77. Filmfestspiele Cannes 2024
Die Mutigen |
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Die Mutter und ihre Töchter: den Frauen gehört die Zukunft | ||
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Mohammad Rasoulof) |
Von Dunja Bialas
»Femme, vie, liberté«, Frauen, Leben, Freiheit – das ist der Schlachtruf der kurdischen Frauen, die auf eine feministische Gesellschaftsordnung in einem Staat, der erst noch kommen muss, hoffen. Der Dreiklang der kurdischen Hoffnung wurde auch der Slogan der Aufstände im Iran, die 2022 auf den gewaltvollen Tod der dreiundzwanzigjährigen Jina Mahsa Amini folgten. Jetzt, hier in Cannes, werden Schilder mit dem Slogan in die Kameras gehalten, die nach der Premiere von The Seed of the Sacred Fig die tosende Atmosphäre im Grand Théâtre Lumière einfangen.
Schon bei Ankunft des Regisseurs Mohammad Rasoulof und seiner jugendlichen Schauspielerinnen Mahsa Rostami und Setareh Maleki gibt es Standing Ovations. Auf dem roten Teppich hatte Rasoulof zwei Fotos hochgehalten von denen, die nicht nach Cannes kommen konnten: seiner beiden Hauptdarsteller Missagh Zareh und Soheila Golestani. Golestani ist eine Ikone der feministischen Aufstände gegen die theokratische Unterdrückung, seit sie sich ohne Hijab der Öffentlichkeit präsentierte.
Es ist überhaupt ein Wunder, dass Rasoulof jetzt auf dem roten Teppich steht. Anfang Mai wurde er zu acht Jahren Haft und Peitschenhieben verurteilt, er entkam durch Flucht über die Berge, jetzt soll er bei seinen Verwandten in Hamburg sein. 2023 war er in die Jury von Cannes berufen worden, er konnte nicht ausreisen, auch deshalb wird seine Präsenz frenetisch gefeiert.
In seinem Film stecken dann tatsächlich auch Gelder der Hamburger Filmförderung MOIN drin. Aber, unabhängig von dem berechtigten Aufruhr, wird The Seed of the Sacred Fig seit der Premiere als Topfavorit für die Goldene Palme gehandelt, die am heutigen Samstagabend verliehen wird – was auch daran liegt, dass Rasoulof, am letzten Tag des Wettbewerbs, diesen tatsächlich noch einmal von hinten aufgerollt hat: Mit einem Thriller von einer Familie, in deren Mikrokosmos sich die Spaltung der iranischen Gesellschaft konkretisiert. Als großer Gap, der sich zwischen den Generationen auftut, gibt sein Film auch Momente der Hoffnung. Ist Veränderung möglich?
Im Zentrum steht die Familie des frisch zum Untersuchungsrichter des Revolutionsgerichts berufenen Iman, der natürlich nicht zufällig so heißt wie das muslimische Glaubensbekenntnis. Er muss die Vollstreckungsurteile der Hinrichtungen unterzeichnen, ohne Einfluss nehmen zu können, ist also selbst nur ein Handlanger der iranischen Scharia mit der Rekordzahl von 853 Todesstrafen im Jahr 2023. Während er sich noch an seine Beförderung gewöhnt, die auch mit sich bringt, dass er eine Waffe bekommt, um notfalls auch seine Familie gegen Kritiker der Islamischen Republik zu verteidigen, beginnen auf den Straßen von Teheran die Aufstände der Frauen.
Die Geschichte von der Frau des Richters und den beiden Töchtern, die sich gegen das Familienoberhaupt stellen werden – und sich damit gegen das theokratische und patriarchale System per se wenden, ist gleichnishaft wie so oft im iranischen Kino. Zum großen Teil vollzieht sich die Handlung in den Privaträumen der Familie, zeigt, wie die Mutter versucht, ihre Töchter Rezvan und Sana auf System-Konformität zu halten, loyal dem Vater gegenüber, unberührt von den Ereignissen auf den Straßen von Teheran. Immer wieder schickt sie eine Freundin der Töchter weg, die im Studentenwohnheim in die Niederschlagung der Aufstände durch die Staatsgewalt gerät. In einer peniblen Szene hebt die Mutter vorsichtig die Schrotkugel aus der Haut des jungen Mädchens, die sein Gesicht zerfetzt haben.
