And...« – durch die Nacht. Die romantische Fantasie des tempogedrosselten Screwball passt nicht ganz zum Dramödien-Ernstnehmen der Perspektive der geprellten Verlobten und von Suizidgedanken. Wie viele Impros hätte alles Straffung vertragen. Aber solch klassische US-Indies gehören zum FFMUC wie das »Und« zum »Ja«. – Thomas Willmann
Tanz den Mussolini. Cornelius Schwalm spielt in seiner Burleske mit allen möglichen Metaebenen. Er amalgamiert die bizarren Ideologien um Indigomenschen mit beißender Kritik an herrschenden Theaterparadigmen und NS-Kauderwelsch im Peenemünde-Idiom. Daraus entsteht eine immer wieder bizarre und nervige Dekonstruktion unserer gegenwärtigen Gesellschaft, aufgepeppt mit massivem Overacting und mit einem mit Endzeitfantasien »gepreppten« Ensemble, abgefahrenen musikalischen Einlagen, so dass am Ende nur noch Verblüffung ob der Tatsache bleibt, dass es tatsächlich möglich ist, Christoph Schlingensief als Zombieversion wiederzubeleben. – Axel Timo Purr
Das Internet ist für uns alle Neuland – immer noch. Besonders die dadurch vereinfachte Radikalisierung, die Elena nach einem Talkshowauftritt zu spüren bekommt, überrascht sie. Als das neue Ziel rechter Onlinegruppen machen sie die Hassmails und Drohungen immer paranoider. Inwieweit sie in Gefahr ist, wird oft hinterfragt, aber der Film macht klar, dass das nicht die richtige Frage ist und es vielmehr um ihre psychische Gesundheit geht. Zwar bleibt der Fernsehfilm oft vorhersehbar, aber besonders Elenas Paranoia ist immer nachvollziehbar. So wird ein Thema nahbar, das sonst nur in Statistiken Platz findet. Die Dramatisierung ist aber nie geschmackslos, auch durch die Zusammenarbeit mit der Organisation HateAid. Besonders das Ende ist befriedigend, ohne den Effekt von digitaler Gewalt alleine zu verharmlosen. – Nicolai Meußling, LMU München
Mix aus Action und Gefühlen. Im schummrigen Licht einer Gefängnistoilette begegnen sich Ikuto und Ryoma zum ersten Mal – und werden auf Anhieb Freunde: Denn Ikuto greift heldenhaft, wenn auch brutal, ein, um Ryoma zu verteidigen. Inspiriert durch einen Vortrag des prominenten Kampfsportlers Mikuru Asakura beschließen die beiden, an dessen Turnier teilzunehmen. In seinem energiegeladenen Coming-of-Age-Actionfilm verwebt der auf legendäre Weise produktive Takashi Miike Motive des sozialen Dramas mit Elementen tiefer Freundschaft und spinnt zusätzlich eine zaghafte Liebesgeschichte, was dem rauen Film weichere Facetten verleiht. Zwar bleibt die Dramaturgie weitgehend klassisch konventionell, doch die visuelle Umsetzung macht dies alles wett. In den brutal inszenierten Kampfszenen brilliert der Film mit beeindruckend schneller Montage und dynamischer Kameraarbeit. Und dann ist da noch dieser Hauptdarsteller (Danhi Kinoshita) – mit einem Blick, der mehr sagt als hundert Dialogzeilen. Seine Ausstrahlung, sein Charisma machen den Film schlicht und ergreifend besonders sehenswert. – Tanja Moll
Die Sünden der Väter. Ikuto und Ryoma lernen sich in einer japanischen Jugendstrafanstalt kennen. Nicht der beste Start für eine Freundschaft, wenn das Ziel eigentlich die Rehabilitation sein sollte – und sie nach der Freilassung doch wieder in ähnliche Kreise abrutschen wie ihre Altvorderen. Mit Blazing Fists zeigt Altmeister Takashi Miike jedoch kein Interesse an romantischer Verklärung des Rebellentums. Der Film ist nicht die reine, plumpe Prügelorgie, die man nach dem Titel erwarten könnte, sondern vielmehr ein überraschend zärtliches und launisches Porträt einer Jugend auf orientierungsloser Sinnsuche, getrieben vom Wunsch, nicht so zu enden wie die Väter. Denn da sie nicht wissen, was sie tun, bleibt die Lektion, dass es manchmal in Kämpfen nicht ums Gewinnen geht, sondern ums Überleben. – Anna Edelmann
Poesie des Nichtstuns. Das Remake von Otto Premingers Original von 1958 erzählt von Cécile, die an der Côte dAzur den Sommerurlaub mit ihrem Vater, dessen Freundin und einem Sommerflirt aus der Nachbarschaft verbringt. Attraktive Menschen sagen hier schön klingende Sätze, werden aber kaum zu dreidimensionale Figuren. Das Genre »Sommerurlaub in schöner Gegend mit Sommerflirt und affektierten Gesprächen« hat zudem schon so sehr aus dem Vollen geschöpft, dass Bonjour Tristesse nicht mehr viel beizutragen hat. Die Bilder sind fantastisch, die Schauspieler ebenso. Die vorgetragenen Weisheiten aber sind deutlich weniger komplex, als sich das die Regisseurin wohl vorgestellt hat. Insgesamt entfaltet der Film dann einen Reiz, wenn nur die Bilder und der Schnitt wirken und sich zwischen den Zitaten anderer Filmemacher, der schönen Landschaft und den komplizierten Beziehungen der Figuren zueinander ein Funken Poesie findet. – Christian Schmuck, LMU München
So eintönig wie das Rauschen des Meeres vergehen die Sommertage der 17-jährigen Cécile (Lily McInery) mit ihrem Vater und dessen Freundin: sie sonnen sich, rauchen, und Cécile trifft sich, wann immer es geht, heimlich mit ihrem Freund. Die Ankunft der Modedesignerin Anne (Chloë Sevigny), eine Freundin von Céciles verstorbener Mutter, mischt das Beziehungsgeflecht im Ferienhaus auf. Ihr Vater will nun mit Anne zusammensein, die neue Dynamik droht Céciles bislang unbeschwerten Sommer zu stören. Das Regiedebüt von Durga Chew-Bose setzt den gleichnamigen Coming-of-Age-Roman nach Otto Preminger ein zweites Mal in Szene. Leider verweilt der Film oftmals bei seinen atmosphärischen Bildern und lässt dadurch nur eine oberflächliche Auseinandersetzung mit dem spannungsvollen Verhältnis der Figuren zu. – Amelie Hochhäusler, LMU München
Warum soll sich wer für dieses Thema interessieren – wird an einer Stelle in dieser klugen Dokumentation von Erec Brehmer und Benjamin Rost über den Journalisten Michael Born gefragt. Born hatte in den 1990er Jahren gefälschte Beiträge für das Privatfernsehen geliefert und daran einträglich verdient. Die Dokumentation erzählt jedoch nicht nur Borns am Ende immer verbohrteres Leben, sondern hinterfragt auch so witzig wie scharf, warum wir Lügen glauben und relativiert den Begriff der Wahrheit im Dokumentarischen, in dem es stets mehrere Realitätsebenen gibt, ja geben muss. Ein Muss für den Schulunterricht, den interessierten Dokumentarfilmliebhaber, alle Nachrichtenkonsumenten und eine Gegenwart, in der inzwischen jeder fälschen darf, was und wie er will. – Axel Timo Purr
Ein letzter Song für Papa. Und der will ihn nicht hören. Eigentlich hatte Ethan Gold gehofft, dass sein 99-jähriger Vater zu seinem Kneipen-Konzert erscheint. Aber er lässt sich nicht blicken. Mit seinem Zwilling Ari macht er sich die paar Straßenblocks entlang auf, zu gucken, wo er bleibt. Ein One-Take-Musical in San Fransisco. Mit fiktionalisierten Versionen der Beteiligten selbst vor der Kamera. (Ein Trend auf dem FFMUC 2025!) Und echt guter Musik. Was ein bisserl arg hipsterig beginnt, wandelt sich zu einem sehr anrührenden Bild einer Vater-Söhne-Brüder-Beziehung. Wo sich alle schwer tun mit gegenseitiger Anerkennung. Es scheint, dass da im Spiel, in der Fiktion kurz vor dem tatsächlichen Tod des Vaters sich nochmal Dinge bewegten, die in der Realität erstarrt waren. – Thomas Willmann
Vermeintliche Freiheit. Nadia Fall gelingt mit ihrem Debüt ein ebenso kluger wie berührender Film, der sich gängigen Klischees entzieht – und dabei subtil, erschütternd und zutiefst zärtlich erzählt, wie Freundschaft, Glaube und gesellschaftliche Ausgrenzung ein gefährliches Geflecht bilden können. Der Film überzeugt nicht nur durch seine eindringliche, mit poetischen Bildelementen verstärkte Erzählweise und die präzise Regie, sondern vor allem durch seine tiefe Empathie – für seine Figuren, für ihre Herkunft, ihre Zweifel und ihre Hoffnungen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis jener Fragen, die unsere Gegenwart prägen: nach Zugehörigkeit, Identität, Freiheit – und nach der Zerbrechlichkeit all dessen. – Axel Timo Purr
Rede doch mit mir. Sebastian Husaks Kammerspiel an der Nordsee am Wattenmeer ist natürlich kein regionaler Nordseekrimi. Doch was Husak an psychologischen Hinterräumen seiner Protagonisten nach und nach freilegt, gleicht dann doch schon fast einem Krimi. Mehr noch, als neben die Sprachlosigkeit einer Beziehung Schuld und Sühne über einen toten Freund gestellt werden und der Film dann auch noch eine politische Ebene öffnet. Die ist vor allem deshalb spannend, weil sie gegen alle stereotypen Erwartungshaltungen zeigt, dass politische Radikalisierung nicht immer nur aus privatem Unglück erwächst und das Reden und Beziehungshistorie nicht immer helfen um, die gesellschaftlichen Blasen zu überwinden. – Axel Timo Purr
Pornographie verbindet. Pornographie entfremdet. Die junge, chinesisch-amerikanische Rebecca – gespielt von der Regisseurin selbst – verdingt sich als Camgirl. Findet dabei zu einem Kunden eine seltsame Verbindung. Zunächst abgesichert durch das virtuell-transaktionale Verhältnis. Bis ein Geschenk von ihm alles verwirrend lebendig, taktil macht. Auch zum sterbenskranken Vater, einer Künstler-Freundin schwebt Rebecca stets zwischen Distanz und Nähe. Der Film erinnert an die Zustände des einsamen Driftens ohne rechtes Andocken an die Welt bei Paul Schrader. Die Bilder stets ganz nah an den Gesichtern, das Außen verschwimmend, verschwindend wie bei den Bildschirmfenstern. Im Nachlass des Vaters findet Rebecca VHS-Pornos. Ein Moment der Verbindung, der Entfremdung. – Thomas Willmann
