30.12.2021

Cinephiles for Future

Cartoon: Derniere seance
»Dernière séance«, die letzte Vorstellung
(Foto: Cartoon: Niko B. Urger)

Welche Ideen gibt es für die Zukunft des Kinos? Ein kurzes Innehalten auf der Schwelle zum neuen Jahr

Von Dunja Bialas

»Keine Zeit zu sterben.« Der viel­sa­gende James-Bond-Titel diente fast zwei Jahre lang als Verspre­chen dafür, dass es mit dem Kino noch nicht vorbei sei. Prompt folgte die »Resur­rec­tion«. »Kein Weg nach Hause« heißt jetzt der Titel, der auch nach Nicht-Corona-Maßstäben alle Besucher-Dimen­sionen sprengt. Eine Milliarde Dollar spielte Spider-Man: No Way Home in gerade mal zwei Wochen ein und hat sich damit jetzt schon Rang 30 der erfolg­reichsten Filme aller Zeiten gesichert. Die Milli­arden-Marke knackten bislang überhaupt nur 50 Filme. Die meisten von ihnen stecken in der Franchise-Perp­etu­ie­rungs­schleife fest, wie Star Wars, Pirates of the Caribean oder die Fantasy-auf-H-Trias Hobbit, Herr der Ringe, Harry Potter. Etliche Super­helden spielen in der Milli­arden-Liga mit, wie Avengers, Iron Man, Captain America, Captain Marvel, sogar Aquaman. Dann gibt es die milli­ar­den­schweren Kind-im-Manne-Filme wie Furious 7, Trans­for­mers und Toy Story. Skyfall nimmt sich als James-Bond-Einzel­fall ziemlich läppisch aus. Auf Rang drei thront die atavis­ti­sche Liebes­schnulze Titanic (1997), neben The Lion King (1994) und Jurassic Park (1993) einer der wenigen Titel des letzten Jahr­tau­sends. Die Liste der erfolg­reichsten Filme aller Zeiten führt unum­stöß­lich Avatar mit 2,788 Milli­arden Dollar Einspiel­ergeb­nissen an.

Avatar, der 2009 herauskam, wurde zur Chiffre für die »neue« Zukunft des Kinos. Nicht nur die Einspiel­ergeb­nisse und der globale Hype manö­vrierten das Kino in nie dage­we­sene Dimen­sionen, das digitale 3D-Format sollte die Blaupause für eine neue Ära des Kinos werden und war verant­wort­lich dafür, dass die analogen Projek­toren aus den Vorführ­räumen im wahrsten Sinne raus­ge­worfen wurden. Cineasten zerstritten sich damals über der Frage, ob die Zukunft sogar für den Doku­men­tar­film im 3D-Verfahren läge, es schien, als wäre die alche­mis­ti­sche Formel für das Gold gefunden worden, zumindest wurde viel Geld für die Majors gedruckt. Naja, wir wissen, wie die Geschichte weiter­ging: verblasster Mythos.

Aber auch ohne 3D liegt seit den 2010er Jahren im Franchise die Zukunft der Film­in­dus­trie, die schnapp­at­mend und mit Dollar­zei­chen in den Augen die immer gleichen Titel und narra­tiven Schemata umwälzt. Letzte Woche hat an dieser Stelle mein Kollege Rüdiger Suchsland deutlich gemacht, dass die Block­buster-Industrie langsam, aber sicher durch­dreht und sich selbst zum Erliegen bringt.

Irgendwie erinnert diese beschleu­nigte Entwick­lung des Kinos, die immer steiler anstei­gende Verkaufs­kurve und Gewinn­margen, trotz Corona oder Corona zum Trotz, an den derzei­tigen Wirt­schafts­boom, der vor allem die Tech-Firmen boostert. Christian Bräuer vom Bran­chen­ver­band AG Kino Gilde warnte im Mai 2020 davor, dass nach der Pandemie das Kino ärmer, weniger viel­fältig werden könnte, wie nach der Spani­schen Grippe, als die Vielfalt von Hollywood versiegte und die großen Studios ausgebaut wurden.

Nicht aber das eine Kino sollte gegen das andere ausge­spielt werden, nicht Avengers gegen Mad Max (der erstaun­li­cher­weise nicht unter den erfolg­reichsten 200 Filmen zu finden ist), und auch nicht Trans­for­mers gegen Titane. Nicht Block­buster gegen Arthouse, eher noch Main­stream gegen Nische. Generell gilt: Die Cine­philie ist allum­fas­send. Deshalb hat auch Susan Sontag nur bedingt recht, wenn sie zum 100. Geburtstag des Kinos in »The Decayof Cinema« schreibt: »Im Zeitalter des hyper­in­dus­tri­ellen Films spielt die Cine­philie keine Rolle mehr.«

Cartoon: Derniere Seance
(Foto: Cartoon: Niko B. Urger)

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For the Cinema to Come: Notebook

