07.09.2023

Bestechende Schönheit

Theorie von allem
Bestechend: Timm Krögers Die Theorie von Allem
(Foto: Neue Visionen)

Ein Hauch von Dolce Vita: Das Filmfestival von Venedig feiert Festwochen des Kinos

Von Rüdiger Suchsland

Italien feiert sich selbst: Auf der Mostra de Cinema, der in diesem Jahr des 80. Jubiläums ein Teil der US-Schau­spieler streik­be­dingt fern­bleibt, und auf der es darum auf dem Roten Teppich etwas mehr Platz für unbe­kannte Starlets und neue Talente gibt, und im Kino, wo auf der Mostra auch über die in diesem Jahr fünf einhei­mi­schen Beiträge hinaus die Italia­nità, das italie­ni­sche Lebens­ge­fühl, auf die eine oder andere Weise sehr präsent ist.

Frisch verliebt habe ich mich in »La Dolce Vita«, direkt neben dem Festi­val­pa­last, die hier als Gelateria firmiert, aber auch sehr guten Kaffee, Dolce und Pannini hat. Die Chefin und ihre beiden sehr unter­schied­li­chen Mitar­bei­te­rinnen (Töchter?) sorgen für einen ebenso reibungs­losen wie charmant-fami­liären Ablauf. Entspre­chend überlang sind die Schlangen zwischen den Vorstel­lungen. Man muss schnell sein, wenn der Abspann läuft, oder die kurzen Momente zwischen den Stoß­zeiten abpassen, wie heute, als ich dort Olaf Möller traf und unser Gespräch über Film­re­gionen in die unver­meid­liche Frage meiner­seits mündete: »Olaf, mit dem Kino welcher Welt­re­gion hast du dich eigent­lich nicht intensiv beschäf­tigt?«

+ + +

Zu allem Überfluss wurde auch noch das seit Jahren leer­ste­hende »Hotel des Bains«, ein Grand Hotel im Stil des Fin de Siècle, in dem einst schon Thomas Mann resi­dierte, als er den »Tod in Venedig« schrieb, zumindest als Party­lo­ca­tion wieder­be­lebt – und erstrahlt allabend­lich in Campari-Rot. Ein Hauch von Dolce Vita durch­zieht den spät­som­mer­li­chen Lido...

+ + +

Auch in seiner Film­aus­wahl ist Venedig schon seit jeher das Klas­sischste unter den großen Film­fes­ti­vals. Filmkunst soll hier entweder auch unter­halten und die Massen anspre­chen, oder richtig radikal und expe­ri­men­tell sein. Wie bei Harmony Korines sehr tollem »AGGRO DR1FT«, über den ich gestern schrieb. Die bedeu­tungs­schwan­gere Lang­sam­keit und wortkarge Leere mancher Teile des heutigen Autoren­kinos meidet man dagegen eher.

+ + +

Für mich ist der bisherige »Film des Festivals« Ferrari von Michael Mann, der bereits am Donnerstag Premiere hatte. In der zweiten Wochen­hälfte, wenn mehr Zeit ist, werde ich noch ausführ­li­cher darüber schreiben, warum.
Auch dieser Film gehört jeden­falls ins Kapitel der dies­jäh­rigen Selbst­feier Italiens: Denn alles hier ist auch eine große Itali­en­hymne, mit der sich Michael Mann als Italo­philer outet: Höhe­punkte des Films sind zum Beispiel ein großes Mittag­essen mit Pasta, Rotwein und Musik; dann ein gemein­samer Opern­be­such, bei dem jeder seine eigenen Gedanken zur Musik entwi­ckelt und ein Zweitage-Auto­rennen durch Nord­ost­ita­lien, das die Pracht des Landes auf die Leinwand wirft. Insgesamt ist Ferrari ein phäno­me­naler Film, Kino von zwin­gender Inten­sität, flir­render Kinetik und exis­ten­ti­eller Gravitas.
Mehr dazu die kommenden Tage.