Lustvolles Capriccio vom letzten Absacker. Von Bar zu Bar geht es durch das Hinterland von Venetien, Heimat des in Berlin lebenden Francesco Sossai. Entlegene Winkel und verlassene Häuser offenbart diese trinkselige Pikareske mit zwei schon gezeichneten Säufern und einem Architekturstudenten aus dem neapolitanischen Stadtteil Pianura, der in Norditalien einen Bildungsroman der ganz speziellen Sorte durchläuft. Gefilmt wurde auf 16mm, die raue Grobkörnigkeit passt zur anarchischen Bewegung der freigeistigen Figuren-Kombo. Alkohol wird hier zum Treibstoff der Fahrt und entgegen dem ernüchterten Zeitgeist nicht in Frage gestellt. Auf einer anderen Eben ist dies jedoch eine umso nüchternere Entdeckungstour eines heruntergekommenen Italiens, das seine Schönheit in der brutalistischen Tomba Brion von Carlo Scarpa versenkt hat. – Dunja Bialas
»L’ultimo« – so heißt auf Italienisch der Drüberstreuer, das Fluchtachterl, dieser eine nun aber wirklich letzte Drink eines langen Abends. In diesem Film zieht der sich dann ein bisserl hin. Zwei glorreiche Kackspechte, einst kleinkriminell, wollen ihren Spezl, der lang nach Argentinien geflohen war, vom Flughafen abholen. Doch da kommt mancher Irrweg, ein schüchterner, neapolitanischer Architekturstudent und eben diverse »letzte« Biere, Schnäpse und dergleichen dazwischen. So dass es zwei Tage durchs Veneto geht. Zu schrattliger Musik und mit einer insgeheimen Trauer für das, was seit ein paar Jahren mit dieser Landschaft geschieht. Es gibt kein »andermal«, heißt es. Ein »Ultimo« wird dereinst der allerletzte sein. Ein wunderbarer One for the Road-Movie. – Thomas Willmann
Portrait eines Ortes. Tagsüber werden die verbliebenen Unterkünfte im Sektor 6 des Slums Cañada Real am Rande von Madrid zerstört. Nachts am Feuer werden den Kindern Mythen und Legenden der Nachbarschaft erzählt. On location und mit Laiendarstellern gefilmt, portraitiert der spanische Filmemacher Guillermo Galoe in seinem Spielfilmdebüt diesen Ort und die dort lebenden Menschen. Es ist ein radikaler und tief humanistischer Blick auf die Eigengesetzlichkeiten des Milieus, der sich aus der Erfahrungswelt des 15-jährigen Roma-Jungen Toni (Antonio Fernández Gabarre) entwickelt. Das Gefühl für den Ort vermittelt sich am eindrucksvollsten, wenn Toni die Umgebung mit seinem Handy filmt: Er sieht und perspektiviert seine Umgebung, wodurch der Film seinem Sujet aus der Mitte seiner Figuren heraus so nahe wie möglich kommt. – Amelie Hochhäusler, LMU München
Für immer und dich. Wie in #Schwarzeschafe, einem weiteren Beitrag der Reihe Neues Deutsches Kino, stehen auch in Stella Marie Markerts Film vermeintliche Berliner Loser im Zentrum der Erzählung. Doch verschluckt sich #Schwarzeschafe immer wieder an seinen Kalauern, ist der Humor bei Markert fein dosiert, manchmal schwarz, manchmal zärtlich. Denn Markert schaut sehr genau auf die Charaktere ihrer vier Mädchen, die in einer WG für betreutes Wohnen mit ihrem Coming-of-Age und ihren Defiziten hadern. Wer an Kikas dämlicher Mädchen-WG Freude hat, sollte diesen großartigen Film über Lebenlernen unbedingt sehen. Denn anders als die dort geskriptete Realität, ist das hier die bessere Realität, allein schon Malous bizarre Geschichte lohnt den Besuch dieses Film, der völlig folgerichtig mit einem Lied Rio Reisers schließt. – Axel Timo Purr
Wir sind im Finale. Als die Geschichte, die hier über vier Sommer von 1992 bis 1998 erzählt wird, zu Ende ist, steht Frankreich im Finale der Fußball WM. Doch anders als Frankreich gewinnt hier keiner das Finale seines Lebens, bleibt am Ende dann doch alles beim Alten. Die Verfilmung des Prix Goncourt-Siegers aus dem Jahr 2018 – auf Deutsch: „Wie später ihre Kinder“ – ist einer der ganz großen Romane unserer Gegenwart, erklärt er doch den Rassismus genauso wie den Klassismus, an dem unsere westlichen Gesellschaften zu zerbrechen drohen. Und das über eine berührende, vibrierende Liebesgeschichte und ein Coming-of-Age, das so süß wie bitter ist und ein Motorrad, das für Träume genauso steht wie für ihr Zerbrechen. Der Roman entfaltet zwar noch mehr Sogkraft als der Film, irritiert mehr, macht wütender und trauriger, doch auch die Filmadaption vom Regieduo Ludovic und Zoran Boukherma läuft immer wieder zu ganz großen Momenten auf. – Axel Timo Purr
Fräulein Elses Stream of Consciousness. Der Schweizer Thomas Imbach hat der hundertjährigen Novelle von Arthur Schnitzler eine filmische Form gegeben, die auf der technischen Ebene den neuartigen Gedankenstrom der literarischen Vorlage von 1924 überträgt. Else ist hier Lili, die im Urlaub in eine Zwangslage gerät, als die Mutter sie dazu bringen will, einen gewissen Dorsay um Geld zu bitten – der Vater hat eine beträchtliche Summe verspielt, Gefängnis droht. Eingezwängt von zwei potenten Männern – hier das Familienoberhaupt, dort der schmierige Familienfreund – muss sich Lili entscheiden, ob sie ihren nackten Körper gegen Geld dem Male Gaze aussetzt. Das thematisiert früh »Me too«, bei Imbach übersetzt sich das in eine rasante Inszenierung vor einer 3D-Projektion, gefilmt in 16mm-Tiefkörnigkeit, während die Gedanken unaufhaltsam in einen Strudel geraten. – Dunja Bialas
Träume und Gedankenströme. Lili ist zu Besuch bei ihrer Tante, als sie plötzlich ein Telegram ihrer Mutter erhält: Sie soll einen wohlhabenden Freund der Familie um Geld bitten, um die Schulden ihres Vaters zu tilgen. Wir begleiten Lili dabei vor allem durch ihre Gedanken, die dem Zuschauer als so gut wie ständige Off-Text Begleitung mitgeteilt werden. Das Konzept ist überaus interessant und die visuelle Aufbereitung in 16mm ausschließlich im Studio mit 3D-Projektionen gedreht, ist sehr ansprechend. Unglücklicherweise stellt sich bald heraus, dass Lilis Gedanken sich letztlich ständig im Kreis drehen, so wie es der Film auch tut. An den 16mm Bildern sieht man sich ebenso allzu schnell satt, weswegen der Film spätestens zum dritten Akt seine Langatmigkeit auch nicht durch Traumsequenzen und Tanzeinlagen verschleiern kann. Positiv hervorheben sollte man dennoch Hauptdarstellerin Deleila Piasko, die die Doppelrolle aus Gedankenstimme und lebendiger Figur mit Bravour meistert. – Christian Schmuck, LMU München
Die Wolken von Sils Maria ziehen nur in einem Insert kurz vorüber. Sonst bewegt sich diese Adaption von »Fräulein Else« in virtuellen Räumen. Imbach nutzt eine »virtual production« in am Set generierten Digitalkulissen à la The Mandalorian für eine experimentellere Ästhetik. Filmt die Projektionen in 16mm ab. Schnitzlers Gedankenstrom-Novelle ist dafür ein sehr dankbarer Stoff. Er liefert einen psychologischen Grund, keine Totalen zu zeigen. Passt stimmig zu dem Treiben in einem halb-irrealen Zustand. Bleibt aber die Frage, was iherseits die Bebilderung, die titelgebende Mischung aus Bloßstellung und Belichtung, wirklich an Mehrwert bringt, den der Text nicht fiebriger, dichter bietet. Und ohne grausigen Elektro-Charleston. – Thomas Willmann
Verschränkung der Zeit. Cédric Klapisch, der sich neben seinen leichten, romantischen Komödien seit Mein Stück vom Kuchen (2010) auch für gesellschaftliche Transformationen interessiert, verschränkt in seinem neuesten Film die Vergangenheit der impressionistischen Malerei mit unserer neoliberalen Gegenwart, erzählt über Familie als Langzeitexperiment und das Ringen um Identität im Gestern und Heute. Das ist so klug wie poetisch und bei weitem nicht nur ein Ausflug in die Malerei, sondern viel mehr ein berührender Versuch, Gesellschaftswerdung eine filmische Form und eine Geschichte zu geben. – Axel Timo Purr
Überlebenskünstler*in. »Die Malerei wird eh sterben«, sagt der junge Fotograf Lucien zu seinem Künstlerfreund Anatole im Paris des 19. Jahrhunderts. Dass sie alles überdauern und auch 200 Jahre später Menschen zusammenführen wird, können die beiden noch nicht ahnen. Dreh- und Angelpunkt in diesem Fall: Adèle Meunier, eine junge Normannin, die sich im Paris der 1890er Jahren auf die Suche nach ihrer Mutter begibt. Auf ihren Spuren wandeln ihre Nachfahren im 21. Jahrhundert. Und so ist es am Ende die Kunst, die Klarheit in die Familiengeschichte bringt – heute sowie vor 200 Jahren. »Entschuldigen Sie, ich suche nach Monsieur Monet« – die Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Cédric Klapisch entwickelt über den Exkurs in die Kunstgeschichte mit viel Liebe zum Detail ein tiefgründiges Manifest für das gesellschaftliche Zusammenleben und den wahren Wert der Kunst.– Amelie Fenske, LMU München
Tauschwerte und Dampfmaschinen. Beinahe dokumentarisch beobachtend verfolgt dieser Film das Reihenhaus-Patchwork-Leben der Supermarkt-Betreiberin Mira: Der Lebensgefährte verzockt geliehenes Geld für dubiose Crypto-Währung, das Super-Markt-Werbeschild fällt vom Himmel und begräbt zwei geparkte PKWs unter sich. Nur zwei Beispiele aus diesem sehr lustigen, klugen Film, der seine randständige, unaufgeregte Haltung nie verlässt, nahe bei seinen Figuren bleibt, ihnen
einfach folgt, sie aus dem Film treten und wieder hineinfinden lässt. Alle sind sie verloren in den merkwürdigen Systemen der Gesellschaft, abhängig von Verträgen, die sie beständig umgeben. Geld und Liebe, alles hat seinen Tauschwert.
