Für eine cinephile Kinokultur |
||
Pariser Anmutung: Das Zazie-Kino in Halle |
Von Dunja Bialas
Am vergangenen Freitag fand in Berlin ein Arbeitstreffen des im Februar neu gegründeten Hauptverbands Cinephilie statt. Den Auftakt machte ein Panel unter dem Titel »Qu'est-ce que la cinéphilie«, auf dem die Autorin dieses Textes ihren Kollegen Rüdiger Suchsland, Kuratorin Madeleine Bernstorff, Filmvermittlerin Judith Funke sowie den Produzenten Maximilian Haslberger zur Cinephilie befragte. Co-Moderatorin war Produzentin Caroline Kirberg, das Gespräch ist in voller Länge auf unserem artechock-Kanal nachzuhören.
Am folgenden Tag verteilten sich dann die über fünfzig Teilnehmer*innen der Tagung, die aus der ganzen Bundesrepublik angereist waren, in ganztägige Workshops zu den Arbeitsbereichen Kino, Filmvermittlung, Plattformen und Filmförderung. Ich selbst schloss mich als Filmkritikerin, die nach wie vor den Kinobesuch als unerlässlich für das Filmerlebnis hält, der Kino-Gruppe an, die u.a. aus der Kinobetreiberin Jeanette Schlottig (Zazie-Kino Halle), Sabine Herpich vom Berliner fsk-Kino und Karsten Rodemann alias Graf Haufen von der Kreuzberger Videodrom-Videothek bestand.
Ziel war es, ein strategisches Papier zu erarbeiten, das nun eine Ergänzung zur Eingabe zur FFG-Novelle werden wird. Davor und dazwischen aber ging es immer wieder um eine Bestandsaufnahme des Status quo sowie um Ideen für mehr cinephile Kinokultur. Denn dass die Besucher*innen den Kinos fernbleiben, ist nicht allein ihnen zuzuschreiben. Auch die Betreiber*innen müssen ihren Kinoalltag überdenken, wenn sie wollen, dass die Leute wiederkommen.
Im Raum stand zunächst die Vielzahl der Filme, die sich wöchentlich gegenseitig kannibalisieren. Wäre hier mehr Flexibilität möglich, die von Seiten der Verleiher eingeräumt werden müsste, die den Kinos teils absurde Auswertungsschemata diktieren, wäre Freiraum geschaffen für eine persönliche Auswahl von Filmen durch die Kinobetreiber*innen. Man wäre dann schon auf halbem Weg zu einem kuratierten Programm, das sozusagen nur aus Filmempfehlungen bestünde, das Publikum könnte sich im Vertrauen auf die Auswahl alles ansehen. Das wäre ein Antidot gegen die Eventisierung des Kinoalltags, die Sabine Herpich beklagte.
Zugleich käme ein sozialer Aspekt hinein, eine Bindung ans Lichtspielhaus, vergleichbar vielleicht mit einem Restaurant, in dem man gerne essen geht, weil es einem einfach schmeckt. Stattdessen hat die Erfindung von »Arthouse«, das ursprünglich die kleineren Kinos – einst noch Programmkinos mit einem oft wechselnden Filmprogramm – stärken sollte, dazu geführt, dass die Besucher*innen sich als Kinopublikum zunehmend angeödet verabschieden. Einen Film zu sehen ist außerdem nur noch ein Programmpunkt im persönlichen kulturellen Wellness-Abend. »Wir wollen danach zum Italiener«, sei das Bedürfnis der Besucher, die Kino allein nicht mehr satt macht, erzählt Jeanette Schlottig. Es leuchtet ein: Filme, die zuvor auf den Magen schlagen oder schwer verdaulich sind, können da nur ein Hindernis sein. Appetizer sind da schon eher willkommen, was den großen Erfolg von Filmen wie Birnenkuchen mit Lavendel oder Der Wein und der Wind erklären könnte.
Weit gefehlt aber, würde man daraus folgern, dass Kinogehen so auch zum Lifestyle gehört. Der Kinobesuch bildet mit 1,5 Mal im Jahr die große Ausnahme in der Freizeitgestaltung, auch wenn man laut Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) immerhin auf insgesamt 105,4 Millionen Besuche kam.
