Einfach mal bei Godard in der Wüste klingeln |
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Weiß blitzt der Kragen aus der Schuluniform: Sohrab Shahid Saless' A Simple Event | ||
(Foto: Filmmuseum München | Sohrab Shahid Saless) |
Von Dunja Bialas
Ein zehnjähriger Junge rennt von der Schule zum Kaspischen Meer, fängt das Seil auf, mit dem sein Vater mit seinem Boot landen will. Der war gerade beim Fischen, wirft dem Seil seinen kläglichen Fang hinterher, niemals sind es mehr als vier, fünf Exemplare, die der Junge aufklaubt, in einen Sack packt und rennend zum Lebensmittelhändler im Ort trägt. Dort kassiert er einige Münzen, überbringt sie, rennend, seinem Vater, der in einer verrauchten Bar am Tresen einen Hochprozentigen trinkt. Rennend kehrt der Junge heim, packt seine Schulsachen aus, will seine Hausaufgaben machen, doch seine bettlägerige Mutter verlangt, dass er zuerst das klägliche Essen, das auf ihn wartet, aus dem Blechtopf kratzt.
Sohrab Shahid Saless setzt 1973 mit Ein einfaches Ereignis einen Meilenstein des iranischen Kinos, der u.a. die Filme von Abbas Kiarostami vorbereitete. Zum ersten Mal führt er in die Geschichte des iranischen Kinos ein Kind als Handlungsträger ein, um sozialkritisch von der Misere der Landbevölkerung zu erzählen. Es ist die sogenannte »vorrevolutionäre Zeit« unter dem Schah, der das Land auf die westliche Welt geöffnet hat, es ist die weltliche Zeit vor der Islamischen Revolution. Sehr real zeigt Saless den verarmten ländlichen Raum: die unbefestigten Wege, das Haus der Familie des Jungen, das nur aus einem großen Raum ohne Möbel besteht, das dichtgedrängte Klassenzimmer, in dem die Jungs zu dritt auf einer Bank sitzen, den sozialen Unterschied, der sich auch in dem Bildungs-Gap manifestiert zwischen dem Jungen, der sein Leben im Rennen bestreitet, und den Kindern, die zu Hause offensichtlich ihre Hausaufgaben machen können. Als alles vorbei ist, auch das »einfache Ereignis«, das in Wirklichkeit ein existentielles ist, macht sich der Junge eine Pepsi-Cola auf. So viel Westen, deutlich affichiert als Logo, darf in das Dorf hinein. Saless’ Erzählweise kann man indes nicht anders als poetisch bezeichnen. Sie ist radikal minimiert auf das Leben in der Wiederholschleife, ein iteratives Erzählen à la Proust, in dem man bald den Alltag kennt, und die zugleich das schulterhohe Seegras hellgrün leuchten lässt, wie überhaupt die Farben im ganzen Film Lichtpunkte setzen: rot, grün, blau, weiß, und der Film fast gänzlich ohne Dialoge auskommt. Nur in der Schule werden Sätze deklamiert.
Ein einfaches Ereignis ist nur einer von zwölf iranischen Klassikern, die in der insgesamt als spektakulär zu bezeichnenden Retrospektive im Filmmuseum München noch bis zum 22. Juni 2025 gezeigt werden. Alle Filme sind nur einmal zu sehen, was den Besuch der Reihe zu einer Herausforderung werden lässt. Zudem kündigt sich eine Fortsetzung an, mit restaurierten Klassikern, die demnächst beim Festival »Cinema Ritrovato« in Bologna uraufgeführt werden. Die »iranischen Klassiker«, das sind die vom derzeitigen Regime geschmähten und als nicht existent diffamierten Filme, die vor der Islamischen Revolution gedreht wurden. Als Filme der iranischen »Nouvelle Vague« haben sie jedoch dem heute international gefeierten, von der iranischen Zensur nicht gewollten Kino den Weg bereitet. Gerade erst hat in Cannes Jafar Panahi mit It Was Just an Accident die Goldene Palme gewonnen. Der Film ist eine hochphilosophische, dabei denkbar einfach angelegte Rachegeschichte, die im Titel Saless’ frühes Werk evoziert.
Wie ein Füllhorn öffnet sich die Reihe der iranischen Klassiker auf zwölf sehr unterschiedliche Stimmen dieser umwälzenden Zeit, in der sich das persische Kino zum Autorenkino wandelte. Jeder Film bringt so, anders als bisweilen die sehr homogenen monographischen Retrospektiven, eine neue Tonlage, eine neue Handschrift mit sich. Jeder Film kann so zu einer Entdeckung von etwas völlig Unbekanntem werden, und jeder Kinobesuch zum cineastischen Ereignis.