Zum Glück steckt in dieser Absurdität des Daseins eine Menge Ironie, darf man trotz allem noch lachen über diese beste aller Welten. – Benedikt Guntentaler, LMU München
Klassenverhältnisse. Franz Müller, Regisseur aus dem Umfeld von »Revolver« und dem Kölner Filmclub 813, befasst sich seit vielen Jahren mit dem Klassismus im Film. Dies schlägt sich jetzt in seinem neuesten Werk nieder, in dem eine Supermarkt-Leiterin gegen die Insolvenz und den Zusammenbruch ihrer Existenz ankämpft. Das Glück zerrinnt ihr förmlich unter den Händen, während die eigene Mutter sie kritisiert, sich immer »nach unten« zu orientieren. So geht es vom Reihenhaus-Hausmann-zwei-Kinder mit einem, wenn auch stressigen, so doch funktionierenden Alltag rapide in die Zerschlagung der kleinbürgerlichen Verhältnisse. Da dies aber ein Kölner Film ist, regiert hier die trocken-humorige Bestandsaufnahme eines Lebens, das sich nicht mehr in den Griff kriegen lässt, durchsetzt von etlichen Insider-Anspielungen, von der Nummer des Hotelzimmers 813 angefangen bis zum Pärchen in einer Bar. – Dunja Bialas
Wenn das Leben aus dem Takt rappt. Seit dem ersten Teil Die Liebe der Kinder sind 16 Jahre vergangen – und Mira scheint alles im Griff zu haben: Eine glückliche Ehe, zwei Kinder und nun auch ihre eigene Supermarktfiliale. Wäre da nicht ihr Ehemann – ein Ex-Rapper mit Hang zu windigen Krypto-Träumen –, der im Handumdrehen das von Miras Stiefvater geliehene Geld in zwielichtigen Geschäften versenkt. Und ab hier gerät alles aus der Spur – denn Mira verschweigt die Wahrheit. Angesichts des Ernstes der Lage vollführt Franz Müllers zweiter Teil seiner Trilogie einen gelungenen Spagat zwischen Existenzsorgen und Alltagskomik. Er erzählt vom Wackeln auf dem Hochseil namens Familienleben – insbesondere, wenn es sich um eine Patchworkfamilie handelt – mit feinem Gespür für Tragikomik und Timing. Die französisch anmutende Filmmusik verleiht einen Hauch Leichtigkeit und Melancholie. Eine schräge und zum Schmunzeln bringende Tragikomödie darüber, was passiert, wenn das Leben plötzlich aus dem Takt gerät – oder rappt. – Tanja Moll
Du musst dich nicht immer nach unten orientieren. Gnadenlose Alltagsspiralen in Leverkusen. Was dröge klingen mag, wird unter der Regie von Franz Müller zu einem regelrechten Alltagskrimi, in dem soziale Hierarchien, Herkunftsgeschichten und familiäre Erwartungshaltungen genauso ins Schwanken geraten wie der Balance-Akt zwischen Lüge und Wahrheit. Die Reihenhausrealität ist dabei genauso aufregend wie die ernüchternden Arbeitsverhältnisse der Supermarktleiterin Mira und der brennglasartige Blick von Müller auf die Beziehungen seiner Protagonisten. Das Müller hier eine Geschichte weitererzählt, die er vor 16 Jahren in Die Liebe der Kinder begonnen hat, stört gar nicht. Der Film steht wie ein Monolith für sich, macht aber natürlich unfassbar neugierig auf den Anfang dieser hyperrealen Lebenslinien. – Axel Timo Purr
Brutalistisch und erhaben thront das 13-stöckige Gebäude des Spielcasinos in Campione d’Italia über den Ufern des Luganer Sees. In seinem poetischen Filmessay in puristischem Schwarz-Weiß beschwört Daniel Hoesl die kapitalistischen Geister, die hier in einer italienischen Enklave und Steueroase in der Schweiz ihr Unwesen treiben. Nach dem satirischen Spielfilm Veni Vidi Vici wendet sich Hoesl damit wieder experimentelleren Formen zu. Seine filmische Meditation über die unsichtbare Hand des Markts wird getragen von dem gleichermaßen luziden wie unauslotbaren Text des Dramatikers Thomas Köck. Dazu erklingen düster-abgründige Songs der Band Ja, Panik, deren Sänger Andreas Spechtl auch als Darsteller mitwirkt. Doch vor allem die gleitenden Fahrten der Kamera schlagen einen in Bann. Sie umkreisen das Casino beharrlich, erkunden die Straßen und die Landschaft der Umgebung und erzeugen jenen somnambulen und doch klarsichtigen Schwebezustand, der den Inbegriff des Kinos ausmacht. – Wolfgang Lasinger
Unsichtbare Hände bestimmen diesen poetischen Essayfilm nach Textvorlage von Thomas Köck. In wunderschönstem Schwarzweiß werden wir dazu eingeladen, durch Campione d’Italia zu schweben, im tranceartigen Zustand den Phantomen und Geistern des Kapitals, der Wirtschaft, des Glücksspiels beizuwohnen. Nie weiß man, wohin die Reise geht, ob man nun Dokument oder Spiel beobachtet, eine Pulp-Novel liest, oder sich ins letzte Jahr in Marienbad zurückträumt. Das Voice-Over gibt Gedanken vor, die sich nie ganz in den Bildern materialisieren, nie real werden können, die wie alles in dieser verwunschenen Stadt, in diesem anmutigen Film, in der Schwebe hängen. Wie schade, dass die echte Schweiz so real sein, Farben besitzen muss, nicht wirklich dieser Nichtort ist, der Styx, besiedelt von Männern in klassischen Anzügen, Frauen in schwarzen Kostümen. Wie schade, dass dieses auf Zelluloid gebannte Totenreich nur 80 Minuten anhält. – Benedikt Guntentaler, LMU München
Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Pansy hat unglaublich schlechte Laune, schimpft sich durch den Alltag, entfesselt Streit, wann auch immer sich die Gelegenheit ergibt. Spoiler: Es gibt etliche. Unter der Wut und dem Zorn aber verbirgt sich viel Trauer, das macht Mike Leigh mit viel Gespür für seine Hauptfigur deutlich. Depression und unverarbeitete Erlebnisse verwandeln sich unter seiner Regie zu einer durch und durch komischen Schwarzgalligkeit . Diese Film-Trouvaille des 82-jährigen Briten spielt zudem zur Gänze in der blacken Community, die Weißen sind Randfiguren, fungieren als Möbelverkäuferinnen, Kassiererinnen etc. Eine Umkehrung der sonst in europäischen Filmen abgebildeten rassischen Normverhältnisse, die bravourös funktioniert, uns aber weniger einen moralischen, denn einen zutiefst humanistischen Spiegel vorhält. – Dunja Bialas
Empathie lehren. Das macht Mike Leigh mit seinen Filmen, indem er uns für oft zunächst unsympathische Figuren mitfühlen lässt. Hier zeigt er uns den Alltag von Pansy, einer mittelalten, britischen Frau, die auf den ersten Blick nur zwischen zwei Emotionen springt: Wut und Hass. Manchmal auch beides auf einmal. So werden im Supermarkt, beim Zahnarzt oder auf dem Parkplatz erstmal alle angeschrien. In der ersten Hälfte kommt es auch zu lustigen Situationen, ohne dass wir über sie lachen. Aber je mehr Zeit wir mit Pansy und ihrer Familie verbringen, desto mehr sehen wir den Schmerz und die Trauer in ihr. Das alles funktioniert nur so gut, weil Marianne Jean-Baptiste eine Jahrhundert-Performance abliefert, die wahnsinnig aktuell ist. Ohne einen wertenden Blick zeigt uns Mike Leigh Depressionen in der modernen Welt und letztendlich, wie sehr wir doch andere Menschen brauchen. – Nicolai Meußling, LMU München
Die Wut namens Trauma. Pansy fühlt sich verfolgt. Aber es kommt nicht von außen – sondern aus ihrem Inneren, das sich in einer unfassbaren Wut Bahn bricht, die sich gegen die ganze Welt richtet. Wie ein Psychotherapeut, der zunächst genau beobachtet, bevor er diagnostiziert, legt Regisseur Mike Leigh in seiner psychologischen Studie Schicht um Schicht die Versehrtheit seiner Protagonistin frei. Die Kamera bleibt extrem nah an Pansys Gesicht, fängt jede Zuckung, jedes Stirnrunzeln ein – und entblößt ein Seelenleben, das von einem nicht verarbeiteten Kindheitstrauma gezeichnet ist. Die eindringliche Inszenierung lebt nicht zuletzt von der schauspielerischen Glanzleistung der grandiosen Marianne Jean-Baptiste, die Pansys Zorn und Schmerz mit großer Intensität und Authentizität verkörpert. – Tanja Moll
Das wiedergefundene Leben. Schwäbische Provinz meets Berlin meets Katholizismus – in souveräner paralleler Erzähltechnik gelingt es Alison Kuhn, unsere ganze fragmentierte Gegenwart in einem kleinen schwäbischen Dorf zu bündeln und so berührend wie klug und komisch davon zu erzählen, was es braucht, um sich bei all dem Irrsinn, den unsere Welt heute ausmacht, zu emanzipieren und wieder- und neu zu erfinden. Die Ensembleleistung ist stark und die Dialoge ein Genuss und der erzählerische Anker – eine von Pater Iversens veranstaltete Laientheaterinszenierung ist ein großer Spaß. Und das nicht nur, weil sie an Oskar Panizzas Liebeskonzil erinnert. – Axel Timo Purr
Passionsspiel wird absurder Rave. Holy Meat erfrischt mit Humor, der situativ und aus den Figuren selbst entsteht, ohne platte Witze zu brauchen. Alle wirken schräg, aber echt. Gerade das macht viele Szenen amüsant und gleichzeitig menschlich, während eine gelungene multiperspektivische Erzählweise die persönlichen Schicksale in der schwäbischen Pfarrgemeinde Winteringen miteinander verwebt. Die Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche ist mal satirisch, mal ernsthaft. Visuell kreative Vignetten, die ein Stück Fleisch inszenieren, unterstreichen die Absurdität des Geschehens. Ein ungewöhnlich unterhaltsamer und berührender Film von Alison Kuhn. – Lara Pleyer, LMU München
Die Beliebigkeit des Lebens. Dietrich Brüggemanns kluges Kammerspiel handelt an der Oberfläche vom vermurksten Abend eines Paares, das sich auf der Suche nach Beschäftigung an den Untiefen des digitalen Alltags reibt. Doch sehr subtil erzählt der Film mit Nadine Dubois und Joseph Bundschuh in großartiger Präsenz auch von einer Gesellschaft der Beliebigkeit, in der selbst Sex nur eine Möglichkeit ist und das Leben so wichtig und unwichtig wie ein Fußballspiel ist. Eine reale Dystopie, so nonchalant erzählt, dass es die pure Freude und abgründigster Grusel ist. – Axel Timo Purr
