13.09.2021
78. Filmfestspiele von Venedig 2021

Das Brüllen der Löwen

Verlorene Illusionen
Starke Franzosen: neben Audrey Diwan auch Xavier Gianoli mit seiner Balzac-Adaption »Verlorene Illusionen«
(Foto: BIENNALE CINEMA 2021 Press Service)

Ein starker Sieger beweist: Die Filmfestspiele von Venedig sind mehr als eine bloße Oscar-Startrampe – Notizen aus Venedig, Folge 4

Von Rüdiger Suchsland

Nach elf Tagen standen am Sams­tag­abend die Preis­träger fest: Die Jury um den korea­ni­schen Regisseur Bong Joon-ho gab einer jungen fran­zö­si­schen Regis­seurin den Goldenen Löwen: Der Goldene Löwe von Venedig geht in diesem Jahr an den fran­zö­si­schen Film »L’Evénement« von der Regis­seurin Audrey Diwan. Diwans Film »L’Evénement« gewann und stellte damit berühmte Regie­kol­legen wie Jane Campion, Paolo Sorren­tino und Pedro Almodóvar in den Schatten. Ein überaus verdienter Preis: Diwan erzählt nach dem gleich­na­migen, auto­bio­gra­phi­schen Buch von Annie Ernaux von einer jungen Studentin, die 1963 ungewollt schwanger wird, nicht aus Schwäche, sondern aus Freiheit, und die ihr Kind nicht bekommen will, und dabei immer wieder am Puri­ta­nismus und an der Kälte der Gesell­schaft verzwei­felt.

Es ist ein verdienter Preis – aber nicht, weil er an eine Frau geht. Nicht, weil er mit dem Thema der Not ungewollt Schwan­gerer und dem des Rechts auf Abtrei­bung ein ohne Frage wichtiges, in fast allen Teilen der Welt leider aktuelles Thema ins Zentrum rückt.

Sondern weil dieser Film auch acht Tage nach seiner Premiere einen sehr starken Eindruck hinter­lässt. Weil er im Gegensatz zu vielen seiner Vorläufer auf sehr bestimmte, zum Teil unge­wöhn­liche Art erzählt. Mit den Mitteln des alten Kinos – 16mm und 4:3-Format – erzählt die Regis­seurin ganz nüchtern, konzen­triert, in einer filmi­schen Ästhetik, die sich an die Bilder der frühen Sechziger anlehnt und immer äußerst nahe an der Haupt­figur bleibt, die von der magne­ti­schen Haupt­dar­stel­lerin Anamaria Varto­lomei gespielt wird.

Der Film rückt ein Indi­vi­duum ins Zentrum, und die Frage der Freiheit; er bewegt sich weg von schlichten Gegen­sätzen wie dem zwischen Männern und Frauen, hin zum Gedanken an Soli­da­rität, und Anteil­nahme. Und er instru­men­ta­li­siert sein Thema nie für weitere poli­ti­sche Agenden – es sind nicht nur Funda­men­ta­listen, eine bornierte Kirche und die Rechte, die hier schlecht aussieht, sondern auch Linke, die von Aufklärung und Jean-Paul Sartre schwärmen, aber im Konkreten borniert, selbst­ge­recht oder feige sind und zu Spieß­bür­gern oder kleinen Moral-Stali­nisten mutieren.

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Dieser Preis ist auch deswegen eine gute Nachricht, weil er von jener Routine abrückt, die sich während der letzten Jahre ins Festival einge­schli­chen hatte: Venedig ist mehr als eine Start­rampe für kommende Oscar­kar­rieren, es ist auch ein Ort der Blüte des Autoren­films. Und »L’Evénement« ist kein kommender Oscar-Gewinner, dafür ist er viel zu europäisch und zu anti-puri­ta­nisch.

Venedig zeigte viel und zeigte Vielfalt – auch wenn die übrigen Preise etwas eindi­men­sional ausfielen und sich wieder zu sehr auf Amerika-taug­li­ches konzen­trierten: Paolo Sorren­tinos neuer Film gab vielen Rätsel auf, erfüllt aber viele Klischees großer Filmkunst. Und er ist ebenso von Netflix produ­ziert, wie Jane Campions Post-Western, der den Regie­preis gewann, und andere Preis­trä­ger­filme. Hier unternahm die Jury den Kotau vor der Industrie, den sie im Haupt­preis vermieden hatte.

