01.12.2022

Filmexplosionen

IFFMH / Valentina Maurel
»Elektrisierende Träume«: Valentina Maurels Familienaufstellung aus Costa Rica
(Foto: IFFMH / Valentina Maurel)

Das 71. IFFMH in Mannheim/Heidelberg zeigte kraftvolles junges Filmschaffen, das Grenzen zu verschieben weiß und mit unbekannten Kinematographien in die Zukunft des Kinos aufbricht

Von Wolfgang Lasinger

Das Inter­na­tio­nale Film­fes­tival Mannheim Heidel­berg (IFFMH) ging am Sonntag 27.11.2022 zu Ende. Man kann sagen: die hohen Erwar­tungen, die die Ausgabe aus Anlass des 70-jährigen Bestehens im letzten Jahr geweckt hatte, wurden wieder erfüllt. Die Bilanz, die von Festi­val­seite aus gezogen wird, konnte zudem unter dem Strich auch eine Verdop­pe­lung der Zuschau­er­zahlen pro Vorfüh­rung verbuchen: die Rückkehr in die Kinos nach den starken Einschrän­kungen, die letztes Jahr noch galten, ist damit nicht nur insgesamt eine gute Nachricht. Auch das IFFMH kann sich in seiner Program­mie­rung und Festi­val­stra­tegie durch das Publikum vor Ort voll bestätigt sehen.

Das Festival richtet sich ganz bewusst inter­na­tional aus. Das ist nicht nur an der Bestü­ckung des anspruchs­vollen Programms zu erkennen, sondern auch in der bilin­gualen Ansprache der Zuschauer*innen bei der Präsen­ta­tion der Filme im Kino und im Katalog. Das Festival gibt sich da ganz welt­läufig. Die Anwe­sen­heit der mehr als 100 Gäste aus den Filmteams unter­streicht diese inter­na­tio­nale Ausrich­tung. Und der vor Ort gewonnene Eindruck eines lebhaften Zuspruchs durch die Zuschauer*innen ließ ein geglücktes Festival erleben, das auch seine Boden­haf­tung an die Städte Mannheim und Heidel­berg und eine Veran­ke­rung in der Region unter Beweis zu stellen vermochte.

Die Grenzen verschieben

Das Programm mit seinen insgesamt 30 Deutsch­land­pre­mieren trägt eine klare kura­to­ri­sche Hand­schrift, die sich insbe­son­dere in den beiden Haupt­sek­tionen »On the Rise« (mit ersten und zweiten Filmen von Regisseur*innen) und »Pushing the Boun­da­ries« ausprägt. Hier wird im Grunde auf dem Konzept des Autoren­kinos operiert, das jedoch keines­wegs dogma­tisch ausgelegt wird. Insbe­son­dere in der Sektion »Pushing the boun­da­ries« (mit sieben Deutsch­land­pre­mieren) mit bereits etablierten Namen werden die Beschrän­kungen von Formaten zwischen Genre und Autoren­kino ausge­reizt.

Ob das Altmeister Walter Hill mit dem Neowes­tern Dead for a Dollar oder Vertreter eines ausschwei­fenden Erzählens wie Lav Diaz mit When the Waves are Gone oder Albert Serra mit »Paci­fic­tion« sind: hier wird das Erzähl­bare ausge­reizt, hier werden den Zuschauer*innen Inten­si­täten geboten, die Gewohn­heiten des Sehens hinter­treiben.

In Blanquita von Fernando Guzzoni aus Chile etwa erzeugt die Kamera von Benjamín Echa­zar­reta eine bedrü­ckende Enge und Düsternis in den Einstel­lungen, wie sie Pablo Larraíns Kame­ra­mann Sergio Armstrong in El Club kaum beklem­mender hinbe­kommen hat. Guzzoni spürt einem Fall des Miss­brauchs von Minder­jäh­rigen nach, in den ange­se­hene Senatoren der chile­ni­schen Polit­pro­mi­nenz verwi­ckelt sind mit Verzwei­gungen, die bis in die Pinochet-Diktatur zurück­rei­chen. Die Titel­figur Blanquita und der sich für jugend­liche Delin­quenten enga­gie­rende Pater Manuel (Alejandro Goic in einer an Denis Lavant gemah­nenden despe­raten Perfor­mance) rekla­mieren dabei eine Wahrheit der Opfer für sich, die nicht unbedingt mit den nach­prüf­baren Fakten über­ein­stimmt. So machen sie sich angreifbar und werden durch eine skan­dal­gie­rige Medi­en­kam­pagne unglaub­würdig gemacht. Der Film zeichnet letztlich eine aufwüh­lende Erfahrung nach, der Gerech­tig­keit durch die offi­zi­ellen Insti­tu­tionen schier unmöglich scheint. Die Grenzen, an die man hier geführt wird, lassen sich nur noch in Richtung Selbst­justiz über­schreiten, ein Thema, das im chile­ni­schen Kino häufiger aufkommt (nach­drück­lich bereits 2014 in Matar a un hombre von Alejandro Fernández Almendras).