Die Qual der Wahl. »Ich will ja nichts sagen, aber dieses Atmen klingt Deutsch.« Endlich hat sich das Paar beim gemütlich geplanten Fernsehabend auf einen Film geeinigt, da naht schon die nächste Katastrophe: Synchronfassung, welch Graus. Also wird weitergescrollt durch die schier endlosen Optionen der Abendgestaltung. Die Filmauswahl ist zu groß, der Algorithmus keine Hilfe, das Passwort fürs Streamingkonto vergessen, das Internet ruckelt. Es muss so sein: Die Situation eskaliert im überschaubaren, zwischenmenschlichen Rahmen. Dabei könnte alles so einfach sein, doch am Ende bleibt eine unsichere Unzufriedenheit mit dem Leben. Auch beim Zuschauer: Der Film wagt nie mehr Tiefe, verlässt sich ganz auf Wiedererkennung alltäglicher Szenen, ohne den scharfen Blick eines Polt oder Loriot. Wer sich damit zufrieden gibt, hat sich für den richtigen Film entschieden, immerhin. – Anna Edelmann
Leichtfüßiges Sozialdrama im Rotlicht-Milieu. Die Sozialarbeiterin Kika erfährt gerade, dass sie schwanger ist, als sie die Nachricht erreicht, dass ihr Partner nicht mehr lebt. Aufgrund von Geldproblemen mit einem Kleinkind sowie einem weiteren auf dem Weg, beschließt sie, als Sexworkerin anzufangen. Während sie zunächst nur sehr wenig Dienstleistungen anbietet, betritt sie die Welt der bizarren BDSM Praktiken und dehnt dabei ihre Grenzen immer weiter aus. Mit ihrem Debütfilm gelingt Alexe Poukine ein betrübendes Sozialdrama, welches dennoch witzige wie auch schöne Momente bietet. Trotz einiger dramaturgischen Holprigkeiten ist der Film am Ende ein hervorragender Mix aus Drama und Satire, mit expliziten Schärfen, die jedoch stets respektvoll gegenüber der Sexworker-Community ist. Zudem bietet Manon Clavel in der titelgebenden Rolle der Kika eine meisterhafte Darbietung, die den Film mit Leichtigkeit trägt. – Chris Schmuck, LMU München
Damit man mir glaubt. Selbstermächtigung und die Artikulierung von Missbrauchserfahrung sind kein Kind unserer Gegenwart, sondern gab es schon Anfang der 1960er Jahre. Ein wenig statisch und einer Versuchsanordnung gleich, erzählt Christina Tournatzés die wahre Geschichte der 12-jährigen Karla. Die Statik macht Sinn, denn Tournatzés unterlegt sie mit einer immer wieder düsteren, poetischen Bildsprache und Dialogen, durch die sich ihr überragendes Ensemble regelrecht ringen muss, denn es wird spürbar, dass hier erzählt wird, worüber bislang stets geschwiegen wurde. Und die Erkenntnis, dass vor Gericht die Wahrheit nicht ermittelt, sondern nur verhandelt wird, erinnert an Lars Kraumes Der Staat gegen Fritz Bauer, in dem ebenfalls die bleierne Zeit der früher BRD erklärte, warum wir unser heutiges Deutschland so ist, wie es ist. – Axel Timo Purr
Gibt’s einen freieren Geist hierzulande? Als Helge Schneider? Bei dem jeder Abend auf der Bühne so improvisiert ist wie die gesamte Karriere. Und allein dem Prinzip folgt: Taugt mir das grade? Seine filmische Autobiographie geht entsprechend noch einen Schritt weiter als seine Spielfilme: Kein Produktionsbrimborium mehr. Sondern nur Helge, sein langjähriger Gitarrist Sandro Giampietro, eine kleine Digitalkamera sowie Helges Privatarchiv an Heim-Schmalfilmen und Videobändern. Und eine große Lust am Spielen. Die Überraschungsgäste reichen von Peter Kraus bis Alexander Kluge. Der Geist Schlingensiefs ist sehr präsent. Und unter großzügiger Aussparung vieles Privatem springt der Film zwischen Kindheitserinnerung, Musikmomenten, Filmgenre-Hommagen, Abhängen in Spanien. Zwischen Dokument und Fiktion. Äh – Underdox, wie wär’s...? – Thomas Willmann
Propaganda oder Memoiren? Die Prämisse der Biografie eines Ex-CIA Agenten stellt diese Frage fast schon zwangsläufig, ungeachtet ihrer dokumentarischen Bearbeitung. Teile der Tongestaltung müssen sich diesem Vorwurf durch bewusst emotionalisierende Musik-Unterlegung auch stellen. Gerade aber in der Bildgestaltung mit Montage von überwiegend historischem (schwarzweißem) Bild- und Filmmaterial, immer wieder unterbrochen von jetzt-zeitlichen Interviews, findet eine überraschend breite Betrachtung der westlich-europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts statt. Die subjektive Linse des deutsch-jüdisch stämmigen Peter Sichel, aufgewachsen im Frankfurt/Main der 1920er Jahre, zeichnet einen eindrücklichen Zeitzeugen-Blick auf die Geschichte von 1933 bis in die späten 1950er Jahre — und warnt dabei ausdrücklich vor Parallelen zu heutigen Entwicklungen. – Anna Schellkopf, LMU München
Ich bin Vielheit. Mike Flanagans kongeniale Umsetzung eines Kurzromans von Stephen King zeigt nicht nur, dass King weit mehr als nur ein Bestsellerautor mit Horrorschwerpunkt ist, sondern wie so oft, auch hier nah am Puls unserer Gegenwart operiert. Es ist eine so lyrische wie analytische Geschichte, in der nicht nur der Lauf der Zeit umgedreht, sondern auch die Mathematik als die Quelle von existentieller Wahrheit in den Raum gestellt wird. Und dann ist da noch Walt Whitmans »Song of Myself« und die schöne Traurigkeit ob der Erkenntnis, dass wir alle mehr sind, als wir zumeist glauben. Im englischen Original erzählt übrigens Nick Offerman aus dem Off die verbindenden Passagen, was an sich den Film schon lohnt. – Axel Timo Purr
Wer ist Chuck? Eine Frage, die anfangs immer wieder gestellt wird, aber eigentlich den ganzen Film beschreibt. Beantwortet wird sie durch die Menschen, die er trifft, die Welt, in der er lebt und die Dinge, die er tut. Das klingt zwar abstrakt, ist es aber nicht. Denn trotz einem bunten Mix an Genres (mal magischer Realismus, mal Tanzfilm), bleibt der Film bei Chuck und bei den großen Fragen des Lebens. Das wiederum klingt kitschig... und das ist es auch. Ebenso ist es wenig subtil und oft sehr sentimental, aber trotzdem funktioniert der Film, weil er so ehrlich und authentisch ist. Er schämt sich nicht für den Kitsch, es wird nie selbstironisch oder prätentiös, geschweige denn langweilig. Die großen Fragen werden mit einer lebensbejahenden Leichtigkeit aufgegriffen, sodass man nach dem Film die ganze Welt anders sieht. – Nicolai Meußling, LMU München
Ein Künstler-Biopic – und es geht kaum um Kunst? Das kann funktionieren, sogar sehr gut. Über 15 Jahre folgen wir der Surrealistin Leonora Carrington durch die Welt, toll von Olivia Vinall gespielt und ebenso toll mit der Kamera eingefangen. Sie flieht vor dem Kindheitstrauma, vor dem Wahnsinn, vor dem Krieg in Europa. Am Ende steht ein neuer Anfang. Dabei bleibt der Film auf ihre Person fokussiert, selten sehen wir sie malen, noch seltener ihre Gemälde. Das wird filmisch ersetzt: mit dem Produktionsdesign, der Kamera, dem Schauspiel. Selbst mit dem hölzernen Dialog wird ein subtiler Surrealismus erzeugt, und es wird sehr deutlich, wie die Welt Leonora geprägt hat. Am Ende hätte man jedoch gern mehr über die Rolle der Kunst in Leonoras Leben erfahren. Deshalb sollte man sich nach dem Film unbedingt ihre Gemälde ansehen, das ergänzt sich dann sehr gut – im Nachhinein. – Nicolai Meußling, LMU München
Bereit für den Flug in eine längst vergangene Ära? Die Serie entführt uns in die späten 80er, in eine Zeit, in der das Nachtleben und die sexuelle Befreiung ihren Höhepunkt erreichen. Im Musikvideo-Stil wird das Aufkommen der AIDS-Pandemie in Brasilien thematisiert. Als Flugbegleiter Ando seine HIV-Diagnose erhält, beschließt er, lebenswichtige Medikamente aus den USA zu schmuggeln. Die Serie beruht auf einer wahren Geschichte und kombiniert intime, teils explizite Szenen mit dem Ziel der Aufklärung. Erstmals wird dieser Thematik eine lebensfrohe südamerikanische Perspektive verliehen. – Mona Mezhoud, LMU München
»Ich habe geträumt, dass ich gestorben bin«, sagt ein junger Soldat zu seinen Freunden am Lagerfeuer. Eine andere Frau feiert die Tage, an denen sie noch am Leben ist. Kinder spielen zwischen Schutt und Asche und essen Kirschen. Auf ungeschönte Art und Weise gibt der Film Einblicke in einen Albtraum, der für die Ukrainerinnen und Ukrainer Realität geworden ist – und sie zu »Militantropos«, »Soldatenmenschen«. Eine neue Spezies Mensch, die lernen muss, mit dem Alltag im Krieg umzugehen. Ausbildung an der Waffe am Morgen und Melonenernte am Abend. Mohnblumenfelder und Bilder aus dem Command-Center. Tränen des Abschieds und Tanzen bis zum Morgengrauen. Gerade diese Kontrastierungen sind es, die den Film auszeichnen und die berühren. Ein mehr als gelungener Auftakt zum dokumentarischen Triptychon »The days I would like to forget«. Entstanden aus 100 Terrabyte Material. Es sind Geschichten über Menschen. Über die Hilflosigkeit, die Stärke, das Weinen und das Lachen. – Amelie Fenske, LMU München
