08.12.2022

Seismographen des Kinos

IFFMH / Alice Winocour
Intimer Glanz im Stadthaus Mannheim: Nastya Golubewa Carax, Alice Winocour, Frédéric Jaeger (v.l.)
(Foto: privat)

Das 71. Internationale Filmfestival Mannheim Heidelberg zeichnet die bewegende französische Regisseurin Alice Winocour mit dem Grand IFFMH Award aus

Von Dunja Bialas

Einer ihrer ersten Kurzfilme, den sie an der Pariser Film­hoch­schule La Fémis reali­sierte, war eine Hommage an Chantal Akermans Jeanne Dielman. Eine Frau, näherhin zu defi­nieren als Ehe- und Hausfrau, bereitet im strengen Belle de Jour-Outfit – schwarzes Träger­kleid, weiße Bluse – ein fest­li­ches Abend­essen vor. Wenn der Mann von der Arbeit nach Hause kommt, soll es Hummer geben, so der Plan. Die Zube­rei­tung der noch lebenden Sche­ren­tiere gerät jedoch zum subtilen Kitchen-Sink-Albtraum.

Die Französin Alice Winocour ist die Regis­seurin dieses fein rhyth­mi­sierten, fast ganz ohne Dialoge auskom­menden Films, schlicht Kitchen genannt, der vom täglichen Horror einer in die Wohnung Verbannten erzählt. Der Film der Belgierin Chantal Akerman, Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles (1975), wurde soeben von der briti­schen Film­zeit­schrift »Sight and Sound« zum besten Film der Kino­ge­schichte gekürt. Das lässt einmal mehr auf Alice Winocour blicken, die dieses Jahr beim 71. Inter­na­tio­nalen Film­fes­tival Mannheim Heidel­berg (IFFMH) mit dem hoch­do­tierten Grand IFFMH Award ausge­zeichnet wurde.

Stil­prä­gende Regis­seurin

Die Wahl der 1976 in Paris geborenen Regis­seurin zur »eindrück­lichsten, stil­prä­gendsten und inno­va­tivsten Filme­ma­cher*in der Gegenwart«, so die Beschrei­bung des Preises, zeugt einmal mehr von der visi­onären Weitsicht der Programm­ver­ant­wort­li­chen von Mannheim-Heidel­berg. Sascha Keilholz, der 2020 zum neuen Leiter des tradi­ti­ons­rei­chen »Newcomer«-Festivals bestellt wurde, führte zu dessen 70. Jubiläum den Grand Prix ein. Zusammen mit Programm­ko­or­di­nator Frédéric Jaeger beob­achtet er seit Amts­an­tritt aufmerksam die Bewe­gungen auf den großen Film­fes­ti­vals von Cannes, Locarno, Venedig, Toronto, gemeinsam fischen sie im schier unend­li­chen Pool der Jahres­pro­duk­tionen die Namen und Filme heraus, die ihnen als zukunfts­wei­send für das Kino erscheinen.

Jetzt also Alice Winocour. Die Regis­seurin und Dreh­buch­au­torin (César für das beste Origi­nal­dreh­buch für Deniz Gamze Ergüvens Mustang, 2015) bringt wie keine andere des jungen euro­päi­schen Kinos intel­li­gentes Erzählen mit einpräg­samen physi­schen Bild-Erleb­nissen zusammen, insze­niert hemmungslos große Emotionen und bleibt doch zugleich analy­tisch, neugierig und beob­ach­tend. Als ihre Vorbilder nennt sie den kana­di­schen Groß­meister des Body-Horrors David Cronen­berg und die bewegend melo­dra­ma­ti­schen Stumm­filme von Charles Chaplin. Sein Film Lichter der Großstadt etwa habe sie zu einer der Schluss­szenen ihres neuen Films Revoir Paris inspi­riert, erzählt sie im Stadthaus von Mannheim, wo sie zusammen mit der jungen Nastya Golubewa Carax, einer ihrer Prot­ago­nis­tinnen, den Film dem großen Publikum vorstellt.