Zum Vergleich: die deutschen Theater wurden laut Bühnenverein in der Saison 2016/17 (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) mit 20,4 Millionen Besuchen beehrt. Dass die Masse der Besucher im Vergleich zu dem eher geringen Aufkommen im Theater einer überwiegend kommerziell ausgerichteten Kinokultur überlassen wird, ist in Anbetracht der Subventionen in Milliarden-Höhe, die die Theater genießen, nicht nachvollziehbar. Für kulturell hochwertige Kinos, das wurde im Laufe des Tages klar, braucht es ebenfalls Zuschüsse, um die Lücke zwischen den wenigen von öffentlicher Hand finanzierten kommunalen Kinos und den vielen sich selbst überlassenen Lichtspieltheatern zu schließen, die angesichts ihres prekären Spielbetriebs kaum kommerziell genannt werden können.
Wie wenig man sich bei den offiziellen Stellen Kinos als Kultur vorstellt, zeigt auch das sogenannte »Soforthilfeprogramm für Kinos« für Städte unter 25.000 Einwohner. Insgesamt fünf Millionen Euro habe man dafür aus dem Bundes-Landwirtschaftsministerium locker gemacht, meldet die FFA im April. Wohlgemerkt: aus dem Landwirtschaftsministerium. Das Kino zu beackern ist wohl ein weites Feld.
Nicht konsolidieren lässt sich die weitverbreitete Annahme, am schwindenden Kinobesuch (13,9 Prozent beträgt laut Filmförderungsanstalt FFA der Rückgang der Ticketverkäufe 2018 gegenüber dem Vorjahr) seien die Streaming-Dienste schuld. Eine Studie hat jetzt gezeigt, dass starke Streamer auch überdurchschnittlich oft ins Kino gehen – hier scheint eine allgemeine Bewegtbildaffinität zu greifen. In konkreten Zahlen: 31 Prozent der Leute mit neun oder mehr Kinobesuchen im Jahr streamten fünfzehn und mehr Stunden pro Woche. Gehen die Leute nur ein oder zwei Mal ins Kino im Jahr, streamten sie überwiegend nur ein bis drei Stunden pro Woche (39%). Die Zahlen, die in den USA unter 2500 Befragten erhoben wurden, sind natürlich nur bedingt auf Deutschland übertragbar. Aber die Tendenz ist interessant. Es gibt sie also, die Omnivoren der Bewegtbilder: Serien, Arthouse, Blockbuster, alles wird geguckt, unterschiedslos.
Wie aber lässt sich ein Publikum »erziehen«, das nicht nur guckt, was ihm vorgesetzt wird, sondern das den Kinobesuch zur cinephilen, leidenschaftlichen kulturellen Praxis macht? Das im Anschluss an den Film nicht über die Qualität der Pasta, sondern über den Film diskutiert, auch streitet? Das darüber diskutiert, was einem der Film sagen wollte, ob man sich mit den Figuren identifizieren konnte und auch darüber, ob dies überhaupt ein Kriterium ist. Ist es ein Mangel, wenn Plotpoints fehlen, und ist ein Film schlecht, nur weil einen der Schluss enttäuscht hat? Den Geschmack der Bilder dabei lange auf dem Gaumen zu haben, die Dialoge immer neu auszuspucken und sich zu freuen, wenn im Freundeskreis jemand dabei ist, der sich die besten Sätze anscheinend locker merken konnte: auch das sollte zum Kinobesuch gehören. Und immer, immer wieder, der lustvolle Streit darüber, wie man den Film findet, ob der Film irrt, oder man selbst. Cinephil sein heißt auf keinen Fall: gleichgültig bleiben, und dem Film nur ein Achselzucken oder müdes »Naja« schenken. Dazu müssen natürlich auch erst einmal die richtigen Filme her.
Roma, der berühmt gewordene Netflix-Film, hat einen fulminanten Kino-Hype ausgelöst, wider Erwarten. Von Roma zu lernen, erscheint eine Möglichkeit, zeigt dann aber auch bald die Grenzen auf. Den Film hat von Anfang an eine Skandal-Erzählung mit dem Inhalt »Netflix ist böse« begleitet, als einwöchige Vorführ-Ausnahme wurde er dann doch in den Kinos gezeigt, die Netflix gnädig gestattete. Doch dann blieb der Film auf den Leinwänden, die Leute kamen und sagten es weiter. Der Film müsse zwingend im Kino gesehen werden, hieß es – aber das allein kann den Erfolg nicht ausgemacht haben. Die Besucher, angelockt durch den Hype, fanden einen mexikanischen Schwarzweißfilm vor, mit indigenen Dialogpassagen, über ein Dienstmädchen, in langen, elegischen Einstellungen. Das fanden sie anscheinend gut und sagten es weiter. Niemals, darin waren wir uns im Workshop einig, hätte der Film die Leute ins Kino gebracht, wäre er ohne die begleitende Erzählung gestartet, die späteren Oscars hin oder her. Und: Hätte Roma überhaupt einen Oscar bekommen, ohne die Netflix-Story?
