26.08.2021

Mit voller Pracht voraus

Urania
Spitzbögen, Lüster an der Decke und trotzdem: Vorhang auf! Sich jetzt bloß nicht ablenken lassen – schon gar nicht von der Politik. Puh!

Das Budapester »Uránia«: Der Kinobesuch ergab kulturelle und soziale Brennpunkte – Europa Cinemas, Teil 1

Von Dunja Bialas

Großflächige, gold­um­rahmte Spiegel im Kinosaal, roter Brokat an den Wänden, eine Galerie, schwung­volle Spitz­bögen und ein pracht­voller Lüster: So präsen­tiert sich das »Uránia Nemzeti Film­színház«, das Nationale Film­theater Uránia in Budapest. Hier, in dem Gebäude des 19. Jahr­hun­derts, befindet sich auch die unga­ri­sche Theater- und Film­uni­ver­sität.

Orbán Viktor habe das Kino für Milli­arden von Euro saniert und so ein Pres­ti­ge­ob­jekt geschaffen, wird am Abend Gábor schimpfen, den wir in einer »einfachen Kneipe« (Google Maps) im ange­sagten jüdischen Viertel von Budapest kennen­lernen. Bloß nicht den Namen der Kneipe verraten, hat uns Gábor einge­schärft, sie ist der letzte Ort in dem Viertel, der von der Gentri­fi­zie­rung verschont geblieben ist. Wie wir die Kneipe gefunden haben? Intuitiv, sagen wir ihm. Nein, sie steht in keinem Reise­führer, beruhigen wir ihn.

Wie in 1001 Nacht

Anders als die ange­sagten »Ruinen­kneipen«. Sie profi­tieren vom morbiden Charme der einstigen k.u.k.-Metropole, die Wien um einiges über­trifft. Und anders als das »Uránia Nemzeti Film­színház«, das wir auf der Suche nach einem unga­ri­schen Kino­er­lebnis ansteuern. Die in den Reise­füh­rern ange­prie­sene Sphäre von 1001 Nacht verdankt sich der Detail­ver­liebt­heit des Hamburger Archi­tekten Henrik Schmahl. Er baute das Gebäude zur Zeit der Erfindung des Kine­ma­to­gra­phen, Mitte der 1890er Jahre, im Stil der damals ange­sagten Vene­tia­ni­schen Gotik, die er mit mauri­schen Elementen vermischte (ein anderer Bau von ihm ist das Párisi Udvar, heute eine Luxus-Mall). Als Tanz-, Musik- und Caba­ret­halle »Oroszi Caprice« war das Gebäude zunächst für das Volks­ver­gnügen zuständig. Das änderte sich, als die wissen­schaft­liche Akademie im Zuge des Wissen­schafts­booms um 1900 nach einem Auffüh­rungsort für die neuen Bewegt­bilder suchte, um Vorträge zu illus­trieren. 1899 zeigte die Akademie dann zum ersten Mal Filme, und aus dem »Oroszi Caprice« wurde die »Uránia Tudományos Társaság«, die Wissen­schaft­liche Gesell­schaft Urania.

1001 Nacht
Das Foyer des Kinos (Foto: privat)

Wie die Wiener Urania, die 1898 als volks­bil­dende Maßnahme eröffnet wurde, ist die Buda­pester Insti­tu­tion benannt nach der Muse der Astro­nomie. Hier mani­fes­tiert sich, dass das Kino in seinen Anfängen nicht nur Jahr­markts­at­trak­tion oder illu­si­onäre Kunstform war, sondern dass auch die Wissen­schaft in der neuen Kunst einen Zweck erkannte. Erst zum Ende des Ersten Welt­kriegs und mit der Auflösung der öster­rei­chisch-unga­ri­schen Doppel­mon­ar­chie wurde die Uránia zum Kino im heutigen Sinne und zeigte regel­mäßig Spiel­filme. 1930 wurde es von der UFA über­nommen, ab 1945 war es ein Kino für die Filme von »Szov­ex­port«.

Noch gibt es einen Filmclub

Die Website des Kinos, von der all diese rudi­men­tären Infor­ma­tionen stammen, und die natürlich im Kinosaal selbst nicht ersicht­lich sind, schweigt sich über den Zeitraum der Schließung des Kinos (von?) bis 1999 aus. Danach wurde aufwendig restau­riert, das Licht­spiel­theater avan­cierte zum Vorzei­ge­pro­jekt des Buda­pester Denk­mal­schutzes und erhielt 2006 den Preis der Europäi­schen Union. Das Uránia firmiert in der renom­mierten Liste der Europa Cinemas, die den Schwer­punkt auf europäi­sche Filme legen. Jährlich stellt das Minis­te­rium für Natio­nales Kultur­erbe 100 Millionen HUF (ca. 300.000 Euro) für den Betrieb der Uránia bereit. Das muss Gábor, einen Ungarisch-Lehrer, der Mitte der Neun­zi­ger­jahre einige Zeit in Deutsch­land war, aufge­bracht haben.

