14.09.2023

Gondeln tragen niemals Trauer

Michael Mann Ferrari
Zu Unrecht ignoriert: Michael Manns Ferrari
(Foto: 80. Filmfestspiele Venedig)

Chimären, Bestien & andere Menschen: Die 80. Filmfestspiele von Venedig gingen zu Ende – sie brachten gute Filme, nicht immer die richtigen Sieger, und eine deutschen Hoffnung; Notizen aus Venedig, Folge 03

Von Rüdiger Suchsland

Die 80. Inter­na­tio­nalen Film­fest­spiele Venedig sind zwar bereits am Sams­tag­abend mit der Preis­ver­lei­hung zu Ende gegangen. Auf artechock gehen sie aber noch eine Weile weiter. Denn wie in den guten alten Zeiten der Print­me­dien werden wir hier diese und nächste Woche noch versuchen, in Texten und Podcasts ein bisschen analy­ti­scher zusam­men­zu­fassen, was Ende August, Anfang September an elf Tagen am Lido geschah, was wir gesehen haben, und was uns so passiert ist.

Denn so schön und befrie­di­gend die Spontan-Bericht­erstat­tung in Form auch ist – manchmal funk­tio­niert das aus diesen und jenen Gründen nicht so gut und fast immer bleiben alle möglichen Dinge auf der Strecke. Deswegen gab es diesmal die gewohnte Tagebuch- und Podcast­be­richt­erstat­tung nur einge­schränkt und auch für den Autor nicht wirklich befrie­di­gend. Wir bitten unsere treuen Leser und die neugie­rigen Kollegen (süd-)deutscher Print­re­dak­tionen und in der Berliner Diaspora dafür um Verzei­hung. Aber wir werden es wieder gut machen – hier und beim nächsten Festival.

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Die besten Filme in Venedig haben wie gewohnt bei diesem Festival keinen Preis bekommen. Entweder weil sie gar nicht erst nominiert oder überhaupt im Wett­be­werb aufge­führt waren, oder weil sie offenbar der Jury zu intel­lek­tuell und zu bedeu­tungslos waren, zu tradi­tio­nell und zu wenig hip. Sie heißen Ferrari, Agro Drift, Die Theorie von Allem und La bête.

Den Goldenen Löwen für den besten Film gewann Poor Things von Yorgos Lanthimos, den Großen Preis der Jury Ryusuke Hamaguchi für Evil Does Not Exist, die Beste Regie Matteo Garrone für Io capitano, den Preis für die beste Schau­spie­lerin: Cailee Spaeny für Priscilla von Sofia Coppola.

Das waren alles keine Über­ra­schungen, sondern erwartete Sieger.

Preise können Karrieren begründen, Namen bekannt machen. Im Fall des 80. Jubiläums Film­fes­ti­vals von Venedig dürften der Goldene Löwe und andere Preise dies nicht bewirken. Denn sie gingen an Filme­ma­cher, die bereits bekannt sind und längst eine Karriere haben.

Der Goldene Löwe ging an den in Groß­bri­tan­nien lebenden Griechen Yorgos Lanthimos für seine Roman­ver­fil­mung Poor Things. Hierbei handelt es sich um eine eigen­willig erzählte, post­mo­dern zuge­spitzte »Fran­ken­stein«-Geschichte.

Den zweiten Preis bekam der Japaner Ryusuke Hamaguchi für Evil Does Not Exist. In seinem ruhigen, beiläu­figen Stil erzählt Hamaguchi vom Konflikt zwischen Dorf­be­woh­nern und einer Touris­mus­firma, die staatlich unter­s­tützt wird. Es geht um das ökolo­gi­sche Gleich­ge­wicht einer zurück­ge­blie­benen Hochebene, um Folgen des Tourismus für die Lebens­weise der Bewohner, um Natur und Ökologie!

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Ansonsten gingen die inter­es­san­testen Filme leer aus – wie Bertrand Bonellos La bête, aber auch der Beitrag des Deutschen Timm Kröger. Der außer­ge­wöhn­liche, acht­minü­tige Applaus schien eine klare Sprache zu sprechen, und sogar eine sonst realis­ti­sche Freundin wettete auf eine Auszeich­nung. Doch dies war nicht die erste deutsche Preis­hoff­nung, die im Zwielicht über der Lagune spurlos verduns­tete.

