12.06.2025

Einfach mal bei Godard in der Wüste klingeln

Ein einfaches Ereignis
Weiß blitzt der Kragen aus der Schuluniform: Sohrab Shahid Saless' A Simple Event
(Foto: Filmmuseum München | Sohrab Shahid Saless)

Das Filmmuseum München zeigt Klassiker der iranischen Nouvelle Vague. Jeder Film ist ein Unikat, jeder Film ein Ereignis in diesem cineastischen Füllhorn

Von Dunja Bialas

Ein zehn­jäh­riger Junge rennt von der Schule zum Kaspi­schen Meer, fängt das Seil auf, mit dem sein Vater mit seinem Boot landen will. Der war gerade beim Fischen, wirft dem Seil seinen kläg­li­chen Fang hinterher, niemals sind es mehr als vier, fünf Exemplare, die der Junge aufklaubt, in einen Sack packt und rennend zum Lebens­mit­tel­händler im Ort trägt. Dort kassiert er einige Münzen, über­bringt sie, rennend, seinem Vater, der in einer verrauchten Bar am Tresen einen Hoch­pro­zen­tigen trinkt. Rennend kehrt der Junge heim, packt seine Schul­sa­chen aus, will seine Haus­auf­gaben machen, doch seine bett­lä­ge­rige Mutter verlangt, dass er zuerst das klägliche Essen, das auf ihn wartet, aus dem Blechtopf kratzt.

Sohrab Shahid Saless setzt 1973 mit Ein einfaches Ereignis einen Meilen­stein des irani­schen Kinos, der u.a. die Filme von Abbas Kiaros­tami vorbe­rei­tete. Zum ersten Mal führt er in die Geschichte des irani­schen Kinos ein Kind als Hand­lungs­träger ein, um sozi­al­kri­tisch von der Misere der Land­be­völ­ke­rung zu erzählen. Es ist die soge­nannte »vorre­vo­lu­ti­onäre Zeit« unter dem Schah, der das Land auf die westliche Welt geöffnet hat, es ist die weltliche Zeit vor der Isla­mi­schen Revo­lu­tion. Sehr real zeigt Saless den verarmten länd­li­chen Raum: die unbe­fes­tigten Wege, das Haus der Familie des Jungen, das nur aus einem großen Raum ohne Möbel besteht, das dicht­ge­drängte Klas­sen­zimmer, in dem die Jungs zu dritt auf einer Bank sitzen, den sozialen Unter­schied, der sich auch in dem Bildungs-Gap mani­fes­tiert zwischen dem Jungen, der sein Leben im Rennen bestreitet, und den Kindern, die zu Hause offen­sicht­lich ihre Haus­auf­gaben machen können. Als alles vorbei ist, auch das »einfache Ereignis«, das in Wirk­lich­keit ein exis­ten­ti­elles ist, macht sich der Junge eine Pepsi-Cola auf. So viel Westen, deutlich affi­chiert als Logo, darf in das Dorf hinein. Saless’ Erzähl­weise kann man indes nicht anders als poetisch bezeichnen. Sie ist radikal minimiert auf das Leben in der Wieder­hol­schleife, ein itera­tives Erzählen à la Proust, in dem man bald den Alltag kennt, und die zugleich das schul­ter­hohe Seegras hellgrün leuchten lässt, wie überhaupt die Farben im ganzen Film Licht­punkte setzen: rot, grün, blau, weiß, und der Film fast gänzlich ohne Dialoge auskommt. Nur in der Schule werden Sätze dekla­miert.