Dafür fehlten unter den Preis­trä­gern auch im Neben­wett­be­werb die diesmal äußerst starken Latein­ame­ri­kaner fast komplett.

Und schon im Programm fehlten die so starken und wichtigen Kino­na­tionen China, Japan, Korea und der Iran. Nur mit den Folgen von Pandemie und Zensur ist diese Lücke kaum zu erklären.

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Der rote Teppich vor dem Palazzo di Cinema war bereits an den Tagen vor der Preis­ver­lei­hung an einigen Stellen schon durch­ge­treten. Seit Mitte der Woche wurden die Gäste allmäh­lich weniger, auch wenn am Frei­tag­abend mit dem Ehren­löwen (»Premio Cartier«) für den immer noch aktiven briti­schen Altmeister in Hollywood, Ridley Scott (84) und der Premiere seines neuen Films »The Last Duel« sich am Lido ein später Höhepunkt ereignete. »The Last Duel« gehört zu Scotts erklärtem Lieb­lings­genre, dem Ritter­film, und erzählt eine Geschichte aus dem Hundert­jäh­rigen Krieg zwischen England und Frank­reich.

Damit ging ein Wett­be­werb zu Ende, der zwar auf grund­sätz­lich hohem Niveau stand, dem aber klare Favoriten ebenso fehlten, wie zumindest ein Film, der alle über­raschte und dem Medium einen neuen Form­ein­fall oder einen Erzähl­kniff hinzu­zu­fügen schien.

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Nachdem die ersten Tage ganz im Zeichen Holly­woods und hier oft des Strea­ming­dienstes Netflix standen, ist das Kino aus Asien, das oft schon in Venedig reüs­sierte, im Jahr Null nach der Pandemie auffal­lend wenig vertreten. Dafür erschienen neben den USA zwei andere Film­länder besonders stark: Frank­reich und Mexiko. Bei Frank­reich über­rascht das kaum, denn seit der Nouvelle Vague vor sechzig Jahren gehören fran­zö­si­sche Filme zum Besten, was das Kino zu bieten hat. Doch es waren diesmal weder die klas­si­schen Namen des Autoren­kinos, noch deren jüngere Nach­folger von Assayas über Ozon bis Sciamma, die am Lido für Furore sorgen, sondern zwei Unbe­kannte mit Lite­ra­tur­ver­fil­mungen. Neben Audrey Diwans Film auch Xavier Gianoli. Der hat Balzacs Best­seller »Verlorene Illu­sionen« verfilmt. Was beginnt wie eine gediegen-konven­tio­nelle Lite­ra­tur­ver­fil­mung, entfaltet sich bald zum Panorama einer Welt, in der sich eine Medi­en­re­vo­lu­tion ereignet und Fake News, Mani­pu­la­tion und Propa­ganda eine ähnlich wichtige Rolle spielen wie heute, was den Stoff aktuell macht. Einfalls­reich arbeitet der Regisseur mit einem Erzähler aus dem Off und Balzacs herr­li­chem Text, der nicht in Dialogen aufgelöst wird – Stars wie Cecile de France, Xavier Dolan, Vincent Lacoste und Jeanne Balibar besorgen den Rest.
Ein dritter fran­zö­si­scher Film hatte ebenfalls noch an diesem Freitag Premiere: »Un autre monde« von Stephane Brizé. Der gehört zwar bei jedem Festival zu den Preis­fa­vo­riten – denn zu deutlich entspre­chen die sozi­al­po­li­tisch enga­gierten, mit eindeu­tigen Botschaften gefüllten Filme dieses fran­zö­si­schen Ken Loach unserem Zeitgeist, der nach einfachen, klaren Antworten auf unüber­sicht­liche Verhält­nisse verlangt. Doch diesmal enttäuschte er seine Fans und alle Anhänger sozi­al­pä­d­ago­gisch wert­vollen AgitProp-Kinos: Wieder spielt Vincent Lindon die Haupt­rolle, immer wieder in Groß­auf­nahme.

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Alles in allem aber war es 2021 ein sehr gelun­gener Venedig-Jahrgang.