Das nationale Vorzei­ge­pro­jekt Uránia war bereits in der ersten Regie­rungs­phase Orbáns (1998-2002) auf den Weg gebracht worden. Von der Fidesz-Partei verein­nahmt wurde es dann ziemlich genau vor einem Jahr, als am 31. August 2020 die Leitung der Film­hoch­schule geschlossen zurück­trat, weil ihr die unga­ri­sche Regierung ein Kontroll­gre­mium voran­stellte. Ange­strebt werde ein Kultur­wandel hin zu konser­va­tiven Werten auch in den Künsten, war in der Bericht­erstat­tung zu lesen. Es bleibt jetzt abzu­warten, wie es mit der pres­ti­ge­träch­tigen Insti­tu­tion weiter­geht, die Absol­venten wie Tarr Béla, Jancsó Miklós, Nagy Dénes (Termés­zetes fény (Natural Light), Silberner Bär 2021) oder Enyedi Ildikó (Teströl és lélekröl (Körper und Seele), Goldener Bär 2017) hervor­ge­bracht hat. Für eine Reise nach Budapest war es höchste Zeit.

Puskin
Das Puskin Mozi wirbt für die bald begin­nenden Buda­pester Film­kunst­wo­chen (Foto: privat)

Noch gibt es einen Filmclub, der die 53 besten unga­ri­schen Filme aus 60 Jahren zeigt – eine Liste, die Sára Sándor, Regisseur der unga­ri­schen Neuen Welle, erstellt hat. Und natürlich gibt es in dem präch­tigen Kino auch die derzeit global laufenden Filme zu sehen. Wie Nomadland, den wir jetzt endlich in der Uránia nachholen. Der Film läuft mit unga­ri­schen Unter­ti­teln, was uns einen zweis­tün­digen Crashkurs in Alltags­un­ga­risch beschert – »szia« wird verwendet wie das italie­ni­sche »Ciao«, »köszönöm« heißt »danke« – und andere nützliche Wörter mehr, die einen an diesem aufschluss­rei­chen Wochen­ende noch begleiten werden.

Place to be für Hipster

»Mozi« zumindest heißt Kino, ein Sach­mo­der­nismus und Lehnwort, in dem »mouvement«, »Bewegung«, steckt. Gábor sagt uns, das Kino sei tot. Zuletzt habe er von Némes Laszlo Saul fia (Son of Saul) gesehen. Im pracht­vollen Uránia sind wir tatsäch­lich nur zu viert in einem Saal mit 470 Sitz­plätzen. Aller­dings ist Nomadland auch nicht mehr ganz taufrisch, und heute ist noch dazu unga­ri­scher Natio­nal­fei­ertag, »Szent István nap«, wo sich alle für das große Feuerwerk an der Donau bereit­halten. Gábor vertraut lieber auf das Kino des Alltags. Er wohnt im sich selbst über­las­senen Bezirk József­város, in dem sich auch die Uránia befindet, einem sozialen Brenn­punkt abseits der Touris­tenhot­spots, in dem das subver­sive Budapest einen neuen Ort gefunden hat. Dort grassiert die Armut in einem Ausmaß, wie es sie – laut Gábor – vor der zehn­jäh­rigen Regie­rungs­zeit Orbáns nicht gegeben hat.

Budapest will lieber ein neuer Place to be für die Hipster sein. Es gibt unzählige Craft-Beer-Lokale in der Stadt und insta­gr­am­t­aug­liche Locations mit veganem Food. Ob das Orbán gefällt? Besser findet er vermut­lich die Inves­toren, die aus der typischen Sozi­al­woh­nungs­be­bauung Luxus-Höfe oder Hotspots des Nacht­le­bens machen, wie es im Reise­führer-Innenhof »Gozsdu udvar« der Fall ist.

Wenn man vom ange­sagten Bezirk Erzsé­bet­város, dem jüdischen Viertel, über die Rákoszi utca zurück zum Ostbahnhof geht, kommt man unwei­ger­lich ein letztes Mal an der Uránia vorbei. Auf dem Rückweg ist es regne­risch, unge­müt­lich, die Stadt hat mit einemmal ihren Glanz verloren. Vor dem Kino steht eine Frau. Sie trägt nur ein Hemdchen, das sie lüftet. Immer wieder, hoch, runter, weg, da, gibt sie in kind­li­chem Spaß ihren aufge­dun­senen Unterleib preis. Die vergnügte Bettlerin kann nur eine Wieder­gän­gerin aus Buñuels Viridiana sein. Ja, nur das kann sie sein.