Ein einfaches Ereignis ist nur einer von zwölf irani­schen Klas­si­kern, die in der insgesamt als spek­ta­kulär zu bezeich­nenden Retro­spek­tive im Film­mu­seum München noch bis zum 22. Juni 2025 gezeigt werden. Alle Filme sind nur einmal zu sehen, was den Besuch der Reihe zu einer Heraus­for­de­rung werden lässt. Zudem kündigt sich eine Fort­set­zung an, mit restau­rierten Klas­si­kern, die demnächst beim Festival »Cinema Ritrovato« in Bologna urauf­ge­führt werden. Die »irani­schen Klassiker«, das sind die vom derzei­tigen Regime geschmähten und als nicht existent diffa­mierten Filme, die vor der Isla­mi­schen Revo­lu­tion gedreht wurden. Als Filme der irani­schen »Nouvelle Vague« haben sie jedoch dem heute inter­na­tional gefei­erten, von der irani­schen Zensur nicht gewollten Kino den Weg bereitet. Gerade erst hat in Cannes Jafar Panahi mit It Was Just an Accident die Goldene Palme gewonnen. Der Film ist eine hoch­phi­lo­so­phi­sche, dabei denkbar einfach angelegte Rache­ge­schichte, die im Titel Saless’ frühes Werk evoziert.

Wie ein Füllhorn öffnet sich die Reihe der irani­schen Klassiker auf zwölf sehr unter­schied­liche Stimmen dieser umwäl­zenden Zeit, in der sich das persische Kino zum Autoren­kino wandelte. Jeder Film bringt so, anders als bisweilen die sehr homogenen mono­gra­phi­schen Retro­spek­tiven, eine neue Tonlage, eine neue Hand­schrift mit sich. Jeder Film kann so zu einer Entde­ckung von etwas völlig Unbe­kanntem werden, und jeder Kino­be­such zum cine­as­ti­schen Ereignis.

Die Filme zeigt die Retro­spek­tive in der jeweils best­mög­li­chen auffind­baren Qualität. Das heißt bei Sohrab Shahid Saless eine von der Cineteca di Bologna restau­rierten Fassung, in der die Farben zum Leuchten kommen. Oder aber, wie im Fall von Masud Kimiais Die Hirsche (1974), eine aus vielen – schlechten – Ausgangs­ma­te­ria­lien zusam­men­ge­stü­ckelte Version eines Films, der zu seiner Entste­hungs­zeit große Eingriffe durch die Zensur erlitten hat. Zu nihi­lis­tisch war den Zensoren das Ende der zwei Freunde, die unter dem Kugel­hagel der Polizei sterben, moralisch musste das Ende sein, mit einer Läuterung des Gangsters, der als Bankräuber auch als poli­ti­scher Aktivist oder »Hirsch« der 70er-Jahre dechif­frierbar wird. Aber auch in der unzen­sierten Origi­nal­fas­sung bringt der Polit-Gangster seinen hero­in­ab­hän­gigen Freund auf den richtigen Weg, und damit außerhalb der Sphäre der Teheraner Misere, in der ein ganzes System in Armut und Abhän­gig­keit führt und die bildungs­fernen Schichten als Illi­te­raten abhängt. Der Film kann auch als Kritik an der kapi­ta­lis­ti­schen Skru­pel­lo­sig­keit unter dem westlich orien­tierten Schah gelesen werden: Als sarkas­ti­scher Höhepunkt treibt der besit­zende Hausherr eine Herde von Schafen durch das Wohnhaus der Verarmten, eine »Entmie­tung auf Persisch«. Während der Bankräuber noch überlegt, in Robin-Hood-Manier mit seiner Beute das Wohnhaus zu kaufen und es den mittel­losen Armen zu über­lassen, wird sein Unter­schlupf – wie es das Genre verlangt – verraten.

Der heute 83-jährige Masud Kimiai war ein Shooting-Star des irani­schen Kinos, sein sozi­al­kri­ti­scher Film noir gehorchte dem Markt. Die unzen­sierte Version weist ihn als Autoren­filmer aus, zensiert ist er der kommer­zi­elle Regisseur mit den Mega-Erfolgen im Iran. Anders als etwa der 1998 verstor­bene Saless, der in Wien Film studiert hat und vor seiner Rückkehr in den Iran noch nach Paris ging, kommt Kimiai direkt aus dem Kino von Teheran.