Kino der intimen Nähe

»All my films come from a really intimate expe­ri­ence«, sagt Winocour. Ihre Filme enthielten alle Schlüs­sel­mo­mente, die sie mit ihr, der biogra­phi­schen Filme­ma­cherin, verbinde. Gleich­zeitig aber objek­ti­viere sie auch durch Recher­chen und Abstrak­tionen von diesen persön­li­chen Zugängen. Revoir Paris erzählt von einer Atten­tat­serie in Paris, nur unschwer sind hinter den Vorgängen die Terror­an­schläge vom 13. November 2015 auszu­ma­chen. Ihr kleiner Bruder sei in dieser Nacht im Bataclan-Theater gewesen, er sei ein Über­le­bender des Anschlags und einer von vielen Trau­ma­ti­sierten, seine Erzäh­lungen und Empfin­dungen seien in den Film einge­flossen, ebenso die des Film­edi­tors Julien Lacheray, der gegenüber von Bataclan wohnte. Sie selbst sei in jener Nacht in engem SMS-Kontakt mit dem Bruder gewesen, von ihrem Sofa aus, wo sie mit ihrem Freund gesessen sei, die Nach­richten verfolgt habe – und wo sie sich an den Händen gehalten haben.

Revoir Paris
Halt dich an meinen Händen fest: Revoir Paris (Foto: Pathé)

Der intensive Handdruck, das Sich­fest­halten, die sich mit ihm mittei­lende Gewiss­heit, nicht allein zu sein, zieht sich leit­mo­ti­visch durch den inten­siven Film. Nastya Golubeva Carax nimmt die Position von Alice Winocour auf dem Sofa ein, drückt die Hand ihrer Freundin, während die Eltern in der Nacht des Attentats verschwunden sind, und viel­leicht hat Alice Winocour auch deshalb die Tochter von Léos Carax für diese Rolle gewählt, weil auch ihr junges Leben sich mit dem frühen Tod der Mutter und Schau­spie­lerin Jeka­te­rina Golubewa (Pola X) verdun­kelt hat.

Sich an den Händen zu halten, setze Oxytocin frei, sagt Winocour, das Hormon, das die Menschen mitein­ander verbinde, es sei eine treibende Kraft ihrer Filme. Auch ihr letzter Film Proxima (2019), in dem eine Astro­nautin ihre sieben­jäh­rige Tochter auf der Erde zurück­lassen wird, insze­niert diese emotio­nale Kraft der Berührung – oder wenn sie nicht mehr möglich wird. Die Astro­nautin Sarah Loreau, mit schnör­kel­loser Klarheit von Eva Green verkör­pert, muss vor ihrem Abflug in den Weltraum in Quaran­täne, um sich keimfrei zu halten. Der Kinds­vater (Lars Eidinger) versem­melt es, mit Tochter Stella – die mit Akerman als Nachnamen wie das Vorbild von Winocour heißen darf – pünktlich zur Abschieds­party zu kommen. Als sie eintreffen, ist die Mutter bereits hinter Glas. Es ist herz­zer­reißend, wie die Astro­nautin ihre Hand an die Scheibe drückt, die Tochter ihr Händchen dagegen. Hier will Oxytocin strömen, das Hormon, das auch beim Stillen ausge­schüttet wird, aber die Mutter ist schon wie die von Panzer­glas abge­schirmten Aliens in Ville­neuves Arrival der irdischen Welt enthoben.

Proxima
Proxima: Drama­turgie der Spie­ge­lungen (Foto: Koch Films)

Während Alice Winocour vom Oxytocin spricht, faltet sie immer wieder ihre schmalen und sehr langen Finger, die mit neon-orangenem Nagellack von der Bühne her leuchten, zusammen. Unter ihrem langen Pony blickt sie mit gezeich­neten Augen ins Publikum, um dann, in einem explo­si­ons­ar­tigen Lächeln, ihr Gesicht ganz von ihrem strah­lenden Mund domi­nieren zu lassen – die Begegnung mit Winocour wirkt überaus bewegend. Jederzeit hat man den Eindruck größter Authen­ti­zität und mini­malster Effekt­ha­scherei, anders als dies etwa bei ausge­bufften Profis der Fall sein könnte.