Die Filme zeigt die Retrospektive in der jeweils bestmöglichen auffindbaren Qualität. Das heißt bei Sohrab Shahid Saless eine von der Cineteca di Bologna restaurierten Fassung, in der die Farben zum Leuchten kommen. Oder aber, wie im Fall von Masud Kimiais Die Hirsche (1974), eine aus vielen – schlechten – Ausgangsmaterialien zusammengestückelte Version eines Films, der zu seiner Entstehungszeit große Eingriffe durch die Zensur erlitten hat. Zu nihilistisch war den Zensoren das Ende der zwei Freunde, die unter dem Kugelhagel der Polizei sterben, moralisch musste das Ende sein, mit einer Läuterung des Gangsters, der als Bankräuber auch als politischer Aktivist oder »Hirsch« der 70er-Jahre dechiffrierbar wird. Aber auch in der unzensierten Originalfassung bringt der Polit-Gangster seinen heroinabhängigen Freund auf den richtigen Weg, und damit außerhalb der Sphäre der Teheraner Misere, in der ein ganzes System in Armut und Abhängigkeit führt und die bildungsfernen Schichten als Illiteraten abhängt. Der Film kann auch als Kritik an der kapitalistischen Skrupellosigkeit unter dem westlich orientierten Schah gelesen werden: Als sarkastischer Höhepunkt treibt der besitzende Hausherr eine Herde von Schafen durch das Wohnhaus der Verarmten, eine »Entmietung auf Persisch«. Während der Bankräuber noch überlegt, in Robin-Hood-Manier mit seiner Beute das Wohnhaus zu kaufen und es den mittellosen Armen zu überlassen, wird sein Unterschlupf – wie es das Genre verlangt – verraten.
Der heute 83-jährige Masud Kimiai war ein Shooting-Star des iranischen Kinos, sein sozialkritischer Film noir gehorchte dem Markt. Die unzensierte Version weist ihn als Autorenfilmer aus, zensiert ist er der kommerzielle Regisseur mit den Mega-Erfolgen im Iran. Anders als etwa der 1998 verstorbene Saless, der in Wien Film studiert hat und vor seiner Rückkehr in den Iran noch nach Paris ging, kommt Kimiai direkt aus dem Kino von Teheran.
Unter den vielen Stimmen der bahnbrechenden Klassiker (darunter Ebrahim Golestans Lehmziegel und Spiegel von 1964) ist auch Dariush Mehrjuis Die Kuh zu erwähnen. 1969 erschienen, markiert der Film den Beginn des cinema motafavet, des »anderen Kinos«, das mit einem realistischen und nachdenklichen, wenig auf Unterhaltung getrimmten Stil dem vorherrschenden iranischen Mainstreamkino die Stirn bot – und in der Folge die neue Welle lostrat. Noch 1970 entstanden nur etwa zehn Filme des »anderen Kinos«, ein Jahr später waren es bereits 83. Die Zahlen sind der »Histoire du cinéma iranien« entnommen, 1999 vom Pariser Cinéma du Réel herausgegeben. Der Autor Mamad Haghighat schreibt zur neuen iranischen Welle: »Die Vorstellungskraft der Filmemacher scheint sich endlich von den vorherrschenden narrativen und ästhetischen Kadavern zu befreien. Alles wird angefasst, alle Genres werden ausprobiert.«
Unter den auch deshalb sehr vielfältigen Stimmen der iranischen Nouvelle Vague sticht noch einmal Parviz Kimiavi heraus, der ebenfalls in Paris Film studierte und heute, 86-jährig, im Exil in Hamburg lebt – wie Mohammad Rasoulof. Seinem 1973 erschienenen Debüt Die Mongolen attestiert Haghighat zu Recht einen »onirischen Stil«, eine Traumhaftigkeit, die seine Geschichte in die Nähe des experimentellen Surrealismus rückt. Der kommt einem aus den 70er Jahren durchaus vertraut vor – man denke nur an Philippe Garrels Wüstenfilm La cicatrice intérieure (Die innere Narbe) von 1972. Es ist kaum möglich, den absurden und sich jeglicher Logik verweigernden Plot, in dem als Mongolen gecastete Turkmenen die titelgebenden Figuren sind, wiederzugeben. Daher bleibt vor allem in Erinnerung die bildgewordene Medienkritik: der Sturm auf den Fernsehapparat und die trotz aller Belustigung durchschimmernde Verteidigung der traditionellen Dorf-Schamanen, die vor bunten Wandteppichen Geschichten darbieten. Ganz genau weiß man bei Kimiavi nie, woran man ist. Fernsehantennen werden wie Kreuze ins Wüstendorf getragen und auf den Lehmhäusern installiert. Diese Bilder bleiben, wie auch die Guillotine, die sich im Sand aufbaut, mit einem – sehr modern anmutenden – TV-Flachbildschirm, der als Fallbeil heruntersaust. Statt Köpfen rollen dann Filmdosen in die Grube. Noch ein Bild: sich wie eine gigantische Klimaanlage über einem Wüstenort drehende Mega-Turbinen aus Bambus. Oder auch: ein freistehendes Tor im ewigen Sand. Die Mongolen wollen da hindurch, nähern sich, wie es die Traumlogik will, dem verschlossenen Gitter, anstatt außen herum zu gehen. Die Kamera fährt im Zoom an den Gitterpfosten heran. Darauf: ein Klingelschild. Darauf zu lesen: Jean-Luc Godard.
Einfach mal bei Godard in der Wüste klingeln. Ein vielfältig symbolisches Bild. Und natürlich klingeln die Mongolen bei Godard.
Immer Freitags und Samstags 18 Uhr
Eintritt: 5 Euro
Alle Filme werden nur einmal gezeigt!
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Es folgen im Programm Filme von Mohammad Reza Aslani (Schachspiel des Windes)(13.6.), Forough Farrokhzad (Das Haus ist schwarz), Marva Nabli (Die versiegelte Erde)(14.6.), Nasser Taghavai (Käptn Khorshid), Abbas Kiarostiami (Close-up) (20.6.), Bahram Beyzaie (Die Reisenden) (21.6.), Rakshan Banietemad (Das blaue Kopftuch) (22.6.)