25.05.2024
77. Filmfestspiele Cannes 2024

Die Mutigen

Seed of a Sacred Fig
Die Mutter und ihre Töchter: den Frauen gehört die Zukunft
(Foto: Filmfestspiele Cannes | Mohammad Rasoulof)

Am letzten Tag des Festivals von Cannes sorgt der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof mit seiner Präsenz – und seinem Film The Seed of the Sacred Fig – für minutenlange Standing Ovations

Von Dunja Bialas

»Femme, vie, liberté«, Frauen, Leben, Freiheit – das ist der Schlachtruf der kurdi­schen Frauen, die auf eine femi­nis­ti­sche Gesell­schafts­ord­nung in einem Staat, der erst noch kommen muss, hoffen. Der Dreiklang der kurdi­schen Hoffnung wurde auch der Slogan der Aufstände im Iran, die 2022 auf den gewalt­vollen Tod der drei­und­zwan­zig­jäh­rigen Jina Mahsa Amini folgten. Jetzt, hier in Cannes, werden Schilder mit dem Slogan in die Kameras gehalten, die nach der Premiere von The Seed of the Sacred Fig die tosende Atmo­sphäre im Grand Théâtre Lumière einfangen.

Schon bei Ankunft des Regis­seurs Mohammad Rasoulof und seiner jugend­li­chen Schau­spie­le­rinnen Mahsa Rostami und Setareh Maleki gibt es Standing Ovations. Auf dem roten Teppich hatte Rasoulof zwei Fotos hoch­ge­halten von denen, die nicht nach Cannes kommen konnten: seiner beiden Haupt­dar­steller Missagh Zareh und Soheila Golestani. Golestani ist eine Ikone der femi­nis­ti­schen Aufstände gegen die theo­kra­ti­sche Unter­drü­ckung, seit sie sich ohne Hijab der Öffent­lich­keit präsen­tierte.

Es ist überhaupt ein Wunder, dass Rasoulof jetzt auf dem roten Teppich steht. Anfang Mai wurde er zu acht Jahren Haft und Peit­schen­hieben verur­teilt, er entkam durch Flucht über die Berge, jetzt soll er bei seinen Verwandten in Hamburg sein. 2023 war er in die Jury von Cannes berufen worden, er konnte nicht ausreisen, auch deshalb wird seine Präsenz frene­tisch gefeiert.

In seinem Film stecken dann tatsäch­lich auch Gelder der Hamburger Film­för­de­rung MOIN drin. Aber, unab­hängig von dem berech­tigten Aufruhr, wird The Seed of the Sacred Fig seit der Premiere als Topfa­vorit für die Goldene Palme gehandelt, die am heutigen Sams­tag­abend verliehen wird – was auch daran liegt, dass Rasoulof, am letzten Tag des Wett­be­werbs, diesen tatsäch­lich noch einmal von hinten aufge­rollt hat: Mit einem Thriller von einer Familie, in deren Mikro­kosmos sich die Spaltung der irani­schen Gesell­schaft konkre­ti­siert. Als großer Gap, der sich zwischen den Gene­ra­tionen auftut, gibt sein Film auch Momente der Hoffnung. Ist Verän­de­rung möglich?

Der Unter­su­chungs­richter, seine Frau und die Töchter

Im Zentrum steht die Familie des frisch zum Unter­su­chungs­richter des Revo­lu­ti­ons­ge­richts berufenen Iman, der natürlich nicht zufällig so heißt wie das musli­mi­sche Glau­bens­be­kenntnis. Er muss die Voll­stre­ckungs­ur­teile der Hinrich­tungen unter­zeichnen, ohne Einfluss nehmen zu können, ist also selbst nur ein Hand­langer der irani­schen Scharia mit der Rekord­zahl von 853 Todes­strafen im Jahr 2023. Während er sich noch an seine Beför­de­rung gewöhnt, die auch mit sich bringt, dass er eine Waffe bekommt, um notfalls auch seine Familie gegen Kritiker der Isla­mi­schen Republik zu vertei­digen, beginnen auf den Straßen von Teheran die Aufstände der Frauen.