Roma hat zumindest für Aufmerksamkeit gesorgt, endlich gab es wieder einmal den einen Film, den alle sehen wollten. Denn im Zuge der wöchentlich anlaufenden Vielzahl der Filme entzieht sich der Aufmerksamkeit der Besucher alles, was nicht blinkt oder grell leuchtet. Die immersiven Blockbuster mit ihren Superhelden behaupten lautstark, dass sie der Gegenentwurf zum Homekino sein könnten. »Nur hier findet sich das echte Kino«, rufen sie technikversessen mit Blick auf das Homekino, aus dem sie ihre Besucher rekrutieren. Special Effects und virtuelle Schauspieler, ein um 25 Jahre verjüngter Samuel L. Jackson (Captain Marvel) sind die Attraktionen, mit denen sie auf sich aufmerksam machen. Gerade die Multiplexe, Abspielstätten der Blockbuster, leiden jedoch am meisten unter der von ihnen selbst beförderten nicht-cinephilen Konsumhaltung, die aus den Popcorn-Verdrückern Couch-Potatoes gemacht hat und aus Kinogängern Kinofernbleiber.
Der seichte Arthouse-Film mit seinem nach Drehbuch-Rezepten und -Konfektionen entworfenen Immergleich bietet da kaum eine cinephile Alternative. Jetzt ist wieder Monsieur Claude an der Reihe, dem französischen Kino, der Wiege der Cinephilie, den Bankrott zu erklären. In dem leicht konsumierbaren Film lässt sich jeder noch so schamlose Witz weglachen (haha, alles nicht so gemeint!), der Wein und der Käse, der im Film aufgefahren wird, machen Lust auf einen stilvollen Abend zu zweit (haben wir schon lang nicht mehr gemacht!). Vom Film selbst bleibt ein schaler Nachgeschmack, der im besten Fall noch zu einer politischen Diskussion führt.
Von vielen Kinobetreibern weiß ich, dass sie Monsieur Claude selbst gar nicht schätzen, auch die offensive Verleihpolitik, nach der der Film in möglichst vielen Schienen eingesetzt werden soll, wirkt unsympathisch. Trotzdem will man am Kuchen mitessen und auch später wieder einen anderen Film des Verleihs beziehen. In München läuft Monsieur Claude 2 in dreizehn Kinos, in einem seltenen Schulterschluss von Multiplex und Arthouse, der deutlich macht, dass das Kino insgesamt dem Mainstream verfällt. Am heutigen Sonntag hätte ich allein in München 42 Mal die Möglichkeit, den Film zu sehen. Bundesweit läuft Monsieur Claude 2 in über fünfhundert Lichtspielhäusern. Das ist nicht Kinokultur, das ist Monokultur.
Und Kulturdarwinismus.
Verdrängt wird hier mit der Macht des Stärkeren, was nicht die notwendigen Ressourcen hat. Kleinere Kinos mit einem alternativen Programmangebot und Filme mit weniger Aufmerksamkeitspower haben das Nachsehen. Um diese besondere Schieflage in der Kinowelt auszugleichen, müssten die Verantwortlichen ein neues Fördersystem finden, das honoriert, wenn Kinobetreiber Alternativprogramme entwerfen, um die Kinokultur insgesamt wieder stark zu machen. Über die Nichtwähler wird viel nachgedacht, was ist aber mit denen, die nicht mehr ins Kino gehen, weil sie vom Kino enttäuscht wurden? Und doch wird all überall das Kinosterben bedauert.
Nur eine Film-Diät kann hier Abhilfe schaffen. Das scheint auf den ersten Blick paradox, aber nur wenn das Volumen reduziert wird, können wieder die Filme Aufmerksamkeit erhalten, die geeignet sind, die Cinephilie im Kinogänger zu befördern und ihn auch längerfristig für das Kino zurückzugewinnen. Einmal in der Woche den »besonderen Film« anzubieten, reicht hier nicht. Kinos mit einem kuratierten Programm aus einer Mischung von neu anlaufenden Filmen, kontextualisierendem Repertoire und lustbringenden Diskussionsveranstaltungen könnten ein Gegenentwurf für das Kino als Abspielstätte der Filmwirtschaft sein. Wichtig ist auch die emotionale Bindung an das Haus. Eine angenehme Atmosphäre trägt viel dazu bei, dass man wiederkommt. Das Wolf-Kino in Berlin führt so zum Beispiel vor, wie der Kinogang dann doch zum Lifestyle werden kann. Es hat sich zum angesagten Ort in Neukölln etabliert, der mit Bar und Restaurant auch tagsüber für Einnahmen sorgt. Die Filme sind handverlesen, das Programm ein wöchentliches »Best of« ohne Fehlgriffe, das Filmkunst ohne Arthouse-Mainstream zeigt.