Im Krieg ist der Mensch nicht mehr Mensch. Er ist eine Mischung von Mensch und Soldat, der seinen Sinn verliert und versucht, diesen Sinn wieder zu finden. Diese Ansicht vertritt der Film, dessen Titel eine Mischung der lateinischen und griechischen Wörter für »Soldat« und »Mensch« ist. Er zeigt impressionenhaft die ukrainische Bevölkerung im Krieg – Evakuierungszüge, zerstörte Dörfer, aber auch Soldatenbrigarden im Schützengraben und bei der Aufklärung. Dabei wird bis auf Erläuterungen zu dieser Spezies von Mensch nichts kommentiert, die Bilder sprechen quasi für sich selbst. Die Brutalität und Auswegslosigkeit des Krieges wird so schonungslos an das Publikum herangebracht, ebenso die Verrohung. Die Gefahr, die Bilder auch glorifizierend auslegen zu können, wird durch die auf mehrere Momente aufgeteilte Begriffsklärung relativiert. Leider verliert der Film in seinem Verlauf etwas an seiner Eindrücklichkeit, wenn zunehmend hörbar zusätzliche Klänge auf die Tonspur hinzugefügt werden. – Paula Ruppert, LMU München
Die unerträgliche Leichtigkeit des Sommers. Wieder ein Sommerfilm und wieder wird viel Fahrrad gefahren. Doch anders als in Christian Petzolds großartigem letzten Film Roter Himmel, bei dem sich Petzold mit Leerstellen und Symbolismen merklich zurückgehalten hatte, wirkt sein neuer Film mehr wie eine enigmatische Skizze und eine Rückbesinnung auf frühere Filme, stehen Leerstellen und Symbole zentral im erzählerischen Raum, kann der Zuschauer nicht nur darüber sinnieren, ob die von Paula Beer verkörperte Laura ihre Mutter so verloren hat wie Barbara Auers Betty ihre Tochter. Doch Petzold verliert sich nicht in den Leerstellen, denn auch in Miroirs No. 3 hat er mit der Rolle des Max – wundervoll gespielt von Enno Trebs – wieder einen tumben Toren wie vor zwei Jahren Thomas Schubert als Leon in seine Erzählung mit eingebunden. Dadurch entstehen Zaubermomente wie das Königsberger-Klopse-Essen oder das Bier-Trinken beim „Titelsong“ des Films und eine mürrische Radfahrt über die Felder. Und die Stille und Nonchalance, mit der Petzold sein Drama in den letzten 20 Minuten auflöst, ist dann eine wahre Freude. – Axel Timo Purr
Der Trost des Vergangenen. Ein Autounfall bringt Laura durch Zufall ins Haus von Betty, die sie daraufhin umsorgt. Gemeinsam mit deren Ehemann Rüdiger und Sohn Max entstehen Familien-ähnliche Verhältnisse, welche je zu zerbrechen scheinen, als die Vergangenheit die Figuren langsam einholt. Christian Petzolds neuer Film glänzt vor allem durch seine spannende Ausgangslage und seine sehr gute Besetzung. Am Scheideweg zwischen Thriller und psychologisierendem Drama entscheidet sich der Film für zweiteres, was ihm jedoch nicht guttut. Früh legt Petzold die Karten seiner Geschichte auf den Tisch und gibt so ein wenig auch die Trümpfe aus der Hand. Für den psychologischen Ansatz bleibt man zu sehr auf Distanz zu den Figuren und bekommt zu wenig Dimensionen, in denen eben jene sich bewegen. – Chris Schmuck, LMU München
8 Stunden nach dem Film. Ein Autounfall, Lauras Freund verunglückt tödlich, sie aber überlebt ohne Verletzungen, begibt sich in Obhut einer dreiköpfigen Familie. Der Aufenthalt ist frei gewählt, eine Auszeit auf dem Land. Schnell aber tun sich unausgesprochene Wunden auf, die Vergangenheit legt sich über diese temporäre Patchworkfamilie, baut Nähe wie Distanz auf. Ästhetisch nähert sich der Film diesem emotionalem Mysterium kaum, bleibt distanziert, adaptiert die verräterische Biedermeier-Idylle ohne Brüche. Das macht es schwer, zu Miroirs No. 3 vorzudringen, den inhärenten Kitsch, die performative Verträumtheit nachzuvollziehen. Erst in der Nachbetrachtung beginnen sich die Motive zu separieren, geisterhaft miteinander zu kommunizieren. Was hat man hier überhaupt gesehen, und warum erscheinen all die Offensichtlichkeiten auf einmal so poetisch, so rätselhaft, so melancholisch? – Benedikt Guntentaler, LMU München
Die Angst vor dem Leben. So wie Hanna Doose 2022 auf dem Filmfest München mit Wann kommst du meine Wunden küssen? Patchwork-Identitäten in kathartische Abgründe schickte, so inszeniert auch Michael Baumann sein Familienstelldichein als radikale Fragestellung, wie weit die Freiheit taugt, um die Angst vor dem Leben und den Kampf um Selbstverwirklichung zu bewältigen. Das ist psychologisch dicht und überzeugend umgesetzt und mit dem wichtigen Fokus auf das Coming-of-Age der vor ihrem 14-jährigen Geburtstag stehenden Mia, weitet Baumann die Perspektive erheblich. Wie er die unterschiedlichen Generationen miteinander verschränkt, alle gleichermaßen verzweifelt auf der Suche nach dem Glück im Leben, ist so subtil wie alltäglich. Neben all den dargestellten, lauten Verwerfungen, nimmt sich Baumann jedoch auch Zeit für poetische Momente, wird sein Blick zärtlich, nicht nur bei dem von allen Darstellern großartig gespielten Ende dieses Films. – Axel Timo Purr
Die jungen Leute gehen ins Kino und diskutieren, analysieren den Morlaix-Film im Film Morlaix. Die Figuren verdoppeln sich in diesem nicht nur auf der übertragenen Ebene: Unvermittelt sind es dieselben mit denselben Namen. Da ist vor allem das Paar Gwen und Thomas und der Zugezogene Jean-Luc. Angedeutete Konflikte und Gefühle »aus der echten Welt« sind hier konkretisiert, verdichtet, poetisiert – nicht immer frei von Pathos. Doch verfolgt der Film hier zum Glück kein Kalkül der sinnlosen Zuschauerverwirrung, um ebendiese irgendwann zu lichten und ihm ein gutes Gefühl zu geben: Morlaix behält stets eine subtilere Undurchdringbarkeit. Im Mittelpunkt steht bei all dem die Möglichkeit einer Liebe und die Möglichkeiten des Kinos. Gehen wir doch nur an diesen Ort, um uns selbst zu sehen? Ist das Kino eine »Schule« der Passionen oder eher der Fluchtpunkt des Unmöglichen? Dabei werden immer wieder Schwarzweiß-Fotografien der Figuren eingeblendet. Augenblicke des Sprechens und Lachens; Blicke und Küsse. Es sind Dokumente der vergehenden Zeit und dessen, was bleibt: vorauseilende Vorboten einer Erinnerung. Morlaix wird an den Punkt kommen, wo nicht mehr dokumentiert wird und einem vielleicht nur noch das Erinnern bleibt – oder anders: wieder der Rückzug ins Kino. – Noah Mrosczok, LMU München
Ist das, wie’s endet? Ganz ohne Drama. Nur die Blitze der drohenden Katastrophe am Himmel. Und davor letzte Schwimm-Bahnen. Abschiedsbriefe an den Türen. Das Heulen der Sirenen, während einer auf einem verlassenen Parkplatz BMX-Tricks übt. Zwei Freunde auf einem Roadtrip nach Philadelphia, zum ersten Mal raus aus Florida, aber dann doch in die Irre. Entlassungen in der Sports-Bar. Abhängen am Motel-Pool. Die Polizei mit dem existenzialistischen Satz: »You're on your own, sir.« Die Sintflut nimmt dann eine Umleitung. Dem Hurricane-Jäger entfleucht die Beute. Man kehrt um. Alles zurück zum Alten. Ganz ohne Drama. Ohne Epiphanien. Bis zur nächsten Apokalypse. – Thomas Willmann
Lieben Sie Brahms? Dieser Satz ist nicht nur ein geflügeltes Wort, sondern für manche Kinoliebhaberin auch der beste Moment in Jean-Luc Godards À bout de souffle – trotz der enttäuschenden Antwort. Leider fehlt genau dieser Satz in Richard Linklaters Nouvelle Vague, der eine Art Hommage-Making-Of von Godards Film ist. Das beginnt bereits in der grundlegenden visuellen Gestaltung, die sich ein Vorbild an Godard nimmt: Bildformat 1:1,37, kriseliges Schwarzweiß. Die Entstehungsgeschichte ist von witzigen Momenten durchzogen, zeigt Godard aber auch als Künstler, der zwar eine Vision hatte und diese um jeden Preis verwirklichen wollte, jedoch nicht unbedingt ein entspannter, kooperativer Arbeitspartner war. Andere Künstlerinnen und Künstler der Nouvelle Vague kommen ebenso zum Vorschein, immer mit Close-Up und einem eingeblendeten Namen, was die Orientierung erleichtert. Und auch wenn Nouvelle Vague vielleicht nicht das größte Meisterwerk ist, so ist er jedoch definitiv kurzweilig, unterhaltsam zum Anschauen und macht Lust, manche Filme dieser Strömung des französischen Kinos wieder einmal anzuschauen.– Paula Ruppert, LMU München
Die Zeit vergeht hier auf seltsame Weise. Sagt die Hüterin des Item Shops. Es gilt für Obex insgesamt: 1987, Baltimore. Draußen die Millionen Zikaden, die alle 17 Jahre schlüpfen. (Gefilmt 2021.) Drinnen Connor, ein einsiedlerischer Mann, der an seinem Mac in ein Computerspiel gezogen wird. Natur und Technologie als nostalgische Markierungen der Zeit. Im Hintergrund unsere Lockdown-Erfahrung. Filmisch zwischen Lynchs Frühwerk und Andrew Bujalskis Computer Chess, mit Reverenz an A Nightmare on Elm Street. Es steckt eine Trauer in dem Film: Begleitet wird Conor vom als Halbmensch reinkarnierten TV-Apparat seines toten Vaters. Auch die vergängliche Technik tröstet sich mit Heilsversprechen: Nach ihrem Dienst auf Erden dürfen die Fernsehgeräte im Himmel dann die Menschen anschauen. – Thomas Willmann
Ein unerwarteter Onkel, ohne Papiere. Tragikomödie über kulturelle Konflikte und familiäre Verantwortung. Der Film erzählt mit Humor, wie Akams geordnetes Leben in Oslo durch den unangekündigten Besuch seines exzentrischen kurdischen Onkels auf den Kopf gestellt wird, der illegal im Land ist. Dabei beleuchtet er eindrucksvoll die Themen Migration, Identität und den Spagat zwischen Anpassung und Herkunft. My Uncle Jens überzeugt auch durch starke Darsteller und einen sensiblen Blick auf die Schwierigkeiten von Geflüchteten. Ein sehenswerter Film, der Bewusstsein für die oft unsichtbaren persönlichen Schicksale der Menschen schafft, die in Europa Schutz suchen. – Lara Pleyer, LMU München