Ein Beispiel für Grenz­ver­schie­bungen innerhalb des Genres des phan­tas­ti­schen Films ist der spanische Film Manticore von Carlos Vermut. Dies ist ein Film auf den Spuren des frühen Alejandro Amenábar. Wie in dessen Tesis – Faszi­na­tion des Grauens wird ganz aus der nah bei den Figuren blei­benden Erzählung ein subtiler Thrill entwi­ckelt. Die Bilder strahlen eine kalte, glatte Eleganz aus. Sie ist Ausdruck der unüber­wind­baren inneren Distanz, die der junge Game­de­si­gner Julián zu seiner Umwelt empfindet. Die mit 3D-Brille und am PC entwi­ckelten Monster und Grusel­wesen für Video­spiele lassen ihn in eine wie von Goyas düstersten Visionen bevöl­kerte Welt abtauchen. Wenn man von außen Julián bei seinen Augmented-Reality-Moves beob­achtet, hält einen der Film auf geschickte Weise draußen und gibt dabei doch eine Ahnung von dem, was in ihm vorgeht. Der titel­ge­bende Mantikor, ein aus dem antiken Persien über­lie­fertes Fabel­wesen – ein verfrem­deter Tiger – bleibt ungreifbar und geistert durch diesen Film immer nur zwischen den Bildern, ohne jemals an konkreter Gestalt zu gewinnen – ganz wie das unein­ge­steh­bare Begehren, dem Julián in selbst auf die Spur kommt. Den Zuschauer*innen wird tatsäch­lich einiges abver­langt, wenn sie Julián bei der unwill­kür­li­chen Entde­ckung seiner pädo­philen Neigungen folgen sollen. Ganz vermag der Film einen gewissen speku­la­tiven Touch nicht abzulegen: eine Grat­wan­de­rung des Psycho­thrills, der nichts auszu­buch­sta­bieren braucht und umso unge­müt­li­cher unter die Haut kriecht. Wie Julián sein Begehren erfolg­reich zu kana­li­sieren versucht und doch dabei zu scheitern droht – das ist schon sehr creepy und wird insofern dem Titel der Sektion »Pushing the boun­da­ries« mehr als gerecht.

Aufbruch zu unbe­kannten Kine­ma­to­gra­phien

»On the Rise« mit den ersten und zweiten Filmen aufstre­bender Namen ist die zentrale Wett­be­werbs­sek­tion des Festivals mit 16 Deutsch­land­pre­mieren. Hier kommen auch Kine­ma­to­gra­phien zum Zug, die oftmals unbe­achtet bleiben. So gab es den Publi­kums­preis für den paki­sta­ni­schen Joyland von Saim Sadiq. Mit den Haupt­preisen prämierte die Jury (namhaftes Mitglied war etwa Mohsen Makhmalbaf) Filme aus Tunesien (Rainer Werner Fass­binder Award für Ashkal von Youssef Chebbi) und aus Maze­do­nien (Inter­na­tional Newcomer Award für You won’t be alone). Ein Film aus dem Sudan (The Dam von Ali Cherri) erhielt eine lobende Erwähnung der Ökume­ni­schen Jury.

Auch eine lobende Erwähnung, von der Jury zum Inter­na­tional Newcomer Award, erhielt Wolf and Dog von der Portu­giesin Cláudia Varejão. Deren auf den Azoren spie­lender Film hat eine fast ethno­gra­phi­sche Heran­ge­hens­weise. Die expo­nierten, wie ausge­setzt wirkenden Inseln bieten den dort Lebenden nur beschränkte Arbeits- und Entfal­tungs­mög­lich­keiten. Zwischen den eng gesetzten Grenzen eines tiefen Katho­li­zismus und der fami­liären Bindungen versucht die junge Ana sich zu orien­tieren. Eine Reihe von queeren Freunden und Freun­dinnen öffnen ihr neue Perspek­tiven, lassen sie aber auch schmerz­haft ans Vertraute stoßen. Aufregend an diesem Film sind vor allem die Perfor­mances der queeren Community, die als kleine Clips die Erzählö­ko­nomie des Films geradezu verschwen­de­risch berei­chern. Sie nehmen Anleihen bei den inbrüns­tigen katho­li­schen Riten und Zere­mo­nien, verschmelzen mit diesen in einer in diesem Kontext besonders verblüf­fenden Camp-Ästhetik. Der Clash zwischen den Konven­tionen der Alten und den Bedürf­nissen der Jungen nach neuen Hori­zonten ist aber letztlich nicht zu versöhnen. Eindrück­lich gibt Varejão mit ihren Laien­dar­stel­lern ein Bild von der Notwen­dig­keit eines Auf- und Ausbruchs.