Jeanette Schlottig vom Zazie-Kino in Halle macht dies ähnlich. Das Zazie ist eines von nur vier Kinos (darunter ein Multiplex mit zehn Sälen) in der sächsisch-anhaltinischen Großstadt mit 240.000 Einwohnern. Macht ein Kino für je 60.000 Einwohner. Dass hier keine Cinephilie entstehen und sich keine gewohnheitsmäßige kulturelle Praxis des Kinobesuchs ausbilden kann, liegt auf der Hand. Belohnt wird die Initiative, die die Filme nur im Original zeigt, jedoch nicht. Als Premierenhaus wird das 80 Plätze umfassende Kino von den Verleihern gerne übergangen, die Kinobetreiberin soll nachspielen. Das Kinomachen wird auch kaum von den öffentlichen Stellen honoriert, und so wird es zur monatlichen Herausforderung, erst einmal die Miete einzuspielen.
Auch das fsk-Kino in Berlin hat es angesichts der Gentrifizierung im Kreuzberger Kiez mit neuen Herausforderungen zu tun. Die jung-dynamischen Start-upper der Nachbarschaft bleiben dem Kino fern, das noch vor kurzem eine wichtige Adresse vor allem für das alternative französische Kino war. Ständig sollen neue Events ins Kino locken, Filmgespräche müssen organisiert, zusätzliches Honorar ausbezahlt werden. Das kostet viel Zeit und sogenannte Manpower, die wiederum bezahlt werden muss. Hinzu kommt der Druck von um die 60 Kleinfestivals und die Konkurrenz von 95 weiteren Kinos (laut FFA), die meisten mit mehreren Leinwänden. Das Bangen um die nackte Existenz ist gegeben.
Alternative Fördermodelle, die den besonderen Herausforderungen gerecht werden, sind dringend geboten, will man die Kinos mit wenigen Ressourcen und einem cinephilen Programm erhalten. Das ist auch wichtig, um die Menschen für die Kinokultur zurückzugewinnen. Es müsste neue Kriterien geben, die auch die Philosophie eines Kinos in den Blick nehmen. Wird das Kino als kultureller Ort lebendig gehalten? Gibt es eine sorgfältige Programmauswahl? Werden Filme gezeigt, die woanders kaum zu sehen sind? Ist das Kino geeignet, Filme zum Gesprächsthema werden zu lassen, durch sein besonderes Programm, durch Publikumsgespräche, durch einen besonderen Ort, zu dem das Publikum auch eine emotionale Bindung aufbaut und gerne wiederkommt? Werden Filme kontextualisiert, durch Einbettung in Gespräche, durch Vertiefung mit einem historischen Begleitprogramm?
Graf Haufen vom Berliner Videodrom, das für mich in den 2000er Jahren eine wichtige Quelle der Filmbildung war, hat die Filme, die dort weiterhelfen können, wo Netflix und Co. versagen. Die Videothek ist mit einem Bestand von 35.000 Filmen die größte Videothek Deutschlands und zugleich wertvolles Archiv für historische Filme, die heute kaum zugänglich sind. Sie bietet eine Art analoges Video on Demand nicht nur für Berlin. Das ist hier einen Hinweis wert, denn noch gibt es für den Cinephilen außer illegalen Bezugsquellen oder qualitativ miserablen Youtube-Videos kaum sichtenswertes Material zu finden. Auch eine derartige Videothek wäre eine Förderung wert.
Kinokultur ist jedoch in Deutschland, so lange sie keine Hoch- oder Leuchtturmkultur ist, weitgehend Privat- oder gar Ehrenamtssache. Es müsste neben der Möglichkeit, eine Grundsicherung fürs Kino zu beziehen, zudem einen cinephilen Fördertopf geben, der den Einsatz für die Kinokultur belohnt. Dazu könnten folgende Kriterien in Betracht genommen werden: Werden Filme kontextualisiert oder Formen der Vertiefung angeboten? Gibt es ein kuratiertes Filmprogramm? Gibt es Abspielmöglichkeiten für analoges Filmmaterial? Werden Filme in der Originalfassung gezeigt? Befindet sich ein Kino in einem strukturschwachen Ort? Ist das Kino in seinem Angebot einzigartig? Ziel sollte es sein, eine möglichst diverse Kinolandschaft vorzufinden und die Leute wieder für das Kino zu begeistern.