Kinder haften für ihre Eltern. Nicht »herzergreifend« (Katalog), sondern abgrundtief grausam wie das Märchen von Hänsel und Gretel ist, was in Cole Webleys Roadmovie den Kinderfiguren widerfährt. Da ist die Abgabe des Familienhundes ins Tierheim erst der Auftakt in diesem Kinderseelen-Trauma. Der Soundtrack und die Bilder folgen, fast schon zu aufgesetzt, den gängigen Independent-Standards. Immer wieder wird gegen die Sonne gefilmt, wird das Schmutzige und das Alltägliche überhöht, während die Fahrt nach Nebraska im Gitarren-Sound badet. Die Figuren und die Grundkonstellation werden dabei kaum erzählt, auch gibt es keine Perspektive der Kinder, die die Undurchschaubarkeit der Situation plausibel gemacht hätte. Als American Independent hätte man sich den Film eingehen lassen, weil er sich gut ins Genre fügt. Aber als »Cine-Kindl«? – Dunja Bialas
Sundance-Darling. Indiefilm mit Indie-Musik, mit guten Kinder-Schauspieler*innen, mit (natürlich) einem niedlichen Hund, mit Drachensteigen, Hotel-Pools, Feuerwerk und einem Besuch im Zoo. Mit Männern, die schwarzen Bart tragen, Kapuzenpullover, das Herz zwar am rechten Fleck haben, nicht aber über ihre Gefühle reden können: Daraus entsteht ein klassischer US-Road-Trip mit schön gewählten Locations, der andeutend bleibt, momentweise erzählt. Passend dazu: Der große politische Paukenschlag wird nachgereicht, als Texttafel darf er den Abspann einleiten, konkretisiert die vergangenen 80 Minuten von außerhalb. Man hätte sich diese Information früher gewünscht, einen politischen Bezug, der verhandelt wird, dringlich ist, der sich nicht lediglich ohnmächtig sentimental – wie hier – durch den Film zieht. So aber bleibt Omaha beim souveränen Gefühlskino stehen. – Benedikt Guntentaler, LMU München
Roadmovie im Indie-Gewand. Ein Vater weckt morgens früh seine Kinder und fährt mit ihnen in eine zunächst ungewisse Zukunft. Von nun an sehen wir eine schier endlose Autofahrt, gedankenverlorene Blicke und spielende Kinder, die wie die Zuschauer nicht so recht wissen, was los ist. Cole Webley hat das Indie-Film Handbuch gründlich studiert und kommentiert im Subtext die amerikanische Gesellschaft. Die wirklich interessanten Aspekte seiner Geschichte deckt er jedoch erst im Abspann auf. Der wohl erhoffte Schlag in die Magengrube bleibt aus. Mit seinen 83 Minuten Laufzeit sieht sich der Film zwar recht bequem und kurzweilig, sein Potenzial bleibt jedoch auf der Strecke. Die Einordnung in den Wettbewerb CineKindl kann man obendrein mehr als fragwürdig finden, bedenkt man worauf der Film hinaus will. Damit also angeschnallt für eine Autofahrt »Indie« Bedeutungslosigkeit. – Christian Schmuck, LMU München
Neuanfang geht immer, in den Weiten der westlichen Bundesstaaten: Das ist einer der fundamentalen US-Mythen. Doch der Roadtrip in Omaha ist keiner der Selbst(neuer)findung. Kapitalismus und Kinder machen die Nummer vom einsamen Cowboy schwer: Ein verwitweter, bankrotter Vater packt – aus Gründen, die wie auch die Verortung Ende der »00er erst im Abspann voll klar werden – seine Kinder ins Auto nach Nebraska. Die neunjährige Ella, der langsam dämmert, dass Eltern nicht immer alles im Griff haben. Der sechsjährige Charlie, für den alles ein unhinterfragtes Abenteuer ist. Mitunter sind die halligen Gitarrenflächen im Soundtrack, das Licht etwas zu geschmäcklerisch. Aber im Kern ist Omaha ein stark gespieltes, hartes Stück über unumkehrbare falsche Abbiegungen im Leben. – Thomas Willmann«
Die ukrainische Jeanne DArc: Aus einer jungen konventionellen Ikonenmalerin wird eine mutige Rebellin, eine radikale Künstlerin und Mitgründerin der Femen-Protestbewegung gegen patriarchale Gewalt und für weibliche Selbstbestimmung. Aus Gold und Farbe werden Wut und Blut, aus Heiligkeit Protest. Im Schatten patriarchaler Gewalt wächst eine Idee: Freiheit – mit nackter Haut als Leinwand, mit Parolen als Pinselstrich (»Brüste sind unsere Waffe!«). Anfänglich erscheinen die Reden junger Frauen wie ein Bühnenmonolog, indem sie sich mit großen Sprüchen übertrumpfen. Doch Schicht um Schicht verändert sich der Ton – wird ernster, dunkler, bedrohlicher. Die plakativen Gesten wandeln sich zu einem unnachgiebigen Flüstern in der Sprache der Kunst. Die Kamera bleibt dicht an Oxanas Gesicht, folgt jeder Zuckung, dringt tief in ihr Inneres ein und offenbart die Facetten einer starken, zugleich verletzlichen Frau. Eine Hommage an Mut, Wut und die Kraft weiblicher Selbstbestimmung. – Tanja Moll
Wer gehört werden will, muss laut sein. Wer gesehen werden will, darf nicht brav sein. Unter dieser Prämisse agiert die in der Ukraine ins Leben gerufene feministische Aktivistinnengruppe Femen. Eine ihrer Gründerinnen, Oksana Schatschko, lernt man am Anfang des Films als Kunststudentin in Paris kennen. In Rückblenden erfährt man, wie sie, die ursprünglich Ikonen malte, begann, mit Kunst und Performance für die Gleichberechtigung der Frau zu kämpfen – nicht nur in der Ukraine, sondern auch den benachbarten Autokratien und Diktaturen. Durch die Verwebung der verschiedenen Zeitebenen entsteht die spannende Geschichte einer beeindruckenden Frau. Allerdings mit einem Haken: Ganz zu Beginn wird eingeblendet, dass manche Ereignisse frei dazu erfunden wurden. Und so kommt man doch nicht umhin, sich zu fragen, was stimmt und was nicht, was die Intention des Films wohl unterwandert. – Paula Ruppert, LMU München
Die Vergangenheit kehrt wieder. 1981: Die in Wien lebende Künstlerin Perla (Rebeka Poláková) begibt sich Jahre nach ihrer traumatischen Flucht zurück in die Tschechoslowakei. Gespalten zwischen dem erfüllten Familienleben mit ihrer Tochter und ihrem Mann (Simon Schwarz) und verdrängten Schuldgefühlen, gräbt Perla in ihrer Vergangenheit und muss nun auch in diesen Abgrund blicken. Der Film erzählt von der Wiederkehr des Vergessenen: alte Photographien tauchen wieder auf, die altbekannten Räume füllen sich mit Erinnerungen. Die Soundebene des Films teilt das Innenleben von Perla mit: ein herzschlagartiger Klang oder gefühlsbetonende Kompositionen schaffen emotionale Nähe zu ihr. Alexandra Makarovás Film ist eine tiefgründige Studie der Titelfigur, die zugleich für eine transgenerationale Erfahrung steht. – Amelie Hochhäusler, LMU München
Kunstgalerie. 1980 in Wien: Perla stammt aus der Tschechoslowakei, ist Malerin. Gemeinsam mit Tochter Julia zieht sie zum reichen Geliebten Josef. Alles scheint perfekt, dann klingelt das Telefon: Ex-Mann Andrej hat Krebs, bittet um einen vielleicht letzten Besuch in der Heimat. In wunderbaren Bildkompositionen erzählt Perla vom Mysterium der gescheiterten, nie vergessenen Liebe, verbindet dieses Sehnsuchts-Thema mit einer Emigrationsgeschichte. Das Filmkorn legt sich melancholisch auf die Bilder, jede Szene evoziert einen reichhaltigen Stillstand, man fürchtet sich beinahe vor den Schnitten, möchte im eigenen Tempo verweilen. Leider ist die Dramaturgie nicht konzentriert genug, stellt immer wieder die Story in den Vordergrund, wo doch gerade die verführerische Uneindeutigkeit das Herz dieses Films ist. – Benedikt Guntentaler, LMU München
Stimmungsvolles Versprechen. Der titelgebende Himmel erscheint in der künstlerischen Gestaltung: ein abendlich-atmosphärischer Farbton legt sich über die Bilder. Die Handlung folgt drei nach Tunesien emigrierten ivorischen Frauen, deren Glaube an Gemeinschaft und Zugehörigkeit durch ihre politische Gefährdung immer mehr verloren geht. Die betäubenden Straßengeräusche, aus der Ferne sprechende Stimmen und bis zur Unkenntlichkeit verschwommene Gesichter, vermitteln das Gefühl der inneren Unruhe in den Bewegungen der Straße. Die französisch-tunesische Regisseurin Erige Sehiri folgt mit Feingefühl den Sorgen ihrer Figuren, und schafft durch die Bilder des Films einen stimmungsintensiven Raum, der ein hoffnungsvolles Versprechen an die Protagonistinnen zurückgeben möchte. – Amelie Hochhäusler, LMU München
Bei null anfangen. Genau das tun Raynor (Gillian Anderson) und Moth (Jason Isaacs). Nachdem sie ihr Zuhause verloren haben und Moth an einer fortschreitenden Krankheit leidet, beschließen sie, ihre Wanderung entlang der südwestlichen Küste Englands fortzusetzen. Weite Horizonte, Panoramaaufnahmen des endlosen Meeres – all das spiegelt ihre inneren Höhen und Tiefen wider. Der Pfad ist mal steil, mal steinig, mal gerade, mal salzig – genauso unberechenbar wie das Leben selbst. Nur mit zwei Rucksäcken beginnen sie die Schönheit der Natur und des Lebens wahrzunehmen. »It’s not walking, it’s being free«, bemerkt Moth. Der Salzpfad, der 2024 beim Toronto International Film Festival uraufgeführt wurde, schenkt dem Publikum nicht nur ästhetische Zufriedenheit durch Naturaufnahmen – sondern erinnert daran: Man soll niemals aufgeben. – Alevtina Kler, LMU München
Tour de Force durch die Wüste. Ein Rave in Marokko: Ausgelassenes Tanzen, sphärische, harte Musik, eine Lichtshow, die eine Treppe in die alles umgebenden Felsen zeichnet. Mittendrin: Vater und Sohn, sie suchen die ausgerissene Tochter. Schon der erste Bruch in diesem Film, der erste Störfaktor in der eigens erschaffenen, randständigen Harmonie.