Auch die Oppo­si­tion Streamen vs. Kino ist ein großes Miss­ver­s­tändnis. Viel zitiert sind Studien, die von cine­phagen Alles-Gucker berichten, die sich zwischen zahl­rei­chen Kino­be­su­chen auch noch zu Hause Filme und Serien rein­ziehen, all you can watch. Der Strea­ming­an­bieter Mubi bietet seit 2007 konse­quen­ter­weise nischige Festi­val­filme und in London auch Kino­be­suche im Abo an. Jetzt hat er ein gedrucktes »Notebook« heraus­ge­geben, das nicht nur cinephil, sondern auch in hohem Maße biblio­phil ist. »Cinema is the meeting place between a film and an audience. In this magical symbiosis lies the life of the art«, schreibt »Notebook«-Heraus­geber Daniel Kasman im Vorwort. Es folgen Texte über »Cinema­going« in Bangkok, über die Virtua­lität physi­scher Film­fes­ti­vals (und die Physik virtu­eller Festivals), über den Kinoraum als Ausstel­lungsort von Filmen, über das Vergessen von Filmen. Die Ausgabe Null ist mit »For the Cinema to Come« über­schrieben, sie ist geprägt vom Verlust des Kinos durch den Corona-Shutdown; und so durch­zieht eine eigen­ar­tige Wehmut die 140 hapti­schen Seiten.

Flugblatt für Cine­philie: REVÜ

»Sehr subjek­tive, meist persön­liche Essays« stellen seit vier Ausgaben Film­stu­die­rende der HFF München in der gleich­falls gedruckten REVÜ zusammen, die wir hier schon einmal vorge­stellt haben. Sie wollen »über und mit Filmen« nach­denken, tun das sehr behutsam und, ja, achtsam quer durch die Film­ge­schichte. Sie verbinden Film­vor­füh­rungen im Kino mit Lesungen und verstri­cken einen danach in Diskus­sionen, in denen kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Nicht nur das Lesen über Film ist mit REVÜ neu, auch das Sprechen darüber. Heraus­ge­berin und Regie-Studentin Carlotta Wachotsch schreibt: »Wir müssen mutig sein, in Deutsch­land Film als Kunstform anzu­er­kennen und nicht nur mehr­heit­lich mit reiner Unter­hal­tung zu verbinden. Wir haben so viel Angst bekommen, dass das Medium im eigenen Wesen nicht stark genug ist, sich selbst zu erhalten. Cine­philie wird oft verklärt als ein Diskurs des 'Arthouse', doch deren Förderung ist die Lösung für den Erhalt eines ganzen Mediums und seiner Orte.«

Cinema for Future: Cine­philes München

An der Münchner LMU hat sich aus Studie­renden die Gruppe »Cine­philes München« gebildet. Man verab­redet sich zum Kino, tauscht sich über Filme aus, gleicht ab, was andere gesehen haben und wie sie es fanden. Einige von ihnen sind bei den Students for Future orga­ni­siert und haben für Dear Future Children auch eine Film­vor­füh­rung im Kino Neues Rottmann auf die Beine gestellt. »Um Mitgefühl für die Ansichten und Lebens­weisen anderer Menschen zu erzeugen« eigne sich das Kino hervor­ra­gend, sagt Mitor­ga­ni­sator Alexander Fogus. Er zitiert den ameri­ka­ni­schen Film­kri­tiker Roger Ebert: »Movies are like a machine that generates empathy.« Auch für die Klima­krise sei das Kino ein wichtiger Ort, es könne die »kata­stro­phalen Auswir­kungen emotional greifbar machen.« Obwohl Adam McKay gerade am großen Klima­kri­sen­kino geschei­tert ist (siehe unsere Bespre­chung zu Don’t Look Up), sei das Kino grund­sätz­lich das geeignete Medium für Klima­ge­rech­tig­keit. Paula Ruppert, eine weitere Cinephile aus München, liebt das Kino für die Euphorie, die es auch bei den Fans der Block­buster hervor­zu­rufen vermag. »Das Kino kann dazu führen, dass man sich Filme anschaut, die man auf Platt­formen umgehen würde, da man die eigene Komfort­zone verlassen müsste«, schreibt sie außerdem in »Kino und Zukunft« und vertei­digt das Kino gegen die ihr oft gestellte Frage, »warum man als junger Mensch heute noch ins Kino geht«.

On Not Seeing Movies

Das »Notebook« von Mubi enthält auch einen Text darüber, Filme nicht zu sehen. Daher noch ein Gedan­ken­spiel zum Abschluss. Stell dir vor, es ist Block­buster, und keiner schaut hin. Ich persön­lich habe nur drei der 50 erfolg­reichsten Filme gesehen, und das unter teils obskuren Umständen: Titanic auf einem Jahrmarkt mit Curved Screen, was einem vorgau­keln sollte, »mitten­drin« zu sein. Black Panther im kleinen Nichts-gegen-die-Museum-Licht­spiele-Kino. Von Skyfall kenne ich nur das Lied von Adele. Joker: habe ich gesehen und gefeiert. Kein Herr der Ringe, kein Hobbit, kein Harry Potter. Nein, auch alle anderen Filme nicht. Was kann ich denn dafür, dass Mad Max »nicht« erfolg­reich war?