Film­ex­plo­sionen

Neben den vielen sehens­werten und wirklich viel­ver­spre­chenden Filmen aus der Sektion »On the Rise« wie dem wunder­baren The Maiden von Graham Foy aus Kanada (mit dem Fipresci-Preis bedacht) oder dem geradezu schon meis­ter­haften Astrakan des Franzosen David Depes­se­ville gab es auch aus Latein­ame­rika ein beein­du­ckendes Newcomer-Werk zu sehen, aus einem Land, das eher selten mit Film­pro­duk­tionen aufwartet: aus Costa Rica kam I have electric dreams von Valentina Maurel.

Ein explo­sives Fami­li­en­drama, in dem die Heran­wach­sende Eva zwischen Vater und Mutter steht. Der Vater flüchtet bei emotio­nalen Konflikten immer wieder in unkon­trol­lier­bare Gewalt­aus­brüche, die zu einer unver­söhn­li­chen Trennung mit der Mutter führen. Eva will aber ihre Bindung an den Vater nicht aufgeben und sogar zu ihm ziehen. Doch der schafft es nicht, eine entspre­chende Wohnung zu finden und lebt bei einem Freund aus früheren Zeiten, der es aber auch nicht über eine verkrachte Künst­ler­exis­tenz hinaus­ge­bracht hat. Auch der Vater hat Ambi­tionen als Lyriker, der Titel des Films zitiert eines seiner Gedichte. Eva treibt ihn immer wieder zur Wohnungs­suche, begleitet seine ersten Versuche bei Poesie­work­shops und versucht sich so, beim Erwach­sen­werden auch von ihrer Mutter und der kleinen Schwester abzu­grenzen. Beste­chend an dieser Coming-of-Age-Geschichte (wenn man denn den Film so verorten möchte) ist aber die soziale Energie, die zwischen den schmerz­lich impulsiv und heftig aufein­ander reagie­renden Figuren ausge­tragen wird. Unmerk­lich und ganz wie nebenbei kommt dazu über die Milieus und Stadt­räume, die die Figuren durch­queren, eine über die persön­li­chen Verhält­nisse hinaus­ge­hende Energie ins Spiel, eine die die gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Verhält­nisse durch­wirkt und die hier in dem Film ein Land erkennen lassen, das nichts mit der Schweiz Mittel­ame­rikas zu tun, als die Costa Rica immer wieder bezeichnet wird. Dem Film gelingt diese sozio­po­li­ti­sche Diagnose auf bestechend unan­ge­strengte Weise, indem er sich eines halb­do­ku­men­ta­ri­schen Stils bedient, der sich direkt dem Schau­spiel der unglaub­lich intensiv agie­renden Darsteller*innen anschmiegt (der Film erhielt in Locarno nicht nur einen Regie­preis, sondern auch die Preise für die beste Darstel­lerin und den besten Darsteller) und dabei prägnant die Umgebung um sie herum als konkreten physi­schen Akti­ons­ra­dius einbe­zieht.

Die Filme, die hier beim Film­fes­tival Mannheim Heidel­berg zusam­men­kommen, stammen aus inter­na­tio­nalen Festivals, insbe­son­dere aus verschie­denen Programm­sek­tionen in Cannes, Locarno oder Venedig. Auch wenn man sie deswegen oder auch von anderen Festivals wie der Wiener Viennale schon kennen sollte, so wirken sie hier doch wieder in ein ganz eigenes Gefüge einge­bunden. So werden wieder neue Facetten an ihnen zur Geltung gebracht, kommen auf uner­war­tete Weise ins Gespräch mitein­ander. Und sieht man sie wie wohl der Großteil des Mannheim-Heidel­berger Publikums zum ersten Mal, so kann man gewiss sein, eine mit sicherer Hand zusam­men­ge­stellte Auswahl an kine­ma­to­gra­phi­schen High­lights und in die Zukunft weisenden Verheißungen des Kinos angeboten zu bekommen.