Die Trennung der Mutter von ihrer Tochter sei auto­bio­gra­phisch inspi­riert, macht Winocour trans­pa­rent, die Geschichte speise sich aus der Erfahrung, dass sie selbst mona­te­lang am Set immer wieder von ihrer eigenen Tochter getrennt sei – während Eva Green jedoch, die die Mutter spielt, selbst keine Kinder habe. Die eigene Erfahrung sei zwar wichtig fürs Drehbuch und die Insze­nie­rung der großen Gefühle im richtigen Ton und ohne Kitsch, hier aber nicht für die schau­spie­le­ri­sche Perfor­mance.

Ende des Male gaze

Bei dieser vorsichtig persön­li­chen Grun­die­rung der Film­pro­jekte ist es Winocour immens wichtig, in einem zweiten Schritt zu objek­ti­vieren, sprich: die Filme in einem zeitlich-räum­li­chen Kontext anzu­sie­deln, der ihr biogra­phisch fremd ist. In Proxima ist dies die Sphäre der Welt­raum­fahrt, über die sie anfangs nichts wusste. Auch spielt der Film nicht in Frank­reich, sondern in Deutsch­land und im russi­schen Swjosdny Gorodok, dem soge­nannten Ster­nen­s­tädt­chen, wo sich das Kosmo­nauten-Ausbil­dungs­zen­trum befindet. Mit den Film­pro­jekten verbinden sich auf diese Weise lange Zeiten der Recherche und eine doku­men­ta­ri­sche Sorgfalt, die die emotio­nale Authen­ti­zität in immer richtigen Tonlagen ergänzt.

Oder Winocours Lang­film­debüt Augustine, das 2012 entstand und eigent­lich noch ein Projekt der Film­hoch­schule über Hexen gewesen war. Über Jahre ist sie in die Archive einge­taucht und hat histo­ri­sche Dokumente über die Pariser Klinik La Salpê­trière und den berüch­tigten Neuro­logen Jean-Marie Charcot studiert, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hun­derts zur Hysterie forschte; Augustine war seine berühm­teste Patientin. Hier wuchs ein femi­nis­ti­sches Interesse am Filme­ma­chen, zugleich sah sie in dem Fall auch eines der Grund­prin­zi­pien des Kinos verwirk­licht. »Die Frauen standen völlig nackt vor der versam­melten Doktor­schaft mit ihren Fracks und Hüten, wie Versuchs­ka­nin­chen«, so hat sie es auf den Fotos gefunden. Kino erzähle viel vom Begehren, mit dem Männer auf Frauen blicken, sagt sie, sie aber drehe in Augustine die Perspek­tive um und erzähle die Geschichte aus der Perspek­tive des »guinea pig«, auch gegen die Ratschläge von Kollegen, so Winocour – und fand damit ganz organisch zu einem vom male gaze befreiten Kino.

Und wie es vor kurzem noch undenkbar schien, dass jemals die großen Evergreen-Werke der männ­li­chen Film­ge­schichte, Orson Welles’ Citizen Kane und Alfred Hitch­cocks Vertigo, vom ästhe­tisch-femi­nis­ti­schen Ansatz einer Chantal Akerman abgelöst werden könnten – neu unter den Top Ten der besten Filme aller Zeiten ist auch Claire Denis mit Beau travail – muss man die Film­ge­schichte in einem perma­nenten Wandel denken, in dem sich neue Stimmen unter die alten und bekannten weben. Das Film­fes­tival Mannheim/Heidel­berg hat sich mit der Wahl von Alice Winocour als unbe­irr­barer Seis­mo­graph des Kinos bewiesen: Traum­wand­le­risch erkennt das Festival die wichtigen neuen Stimmen des Weltkinos und öffnet die Leinwand in Richtung Zukunft.