+ + +

Eine Art italie­ni­sche Heim­keh­rerin ist für viele hier auch die Ameri­ka­nerin Sofia Coppola, die 2010 bereits einmal den Goldenen Löwen gewann. Ihr neuer Film Priscilla erzählt von einer lebens­klugen 14-Jährigen, die selbst nicht genau weiß, warum sich ein berühmter Rockstar für sie inter­es­siert. Nach zwei Jahren keuscher Distanz­be­zie­hung ziehen sie zusammen, doch die Distanz bleibt weiter bestehen. Wüsste man nicht, dass sich Coppolas Film eng an die Auto­bio­gra­phie von Priscilla Presley, die Frau des »King« anlehnt, wäre das auch nicht weiter schlimm. Denn Priscilla ist vor allem ein typischer Coppola-Film: Keine brave Fakten­il­lus­tra­tion, sondern die klug-empa­thi­sche Medi­ta­tion über die univer­sale Einsam­keit junger Mädchen. Zwischen Graceland und Versailles, dem »Park Hyatt Hotel« in Tokio und dem »Chateau Marmont« in Los Angeles ist kein großer Unter­schied. Dies ist eine Feier des Luxus und der Abwe­sen­heit von schlichten psycho­lo­gi­schen Kurz­schlüssen.
Gehüllt in perfekte pastell­far­bene Kostüme und wunder­bare Pop-Musik, die nur selten von Elvis stammt, sondern zeit­genös­si­scher Pop ist, ist dieser Film erzählt. Getragen wird alles auch von der exzel­lenten, bisher wenig bekannten Cailee Spaeny in der Titel­rolle.

+ + +

Comman­dante, auf Deutsch »Kaleun«, hieß der italie­ni­sche Eröff­nungs­film. Und man kann wohl sagen, da ist einige Ähnlich­keit mit Das Boot. Alle faschis­ti­schen Soldaten in Eduardo de Angelis' Film betonen: »Wir sind keine Faschisten.« Das betonen die AfD und ihre Freunde in Schnell­roda auch.
Letzt­end­lich geht es dem Regisseur wohl tatsäch­lich darum, an die elemen­taren Grund­sätze der Zivi­li­sa­tion zu erinnern, nämlich: Wer zu ertrinken droht, den rettet man.
Natürlich kann man sagen, indem dieser Film den Faschismus, zumindest seine Epoche und seine Hand­langer, in die Geschichte der Zivi­li­sa­tion, die sich über Gene­ra­tionen spannt, indirekt in Rettungs­er­zäh­lungen inte­griert, schlägt er sich auf die falsche Seite.

In mehreren pathe­ti­schen Momenten, wo die Besatzung sagt: wir sind keine Faschisten, wir sind Männer der See, könnte man natürlich argu­men­tieren, dass in all diesen Momenten der Faschismus klein geredet wird in seinem Wesen als Zivi­li­sa­ti­ons­bruch. Ande­rer­seits ist das Ganze natürlich auch ein Film, der an das Gemein­same des Mensch­li­chen appel­liert, das sich selbst noch in faschis­ti­schen Struk­turen finden wird – dies behauptet der Film. Man kann also sagen: Hier wird etwas rein­ge­wa­schen. Man kann aber auch sagen: Hier wird an das Gute im Schlechten appel­liert. Hier werden Brücken gebaut. Wer will entscheiden, auf welche Seite wir uns zu schlagen haben?

+ + +

Die Security in Venedig ist in diesem Jahr übrigens sehr entspannt und freund­lich. Fast dachte ich: wenn das der Post­fa­schismus ist, dann lasse ich ihn mir gefallen. Aber das Schreiben wir jetzt besser nicht hier hin. Oder?