Schließlich verschwindet die Waffe des Vaters, der Thriller-Plot hebt an. In den Gang der Handlung, und das macht The Seed of the Sacred Fig politisch so brisant wie ästhetisch interessant, montiert Rasoulof dokumentarische Aufnahmen von den Aufständen der Frauen, aufgenommen vom Schwarm der Mobiltelefone. Er kontrastiert das gewaltvolle und erschütternde Material auch mit dem Programm des Staatsfernsehens, das die Mutter von ihrer Couch im vielsagend grau-grün gehaltenen Wohnzimmer aus sieht und das anfänglich noch über die Aufstände berichtet. Bis die Sender wieder unter Kontrolle sind, Ratespiele und Soaps das Programm dominieren, die Nachrichten die Verlautbarungen der Mullahs ausstrahlen.
Rasoulof nimmt hier wie viele der Filme im Wettbewerb den hybriden Weg. Die Fiktion gibt ihm die gleichnishafte Geschichte, die er aber nicht in der Uneigentlichkeit über den realen politischen Verhältnissen verbleiben lässt. Er konkretisiert und expliziert sie in den dokumentarischen Aufnahmen der umwälzenden Realität. Und er schließt seine Geschichte und die politischen Ereignisse kurz, wenn die Töchter, die neue Generation, den Konflikt mit dem Vater, den Patriarchen und Theokraten, zum Abschluss bringen.
Spektakulär ist der Showdown, in einer verlassenen Lehmstadt in den Bergen von Iran, in das sich die Mutter mit den Töchtern vor dem Vater geflüchtet hat, einer dem Western würdigen Szene. Im Häuserkampf der Schritte hört man nur das Getrippel der Schuhe auf den Lehmböden, den flach gehaltenen Atem der fliehenden Frauen, minutenlang, in einer stillen und kunstvollen Choreographie der Geräusche. Hier zeigt sich das Phantasma des engagierten Erzählens, Rasoulof beweist mit dieser finalen Szene seine große Kunst der politischen Poesie.
So ist The Seed of the Sacred Fig mehr als »nur« ein politischer Film. Er ist überaus kunstvoll, auch wenn er einen manichäischen Thrill zwischen dem Bösen des Systems und den Guten des Volkes entfaltet, der keine Ambivalenzen zulässt – und der die Audience im großen Théâtre de la Lumière mitgehen ließ wie im Kasperletheater. Der Böse bekommt eins auf die Rübe: Szenenapplaus.
Die emotionale Rezeption des Films bei der Premiere muss jedoch der politisch aufgeladenen und sich tatsächlich als eindeutig gerierenden Situation angerechnet werden, nicht etwa einer groben Inszenierung. Auch im sich im letzten Drittel vollziehenden Thrill der vom System vereinnahmten Familie, in dem die Theokratie die Family Values komplett auszuschalten vermag, bleibt die agierende jüngere Tochter eine reale, glaubhafte Protagonistin.
Nach der Premiere gibt es über zehn Minuten Standing Ovations. Setareh Maleki, die die junge Sana spielt, wischt sich überwältigt die Tränen aus dem Gesicht. Auf der freiliegenden Schulter ihrer Abendrobe zeigt sie ein kleines Tattoo, eine Sonne. Aber nicht nur wegen des politischen Impacts kann Rasoulof jetzt als Topfavorit auf die Goldene Palme hoffen. Sondern vor allem, weil sein Film im Wettbewerb von Cannes, in Gestaltung, Geschichte und Spannung, seinesgleichen sucht. Wir erinnern uns: In Cannes geht es vor allem um das Kino. Femme, vie, liberté – Vive le cinéma!