Statt­dessen gewannen inhal­tis­ti­sche Proble­m­il­lus­tra­ti­ons­stoffe und Filme wie Green Border von der Polin Agniezka Holland. Sie entfaltet in ihrem Polit-Melo ein grelles Panorama der Flücht­lings­si­tua­tion an der polni­schen EU-Außen­grenze: Sympa­thi­sche und grundgute Syrer wollen nach Europa, böse polnische Soldaten und weiß­rus­si­sche Schergen knüppeln auf sie ein. Die Schwarz­weiß­ma­lerei der Polin hat Elemente von Propa­gan­da­kino, sie hat aber auch Wirkung und ist eine somit aufwüh­lende wie moralisch triftige Anklage der Doppel­moral der EU und ihrer Heimat.
Sechs Monate, nachdem man syrische Kriegs­flücht­linge mit Prügel und Schüssen über die Grenze zurück­trieb, öffnete man alle Grenz­zäune für die Flücht­linge aus der Ukraine.

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Was für eine schräge, diffuse, im Konkreten schänd­liche poli­ti­sche, genauer gesagt: unpo­li­ti­sche Agenda die Jury hatte, zeigt sich nicht so sehr an den beiden diffusen Flücht­lings­filmen und der cheesy Selbst-Posi­tio­nie­rung, die in diesen Auszeich­nungen liegt.
Sondern an dem Drehbuch-Preis für Pablo Larraín und seinen Netflix-Film. Alle Latein­ame­ri­kaner, die ich kenne, hassen diesen Film, in Chile ist er Thema einer öffent­li­chen Debatte und hat zu öffent­li­chen Protesten gegen Larraín geführt – denn die de-facto-Rein­wa­schung des Fascho-Diktators Pinochet ist zusätz­lich geschmacklos, weil sie just zum 50. Jubiläum von dessen Staats­streich am 11.9.1973 kommt.
Hier geben groß­kop­ferte Regis­seure anderen groß­kop­ferten Regis­seuren einen Preis. Larraín stammt aus einer Familie, die Minister in Pinochets Regierung gestellt hat und hat immer schon überaus frag­wür­dige Thesen in seinen Filmen zur chile­ni­schen Diktatur entfaltet. Die »NO«-Kampagne für die Wieder­ein­füh­rung der Demo­kratie hätte nur aufgrund besseren Polit­mar­ke­tings und Unter­s­tüt­zung der Ameri­kaner funk­tio­niert. Zur Erin­ne­rung: Die Unter­s­tüt­zung der Ameri­kaner gab es vor allem 1973 für den Staats­streich gegen die demo­kra­tisch gewählte Regierung.

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Die Jury, in der unter anderem der US-Regisseur Damien Chazelle, die Neuseelän­derin Jane Campion, die Französin Mia Hansen-Love saßen, traf auch keine Richtungs-Entschei­dung für das Kino.
Ihre Kriterien blieben auch über die Preis­ver­lei­hung hinaus unklar: Falls die geogra­fi­sche Herkunft ein Kriterium für die Auszeich­nungen war, so waren die Preise immerhin sehr divers: die Zone Japan/Asien fand ebenso Berück­sich­ti­gung wie Süd- und Mittel­ame­rika. Aus Osteuropa kommt Green Border.

Tatsäch­lich ging die Jury aber wohl vor allem auf Nummer Sicher: Kein einziger unbe­kannter Name, sondern sämtlich Altmeister des europäi­schen Autoren­kinos standen auf der Preis­trä­ger­liste.

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Nur die Ameri­kaner wurden ausge­blendet – bis auf Cailee Spaeny, die Haupt­dar­stel­lerin in Sofia Coppolas Priscilla, die die »Coppa Volpi« als beste Darstel­lerin erhielt – für die Figur der Elvis-Presley-Gattin und ein Preis, der endlich einmal ruhigen Ausdruck und ein eher passives Spiel gegenüber dem aufdring­li­chen Char­gieren belohnte, das bei derglei­chen Preisen oft gewinnt.
Zu Coppolas Film haben wir das Nötige hier schon gesagt.

Von ihr, vom herrlich-verrückten Lanthimos-Film Poor Thing und auch vom zu Unrecht igno­rierten Michael-Mann-Epos Ferrari dürfte man dann aber wieder bei der Oscar­ver­lei­hung hören. Die dies­jäh­rige Oscar-Saison wurde am Lido von Venedig wieder einge­leitet. In einem über­zeu­genden Festi­val­jahr waren in diesem Jahr auffal­lend viele US-ameri­ka­ni­sche Produk­tionen vertreten – schon immer ist Venedig ein besonders gutes Barometer für Hollywood.

Der Rest der Preise vom Wochen­ende dürften in sechs Monaten schon wieder vergessen sein. Sie spiegeln nicht den Wett­be­werb, auch nicht den Stand des Weltkinos, sondern jeweils nur eine von dessen Seiten.