Weitere werden folgen, werden ein abgründiges, pessimistisches Bild unserer Welt zeichnen. Ständig im Hintergrund:
Der Krieg, eine bevorstehende Apokalypse, und die traurige Erkenntnis, dass jener Kampf nie temporär bleiben wird, dass sich die Bomben in die Geschichte einschreiben, in den Boden, in die Landschaften. Eine Aussichtslosigkeit entsteht, der die Freiräume genommen wurden, in der keiner mehr tanzen kann, sich lediglich linear nach vorne bewegen lässt. – Benedikt Guntentaler, LMU München
Das Leben ist ein Minenfeld. Die ersten unerwarteten Abzweigungen in Sirât sind noch fließend: Lautsprechertürme werden errichtet, in der marokkanischen Wüste. Raver füllen die zerklüftete Landschaft. Ein Vater sucht unter den Feiernden seine vermisste Tochter. Doch dann platzt das Militär aufgrund eines nebulösen National-Notstands herein, löst die Party auf. Die Feiernden versprengen sich. Der Vater mitsamt kleinem Sohn und Hund schließt sich einem Camper-Convoy von Ravern an. Danach gerät alles aus der Bahn. Besetzt mit echten, vom Leben gezeichneten Charakterköpfen aus der Szene, ist Sirât eine der konsequentesten filmischen Wüsten-Reisen nicht zur Selbstfindung, sondern zum Nullpunkt des Selbsts und Seins. Mit der Ahnung, dass alles auf immer verloren gehen kann. – Thomas Willmann
Arithmetik des Todes. Ein Film über den Tod und die Trauer, ganz und gar im Alltäglichen verankert, einer kleinen Stadt in NRW. Die Regisseurin folgt ihrer jungen Protagonistin Lore, die mit dem Tod ihrer Mutter sich nicht nur dem Verlust dieser Beziehung stellen, sondern auch die Beziehungen hinterfragen muss, die ihr bislang selbstverständlich schienen und die sich durch den Tod der Mutter schlagartig ändern. Momente der Zärtlichkeit finden genauso Raum wie Momente beißender Banalität. Und die Formen der Trauer und die Fragilität der Beziehungen sind in Jansens Bildern genau so komplex präsentiert wie in dem kürzlich erschienen isländischen Trauerdrama Wenn das Licht zerbricht. – Axel Timo Purr
Im Pandemiefrühling 2020 stirbt Lores Mutter mit Mitte fünfzig an Krebs. Die Tochter ist nun auf sich allein gestellt, trotz wohlmeinender Menschen, die in charmantem rheinischem Platt auf sie einreden und auf dem katholischen »Sechswochenamt« bestehen. Lore will jedoch den Wunsch der Verstorbenen nach einer Seebestattung erfüllen. In langen Kameraeinstellungen zeigt Jacqueline Jansen in ihrem autobiografisch motivierten Film die Stadien des Verlusts, den die Einzelkämpferin Lore durchlebt. Neben der Titelrolle in Die Nichte des Polizisten brilliert Hauptdarstellerin Magdalena Laubisch auch in dieser rheinischen Elegie mit komischen Elementen. Allen Widerständen zum Trotz finanzierte die Regisseurin ihr Vorhaben mit Hilfe von 25 Unternehmen ihrer Heimatregion. Diesem berührenden Film über den Umgang mit dem Tod sind dringend ein Verleih und viele Zuschauer zu wünschen. – Katrin Hillgruber
Für die Schule. Stefan Haupt lässt den Romanklassiker von Max Frisch so wie er ist, nimmt dem Ende allerdings etwas von der Tragik. Mit klassischen schwarzweißen Rückblenden wird schulbuchhaft die farbige Gegenwart erklärt. Das große Ensemble – allen voran Albrecht Schuch und Paula Beer in liebevoll inszeniertem Zeitkolorit – tun ihr Bestes, diesen Meilenstein deutscher Literatur zum Leben zu erwecken. Das gelingt jedoch nur partiell, ist zu vieles zu statisch und gelingt es Haupt vor allem nicht, das brennend aktuelle Thema von Frischs Roman deutlich und spürbar zu machen. Dafür hätte der Film mutiger sein müssen, hätte Haupt den Roman in die Gegenwart hieven und von seinem historischen Korsett befreien müssen, denn schließlich ist es ja unsere ganze Gegenwart, die an einer Identitätskrise genauso leidet wie Frischs Romanheld Anatol Stiller. Eine solide Verfilmung aber immerhin für jene, die nicht mehr lesen wollen und für den Schulunterricht sowieso. – Axel Timo Purr
Romanadaption mit Starbesetzung. Albrecht Schuch und Paula Beer harmonieren fantastisch miteinander. Als Film für sich genommen funktioniert die Geschichte um James Larkin White, der für den verschollenen Anatol Stiller gehalten wird, ganz gut. Es fehlt ein wenig an ästhetischen Einfällen und Ausschöpfung der psychologischen Facetten der Geschichte. Die Frage, ob der Film seiner Romanvorlage von Max Frisch gerecht wird, lässt sich wohl exakt so beantworten wie sie bei jeder Verfilmung eines Literaturklassikers zu beantworten ist: Wie könnte er es jemals für Fans des Buches? – Chris Schmuck, LMU München
Der Staub der Zeit. Nach dem Tod seiner Frau verliert Gian nicht nur den Boden unter den Füßen – seine immense Trauer löst eine Amnesie aus. Mithilfe der Tagebücher aus seiner Jugend versucht er, die Erinnerung an die große Liebe seines Lebens heraufzukitzeln – und damit auch sich selbst wiederzufinden. Rückblenden verschmelzen mit der Gegenwart; Fetzen aus historischen Aufnahmen huschen wie Gians bildgewordenes Seelenleben über die Leinwand. Die »leichte Erde« aus dem Titel hat jedoch nichts Schwereloses an sich: Vielleicht aus Sorge, dem Thema der Trauer nicht gerecht zu werden, überlädt der Film jedes Blümchen, jede Geste, jedes Wort, ja, selbst jede Katze, mit einer unbeweglichen, erdrückenden Gewichtigkeit – und wirkt dabei antiquiert wie der Staub auf alten Tagebüchern. – Anna Edelmann
Eine zufällige Begegnung bringt Anna (Rosa Palasciano) und Nadiya (Yeva Sai) nachts an einer Bushaltestelle zusammen: der Bus will einfach nicht kommen. Sie teilen sich also ein Taxi nach Hause, und von nun an verbringen sie Tag für Tag mehr Zeit miteinander. Der Film deutet die gesundheitlichen Probleme der Italienerin Anna und die Erschöpfung der aus der Ukraine geflüchteten Nadiya an, befreit diese Themen jedoch von jeglicher Schwere, sodass die Verbindung der beiden Frauen ganz im Fokus steht. Der italienische Regisseur Ciro De Caro hat einen sanften Blick auf seine Figuren, will deren Beziehung nicht ausbuchstabieren, er interessiert sich vielmehr für ein bestimmtes Gefühl beim Sehen des Films. Die Kameraführung ist wie ein Tanz, sie bewegt sich immer mit oder zwischen den Figuren und wird damit zum verbindenden Glied. – Amelie Hochhäusler, LMU München
»Die Distanzierte und die Distanzlose« – die Charakterisierung beschreibt die sich entwickelnde Beziehung zwischen der Italienerin Anna und der kürzlich geflüchteten Ukrainerin Nadiya wohl am besten. Sie teilen die Einsamkeit und den Weg nach Hause, wobei Anna sich als Mitfahrgelegenheit in Nadiyas Leben drängt, als ihr Bus immer wieder ausfällt. Aus anfänglicher Fremdheit wächst eine Verbindung, die sich am Ende zu einer vagen Freundschaft entwickelt – vielleicht sogar mehr. Der Film setzt auf sehr lange Szenen und einen unverfälschten Ton und erzeugt dadurch ein sehr intensives Gefühl von Fremdscham, welches manchmal durch unterhaltsame Familiendialoge aufgelockert wird. – Mona Mezhoud
91 Minuten Verfolgungsjagd. Es ist 1790 und die junge Samurai »Tornado« wird durch die schottischen Highlands von Banditen gejagt. Inhaltlich lässt sich nicht viel mehr sagen, die Verfolgungsjagd steht im Zentrum. Dieses High-Concept funktioniert zwar größtenteils, leidet aber unter zwei Aspekten:
Zum einen entsteht eine dramaturgische Zuspitzung nur unnatürlich durch Zufälle und nicht nachvollziehbare Entscheidungen. Dadurch fällt es schwer, mit den Figuren
mitzufühlen und sie bleiben ziemlich flach, trotz toller Schauspieler. Zum anderen versteht man oft nicht, wo sich die Figuren eigentlich befinden, statt Spannung wird Verwirrung erzeugt. Die visuelle Geografie ist bei Verfolgungsszenen leider besonders wichtig und sticht in der sonst sehr guten Inszenierung stark raus.
Trotzdem verlässt man als Genre-Fan das Kino nicht enttäuscht – dafür funktionieren Anfang und Ende zu gut. – Nicolai Meußling, LMU
München
Wenn das Schlimmste passiert ist, ist man wenigstens die Angst los. Nach dem Tod ihres Hundes flüchtet eine junge Frau zu einer Freundin aufs Land. Wo unerwartet auch ein seltsames, schwules Makler-Pärchen untergekommen ist. Und ein Zeckenbiss sie zu Extremzustände verdammt – oder befreit. Pete Ohs (Co-Autor von Obex) hat kein Problem damit, wenn sich das alles nur halb fügt zu einem Puzzle aus dem höllisch unbequemen Gefühl, seine Freunde nicht mehr wiederzuerkennen, dem Horror vor Elternschaft, und einer surrealen Fantasie über den Vermehrungszyklus von Zecken. Der Film entstand in zwei Wochen mit Spezln, frei enwickelt aus einer Grundidee. Furchtlos reinem Gespür folgend. Schlimmstenfalls, meint er, mag man’s nicht – nimmt aber die Regeln für ein amüsantes Gesellschaftsspiel mit. – Thomas Willmann
Post-, Neo- oder einfach nur Glamour-Feminismus: Jovana Reisingers Sissi-Fantasie ist eine pointierte Persiflage auf den Jugend- und Schönheitswahn, der nicht erst seit »Longevity« trendet. Das nahm schon in den Jahren der jungen Kaiserin ihren Anfang. Reisinger schickt Romy (Julia Windischbauer), Karlheinz (Thomas Hauser) und Magda Gustav (Benjamin Radjaipour) als Fin-de-siècle-Trio auf eine stylische Pilgerschaft, auf der sie die Reinkarnation von Kaiserin Sissi in einem ihrer Luxuskörper erwarten. Als Willkommenskultur eignen sie sich den Habitus der ersten Schönheitskönigin an: Beauty-Treatments, Jungsuppe und üppige Püree- und Nachspeisebomben gehören ebenso dazu wie zarte Schleifenohrringe, Abendroben und eine fein ziselierte Sprache aus der Feder der begnadeten Schreiberin Jovana Reisinger. Ihr Sissy-Universum ist raumgreifend, Ganzkörperkult, Installation und Performance – und ein wunderbarer Spaß. – Dunja Bialas
Alles so Sinn entleert, sagt beim finalen Dinner eine:r der Protagonist:innen und beschreibt damit natürlich auch Jovana Reisingers Film selbst, der am besten mit einer queeren Phrasendreschmaschine zu vergleichen ist, der der völlig hohle Jungbrunnen- und Sissi-Inkarnationsplot eigentlich völlig egal ist. Vignettenartig werden hier ein Meta-Gedankenspiel an das andere gedrechselt, in einer Redundanz, die einem das Lachen gefrieren lässt und Fremdschämen hervorruft. Wer eine wirklich kluge, witzige und dann doch auch spannende Auseinandersetzung mit dem Sissi-Komplex und allem, was dazu gehört, sehen möchte, dem sei Frauke Finsterwalders 2023 erschienene, wundervolle Screwball-Comedy Sisi & ich empfohlen. – Axel Timo Purr