Unter den vielen Stimmen der bahn­bre­chenden Klassiker (darunter Ebrahim Golestans Lehm­ziegel und Spiegel von 1964) ist auch Dariush Mehrjuis Die Kuh zu erwähnen. 1969 erschienen, markiert der Film den Beginn des cinema motafavet, des »anderen Kinos«, das mit einem realis­ti­schen und nach­denk­li­chen, wenig auf Unter­hal­tung getrimmten Stil dem vorherr­schenden irani­schen Main­stream­kino die Stirn bot – und in der Folge die neue Welle lostrat. Noch 1970 entstanden nur etwa zehn Filme des »anderen Kinos«, ein Jahr später waren es bereits 83. Die Zahlen sind der »Histoire du cinéma iranien« entnommen, 1999 vom Pariser Cinéma du Réel heraus­ge­geben. Der Autor Mamad Haghighat schreibt zur neuen irani­schen Welle: »Die Vorstel­lungs­kraft der Filme­ma­cher scheint sich endlich von den vorherr­schenden narra­tiven und ästhe­ti­schen Kadavern zu befreien. Alles wird angefasst, alle Genres werden auspro­biert.«

Unter den auch deshalb sehr viel­fäl­tigen Stimmen der irani­schen Nouvelle Vague sticht noch einmal Parviz Kimiavi heraus, der ebenfalls in Paris Film studierte und heute, 86-jährig, im Exil in Hamburg lebt – wie Mohammad Rasoulof. Seinem 1973 erschie­nenen Debüt Die Mongolen attes­tiert Haghighat zu Recht einen »oniri­schen Stil«, eine Traum­haf­tig­keit, die seine Geschichte in die Nähe des expe­ri­men­tellen Surrea­lismus rückt. Der kommt einem aus den 70er Jahren durchaus vertraut vor – man denke nur an Philippe Garrels Wüsten­film La cicatrice intéri­eure (Die innere Narbe) von 1972. Es ist kaum möglich, den absurden und sich jeglicher Logik verwei­gernden Plot, in dem als Mongolen gecastete Turkmenen die titel­ge­benden Figuren sind, wieder­zu­geben. Daher bleibt vor allem in Erin­ne­rung die bild­ge­wor­dene Medi­en­kritik: der Sturm auf den Fern­seh­ap­parat und die trotz aller Belus­ti­gung durch­schim­mernde Vertei­di­gung der tradi­tio­nellen Dorf-Schamanen, die vor bunten Wand­tep­pi­chen Geschichten darbieten. Ganz genau weiß man bei Kimiavi nie, woran man ist. Fern­seh­an­tennen werden wie Kreuze ins Wüsten­dorf getragen und auf den Lehm­häu­sern instal­liert. Diese Bilder bleiben, wie auch die Guil­lo­tine, die sich im Sand aufbaut, mit einem – sehr modern anmu­tenden – TV-Flach­bild­schirm, der als Fallbeil herun­ter­saust. Statt Köpfen rollen dann Filmdosen in die Grube. Noch ein Bild: sich wie eine gigan­ti­sche Klima­an­lage über einem Wüstenort drehende Mega-Turbinen aus Bambus. Oder auch: ein frei­ste­hendes Tor im ewigen Sand. Die Mongolen wollen da hindurch, nähern sich, wie es die Traum­logik will, dem verschlos­senen Gitter, anstatt außen herum zu gehen. Die Kamera fährt im Zoom an den Gitter­pfosten heran. Darauf: ein Klin­gel­schild. Darauf zu lesen: Jean-Luc Godard.

Einfach mal bei Godard in der Wüste klingeln. Ein viel­fältig symbo­li­sches Bild. Und natürlich klingeln die Mongolen bei Godard.

Iranische Klassiker
Bis 22. Juni 2025, Film­mu­seum München

Immer Freitags und Samstags 18 Uhr
Eintritt: 5 Euro
Alle Filme werden nur einmal gezeigt!

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Es folgen im Programm Filme von Mohammad Reza Aslani (Schach­spiel des Windes)(13.6.), Forough Farrokhzad (Das Haus ist schwarz), Marva Nabli (Die versie­gelte Erde)(14.6.), Nasser Taghavai (Käptn Khorshid), Abbas Kiaros­tiami (Close-up) (20.6.), Bahram Beyzaie (Die Reisenden) (21.6.), Rakshan Banie­temad (Das blaue Kopftuch) (22.6.)