Die Geschichte von der Frau des Richters und den beiden Töchtern, die sich gegen das Fami­li­en­ober­haupt stellen werden – und sich damit gegen das theo­kra­ti­sche und patri­ar­chale System per se wenden, ist gleich­nis­haft wie so oft im irani­schen Kino. Zum großen Teil vollzieht sich die Handlung in den Privat­räumen der Familie, zeigt, wie die Mutter versucht, ihre Töchter Rezvan und Sana auf System-Konfor­mität zu halten, loyal dem Vater gegenüber, unberührt von den Ereig­nissen auf den Straßen von Teheran. Immer wieder schickt sie eine Freundin der Töchter weg, die im Studen­ten­wohn­heim in die Nieder­schla­gung der Aufstände durch die Staats­ge­walt gerät. In einer peniblen Szene hebt die Mutter vorsichtig die Schrot­kugel aus der Haut des jungen Mädchens, die sein Gesicht zerfetzt haben.

Schließ­lich verschwindet die Waffe des Vaters, der Thriller-Plot hebt an. In den Gang der Handlung, und das macht The Seed of the Sacred Fig politisch so brisant wie ästhe­tisch inter­es­sant, montiert Rasoulof doku­men­ta­ri­sche Aufnahmen von den Aufs­tänden der Frauen, aufge­nommen vom Schwarm der Mobil­te­le­fone. Er kontras­tiert das gewalt­volle und erschüt­ternde Material auch mit dem Programm des Staats­fern­se­hens, das die Mutter von ihrer Couch im viel­sa­gend grau-grün gehal­tenen Wohn­zimmer aus sieht und das anfäng­lich noch über die Aufstände berichtet. Bis die Sender wieder unter Kontrolle sind, Rate­spiele und Soaps das Programm domi­nieren, die Nach­richten die Verlaut­ba­rungen der Mullahs ausstrahlen.

Das reale Phantasma

Rasoulof nimmt hier wie viele der Filme im Wett­be­werb den hybriden Weg. Die Fiktion gibt ihm die gleich­nis­hafte Geschichte, die er aber nicht in der Unei­gent­lich­keit über den realen poli­ti­schen Verhält­nissen verbleiben lässt. Er konkre­ti­siert und expli­ziert sie in den doku­men­ta­ri­schen Aufnahmen der umwäl­zenden Realität. Und er schließt seine Geschichte und die poli­ti­schen Ereig­nisse kurz, wenn die Töchter, die neue Gene­ra­tion, den Konflikt mit dem Vater, den Patri­ar­chen und Theo­kraten, zum Abschluss bringen.

Spek­ta­kulär ist der Showdown, in einer verlas­senen Lehmstadt in den Bergen von Iran, in das sich die Mutter mit den Töchtern vor dem Vater geflüchtet hat, einer dem Western würdigen Szene. Im Häuser­kampf der Schritte hört man nur das Getrippel der Schuhe auf den Lehmböden, den flach gehal­tenen Atem der flie­henden Frauen, minu­ten­lang, in einer stillen und kunst­vollen Choreo­gra­phie der Geräusche. Hier zeigt sich das Phantasma des enga­gierten Erzählens, Rasoulof beweist mit dieser finalen Szene seine große Kunst der poli­ti­schen Poesie.

So ist The Seed of the Sacred Fig mehr als »nur« ein poli­ti­scher Film. Er ist überaus kunstvoll, auch wenn er einen manichäi­schen Thrill zwischen dem Bösen des Systems und den Guten des Volkes entfaltet, der keine Ambi­va­lenzen zulässt – und der die Audience im großen Théâtre de la Lumière mitgehen ließ wie im Kasper­le­theater. Der Böse bekommt eins auf die Rübe: Szenen­ap­plaus.

Die emotio­nale Rezeption des Films bei der Premiere muss jedoch der politisch aufge­la­denen und sich tatsäch­lich als eindeutig gerie­renden Situation ange­rechnet werden, nicht etwa einer groben Insze­nie­rung. Auch im sich im letzten Drittel voll­zie­henden Thrill der vom System verein­nahmten Familie, in dem die Theo­kratie die Family Values komplett auszu­schalten vermag, bleibt die agierende jüngere Tochter eine reale, glaub­hafte Prot­ago­nistin.

Nach der Premiere gibt es über zehn Minuten Standing Ovations. Setareh Maleki, die die junge Sana spielt, wischt sich über­wäl­tigt die Tränen aus dem Gesicht. Auf der frei­lie­genden Schulter ihrer Abendrobe zeigt sie ein kleines Tattoo, eine Sonne. Aber nicht nur wegen des poli­ti­schen Impacts kann Rasoulof jetzt als Topfa­vorit auf die Goldene Palme hoffen. Sondern vor allem, weil sein Film im Wett­be­werb von Cannes, in Gestal­tung, Geschichte und Spannung, seines­glei­chen sucht. Wir erinnern uns: In Cannes geht es vor allem um das Kino. Femme, vie, liberté – Vive le cinéma!