Technologie ist vergänglich. Aber somit zu Lebzeiten ein Marker und Spiegel ihrer Ära. Alex Ross Perry schreibt hier eine fast dreistündige Kulturgeschichte der Videotheken. Erzählt ausschließlich entlang derer fiktionalisierter Abbildung in Spielfilmen und Serien. Eine Quadratur der Mediengeschichte. Der Deep Dive lohnt allein schon wegen der Fülle an obskuren Ausschnitten. Dem essayistischen Voice over merkt man zwar an, dass er auf einer akademischen Arbeit basiert. Maya Hawkes Stimme macht ihn aber zum Glück weniger papieren. Sie selbst tritt freilich auf als Videothekarin in STRANGER THINGS. Ihr Papa Ethan als Almereydas HAMLET beim »To be or not to be« zwischen den Cassetten-Gängen. Fraglich, ob dereinst dem Streaming ein solch schönes Epitaph gewidmet werden kann. – Thomas Willmann
Video Ga Ga. Es ist schwer zu überschätzen, welche Bedeutung für die Filmbildung einer Generation an Filmemachern und Cineasten die Stammvideothek hatte. Weit mehr als nur ein Filmverleih, diente sie für eine gar nicht so lange Zeit als Ort der Entdeckung, wurde zum sozialen Mittelpunkt cinephilen Austauschs. Videoheaven versucht als dreistündiges Filmessay anhand von Szenen aus einer erstaunlich eklektischen Filmauswahl, verbunden mit Textfragmenten aus Daniel Herberts Buch Videoland: Movie Culture at the American Video Store, ein präzises Zeitportrait festzuhalten, ohne dabei komplett in jene nostalgische Wehmut zu verfallen, der sich aktuelle Serien und Filme bei dem Thema so gern hingeben. Dabei wird er manchmal etwas verkopft, aber egal: Video, someone still loves you. – Anna Edelmann
Nicht ohne meine Tochter. Das auf einer realen Geschichte basierende Drama über die 40-jährige Besitzerin eines Friseurladens, die trotz dreier Söhne sich sehnlichst auch noch eine Tochter wünscht und schließlich auf die ernüchternde Adoptionswirtschaft angewiesen ist, besticht durch ethnografisch flirrende Blicke in das Neapel der Gegenwart und eine fast schon dokumentarisch erzählte Alltagsgeschichte, die so hyperreal daherkommt, das sich der Betrachter tatsächlich in das dargestellte Familienleben mühelos integrieren kann und mehr als er vielleicht will vom Italien und Europa unserer Gegenwart verstehen lernt. – Axel Timo Purr
Die Siegreiche. »Im Traum sehe ich meinen Vater mit einem Mädchen an der Hand. Er sagte mir vor seinem Tod: 'Du solltest eine Tochter haben'«. Das lässt sie nicht los, Jasmine, Friseurin aus Neapel, verheiratet, drei Söhne. Und mit dem unbändigen Wunsch nach einer Tochter, für die sie alles in Bewegung setzt. Sie sagt: »Ich bin glücklich, wenn ich an sie denke.« Ungeduldig und entgegen aller Widerstände verfolgt sie den langwierigen Adoptionsprozess. Sie steht nicht still – und die Kamera auch nicht. Es ist unglaublich kunstvoll, wie Casey Kauffman und Alessandro Cassiglio dieses Reenactment der wahren Geschichte von Marilena »Jasmine« Amato (sie spielt sich selbst) filmisch gestalten. Die Grenzen von Traum und Realität, von Fiktionalem und Dokumentarischem verschwimmen. Und so erscheint das Ende ihrer Reise fast zu schön, um wahr zu sein. Ein buchstäblicher »Full-Circle-Moment«. – Amelie Fenske, LMU München
Filmische Trauerarbeit ist das, was Stefan Djordjević leistet. Er hatte begonnen, seine Mutter zu filmen, als diese unerwartet starb. Mit dem Material, was er von ihr hatte, und der Hilfe seiner näheren Familie entstand dann der Film – eine Mischung aus Dokumentarfilm und Fiktion, mit teils geplanten, teils improvisierten Dialogen in nur einem Take. Dabei ist der Film nie übermäßig kitschig oder drückt auf die Tränendrüse. Er setzt auch lustige Szenen ein, die die Handlung etwas auflockern; diese wirken jedoch nie übermäßig gestellt, sondern fügen sich nahtlos in die Familienstruktur ein, in der jede und jeder auf ihre und seine Art mit der Trauer umgeht. Und während der Regisseur und seine Familie mal sich selbst spielen und einen Film im Film filmen, mal dokumentarisch gearbeitet wird, wird deutlich, wie wichtig Stefan Djordjević – als Regisseur oder Filmfigur – dieser Film ist und wie tatsächlich die ganze Familie zusammenkommt, um diese schöne, liebevolle und persönliche Hommage an die Mutter zu realisieren. – Paula Ruppert, LMU München
Die Schönheit der realen Dinge. Soo-Ha arbeitet in einem Gasthaus, in welches eines Tages der französische Künstler Yan Kerrand auf unbestimmte Zeit einzieht. Nach anfänglicher Abneigung zeigt sie ihm ihr Heimatdorf Sokcho, während sie ihn immer mehr als Instrumentalisierung ihres leiblichen, französischen Vaters sieht, der ihre Mutter vor ihrer Geburt verlassen hat. Visionär ist die Synopsis dieser Romanverfilmung nicht gerade, doch den eher durchschnittlichen Korpus befüllt Koya Kamura mit Culture-Clash, Gesellschaftskritik und Liebe zu echten Emotionen. Ob es um Schönheitsideale in Südkorea oder das Vermitteln des Kulturgedächtnisses des Landes geht, Kamura findet einen Weg, seinen Themenpool in leise Poesie zu verwandeln. Die selbst gestellten Klischee-Fallen des Plots werden in angenehmer Weise umgangen. Durch die hervorragenden Leistungen der Hauptdarsteller Bella Kim und Roschdy Zem trägt der Film auch bis zum Schluss. Ein stiller Film, in dem man sich gut verlieren kann. – Christian Schmuck, LMU München
Ein filmisches Gemälde: Kichitaro Negishis Film ist ein elegisches, leises Liebesdrama, das auf der realen Dreiecksbeziehung zwischen der jungen Schauspielerin Yasuko Hasegawa, dem Dichter Nakahara Chūya und dem Literaturkritiker Hideo Kobayashi im Japan der 1920er-Jahre basiert. Mit 17 lernt Nakahara die angehende Schauspielerin Yasuko kennen, die zu seiner Muse wird. Doch während Yasuko sich nach bedingungsloser Liebe sehnt, verschreiben sich beide Männer mehr der Kunst als der Liebe: »Der japanische Rimbaud« – der Poesie, Kobayashi – der Sprache. Für sie bleibt die wunderschöne Yasuko Projektionsfläche. Doch statt daran zu zerbrechen, reift sie: vom abhängigen Mädchen zur selbstbestimmten Frau. Der Regisseur reflektiert hier das Spannungsfeld zwischen Liebe, Kunst und Selbstfindung – und erschafft dabei ein visuell überragendes, von zarter Poesie durchdrungenes filmisches Gemälde. – Tanja Moll
Zwei Partyclowns: Y und seine Freundin Jasmine durchstreifen das wilde Nachtleben Israels, entertainen sich und die Bourgeoisie mit sexuellen Gefälligkeiten, Drogen, dem nächsten Exzess. The Good Life eben. Dann die Chance: Y soll eine neue, polemische, aggressive Nationalhymne komponieren, zum Preis der Moral auf die Seite der Elite wechseln. Wie eine Grundsatzdiskussion klingt diese Prämisse, Yes aber ist an solch ausgesonderten Fragen nicht interessiert, stellt ein Bombardement auf allen Ebenen dar. Satirisch überhöht bis in die Absurdität hinein inszeniert Lapid ein cineastisches Fest: Wilde Schnitte und Zooms, Köpfe, die zu Bildschirmen werden, Liebe, Familie, Identität, Heimat, alles wird in ohrenbetäubender Lautstärke auf der Leinwand vermengt. Eine wundervoll politische, intelligente Desorientierung, der schönste aller Zustände. – Benedikt Guntentaler, LMU München
Ein anderes Leben. Nachdem die Entwicklung des Stoffes 2021 von der Initiative Der Besondere Kinderfilm gefördert wurde, ging es für diesen besonderen dokumentarischen Kinderfilm über eine kleinen Zirkus und die letzten Nomaden und den wohl ältesten Zirkusdirektor in Deutschland tatsächlich nur noch bergauf. Und was für ein Ergebnis! Über die Erinnerungen des alten Mannes, die liebevoll animiert dargestellt werden und den Alltag seines Urenkels Santino wird eine Gegenwelt zum Alltag »normaler« deutscher Familien dargestellt, der verblüffender nicht sein könnte. Julia Lemke und Anna Koch vermeiden dabei aber jeglichen Exotismus, sondern zeigen einfach ein anderes Leben, das dennoch Teil des deutschen Alltags ist. Was früher ganz und gar nicht selbstverständlich war, was der kluge Exkurs in die NS-Erinnerungen des Großvaters eindrucksvoll illuminieren. – Axel Timo Purr
Sterben als Therapie. Das Kontrastprogramm zu Jacqueline Jansens Sechswochenamt (s.o.). Ist es bei Jansen jedoch autofiktionale Intensität, die sich an bürokratisierten Strukturen persönlicher und behördlicher Art reibt, steht in Julius Grimms Groteske ein Gedankenspiel im Zentrum der Erzählung, das sich nicht um die Verbliebenen, sondern um die Toten und ihr Leben im Himmelreich kümmert. Das ist meist banaler, bayerisch gefärbter Klamauk und an kleinkindliche Fantasien über das Leben »im Jenseits« angelehnt wie etwa der Notausgang in den Himmel und auch hier spielt die Bürokratie wie bei Jansen eine wichtige, dann aber rein komödiantische Rolle. Doch dann und wann gelingen Grimm mit seinem starken, jedoch allzu oft um Overacting bemühten Ensemble auch schön Tiefen. Nicht nur im Müllerschen Volksbad und angesichts des Nichts, das immer schon so war, sondern auch beim Abgleich der Karmaqualitäten des Verstorbenen. Tod, wo ist dein Stachel? – Axel Timo Purr
Feuernacht im Juni 1961. In Südtirol werden reihenweise Strommasten in die Luft gesprengt. Das Ziel: Autonomie von Italien, zu dem die Region nach dem ersten Weltkrieg, vom Norden in Österreich getrennt, zugeteilt wurde. Zweitland behandelt diese turbulente Zeit als Spielfilm aus Sicht einer Familie, deren Oberhaupt sich aktiv im gewaltsamen Widerstand beteiligt. Während er nur noch die gewaltsame Revolte als Weg zu Autonomie und Gleichberechtigung sieht, spricht seine Frau fließend Italienisch und bemüht sich um Dialog mit der italienischen Bevölkerung – die, was der Film leider verschweigt, unter Mussolini teils zwangsweise nach Südtirol umgesiedelt wurde. Die Zerreißprobe der Familie wird mit der Gewalt und Verunsicherung auf beiden Seiten verwoben, wobei sich der Film dabei zwischenzeitlich leider etwas verliert. Es ist jedoch sehr schön, diese Epoche auf der großen Leinwand zu sehen – es gäbe noch viele weitere Aspekte zu erzählen. – Paula Ruppert, LMU München