+ + +

Viele Jahre ist es her, als es zuletzt Standing Ovations für einen deutschen Film gab: Der nahezu unbe­kannte Timm Kröger hat es jetzt geschafft: Die Theorie von Allem heißt selbst­be­wusst Krögers Beitrag im Wett­be­werb. Alles spielt im Jahr 1962 – und erinnert stilis­tisch an Thriller von Carol Reed (Der dritte Mann), Hitch­cocks Vertigo und Die zweite Heimat von Edgar Reitz.
In verschneiter Berg­land­schaft versam­meln sich Physiker zu einem Kongress, nebenbei läuft man Ski. Ein junger Doktorand streift seine anfäng­liche Schüch­tern­heit bald ab und glaubt einer Verschwörung auf der Spur zu sein. Oder wird hier und jetzt einfach die »Viel­welten­theorie« der Quan­ten­physik wahr? Dies ist die deutsche Antwort auf Oppen­heimer. Und der „Nolan-eskere“ Film, weil Kröger nicht gradlinig, sondern verschach­telt und ambi­va­lent erzählt – das ist die Macht des Kinos: Die Leinwand hält Wider­sprüche aus, und fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach Über­zeu­gung. Kröger meint es ernst, damit gelingt ihm ein Werk von bestechender Schönheit und einer der unge­wöhn­lichsten deutschen Filme seit Jahren.

+ + +

Was ist das für ein Film? Es ist der Film eines Regis­seurs, der es ernst meint, und der sein Publikum nicht unter­schätzt. Der außerdem – und viel­leicht hängt beides zusammen – eigen­willig ist.
Das heißt, dies ist natürlich kein Film für jedermann. Dies ist ein Film, der voraus­setzt, dass man entweder die Film­ge­schichte kennt oder sich von ihr faszi­nieren lässt. Dass man unter »aktuell« nicht zeit­geistig und zeitgemäß versteht.
Sondern, dass man versteht, dass auch der Blick in die Vergan­gen­heit, in eine Vergan­gen­heit mit anderen Werten, einer anderen Art zu denken, mit anderen Erfah­rungen, uns alle weiter­bringen kann. Dass viel­leicht gerade dieser Blick ein Blick ist, mit dem wir die Komple­xität der Gegenwart bändigen können und viele Probleme der Gegenwart einer Lösung näher­bringen.
Insofern ist der Film von Timm Kröger nicht nur eine ästhe­ti­sche, sondern auch eine poli­ti­sche und mora­li­sche Lektion. Und zugleich geht es diesem Regisseur um Lektionen am aller­we­nigsten. Es geht ihm ohne Frage um Ernst, um einen Ernst, der das Pathos nicht scheut, aber es doch immer wieder ironisch und manchmal auch satirisch bricht. Denn ganz ernst nehmen kann man diese Figuren natürlich nicht.

Schwer zu sagen, was die Reaktion des Publikums in der Pres­se­vor­füh­rung, wo es Buhs gab, genau zu bedeuten hat. Ob hier Buh-Rufe irgend­etwas zu sagen haben – so viel wie sie tatsäch­lich bei Pablo Larraín zu sagen hatten, wo sie nichts anderes ausdrückten, als die Verach­tung des inter­na­tio­nalen Publikums für diesen Film. So wie Pablo Larraín ein über­schätzter Regisseur ist, ist Timm Kröger ein unter­schätzter.

+ + +

Von bestechender Schönheit ist schließ­lich auch La bête von Bertrand Bonello. Mit einer groß­ar­tigen Léa Seydoux bewegt sich der Franzose auf den Spuren von David Lynch. Ein Science-Fiction-Film, der 2044, in unserer Gegenwart und um 1910 spielt, zielt auf die Gegenwart und mokiert sich hoch­in­tel­li­gent über digitale Medien und künst­liche Intel­li­genz. Der Ernst dahinter liegt auf der Hand.
Wie lebt man? Und was bleibt eigent­lich übrig von uns, wenn man Roboter nicht mehr von Menschen unter­scheiden kann? Oder wenn wir Menschen uns immer mehr selbst den Robotern annähern?