03.06.2021

Vor dem Massaker

Martin Eden
Das Kino wird an sich selbst und an seinen Filmen ersticken – auch an Martin Eden
(Foto: Piffl Medien)

Cruel Summer: Schluss mit dem Kino-Kitsch! Das Kino, wie wir es kannten, wird auf die Dauer so nicht überleben

Von Rüdiger Suchsland

»Hot summer streets and the pavements are burning, I sit around
Trying to smile but the air is so heavy and dry
Strange voices are saying (What did they say?) things I can’t under­stand
It’s too close for comfort, this heat has got right out of hand
It’s a cruel (Cruel), cruel summer/ Leaving me here on my own
It’s a cruel (It’s a cruel), cruel summer/ Now you've gone«

- Bananarama

Es ist der absolute Wahnsinn. Dieser Tage werden nicht nur die Filmtitel veröf­fent­licht, die in sechs Wochen beim Film­fes­tival von Cannes laufen werden. Sondern auch die Titel all jener Filme, die nach Öffnung der Kinos in diesen Kinos zu sehen sein werden.

Es geht wieder los. Die Nervo­sität ist unüber­sehbar.

Im Augen­blick ist es zwar im Einzelnen noch ein ziem­li­ches Durch­ein­ander; fast stündlich verschieben sich irgend­welche Start­ter­mine, es kommen welche hinzu, es fallen welche heraus, und heute Vormittag hatte zumindest ein Filmtitel zeit­gleich sogar gleich zwei offi­zi­elle Start­ter­mine.

Aber klar ist: Diesen Sommer kommt eine wahn­sin­nige Menge ziemlich guter Filme auf uns zu. Während ansonsten der Juni, der Juli und der August selbst dann, wenn kein Sport-Groß­er­eignis statt­findet, ziemlich film- und zuschau­er­schwache Monate sind, wenn es um die Zahl der Filme geht und erst recht um ihre Qualität, ist diesmal auch in dieser Hinsicht alles anders.
Kaum zu glauben, was da alles anlaufen soll!

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Godzilla vs King Kong, so heißt einer der ersten Filme, der bereits am 1. Juli starten wird. Der Titel passt besser als jeder andere, denn auch an der Kinokasse prügeln die Giganten aufein­ander ein: Nomadland, der von vielen über­schätzte und zu Unrecht gefeierte, aber publi­kums­wirk­same Oscar-Trium­phator wird die Wellness-Arthouse-Gemeinde ins Kino locken, und das Publikum von Maria Schraders Berlinale-Wett­be­werbs­bei­trag Ich bin dein Mensch allzu stark abziehen. Erst recht so, fürchte ich, wird es Sandra Wollners großar­tigem Panorama-Preis­träger vom Vorjahr, The trouble with being born ergehen. Ich hoffe, ich werde da widerlegt.

21 Filme starten allein an diesem ersten Tag des Kinos: Auch Wong Kar-wais In the Mood for Love wird an diesem Tag und keinem anderen wieder aufge­führt. Pepe Dankwarts Pasolini-Hommage Vor mir der Süden, ein herr­li­cher Sommer­film, kommt an diesem Tag heraus. Immerhin wurde Dominik Grafs Fabian oder Der Gang vor die Hunde um einen Monat nach hinten verschoben.

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Man fragt sich: Warum müssen alle diese Filme und all die anderen schon gleich am 1. Juli starten? Und findet doch die Antwort gleich in den nächsten Wochen: 14 Filme starten am 8. Juli. An den nächsten drei Kinodon­ners­tagen des Monats dann 12, 14 und 18 Filme, also insgesamt 79 Filme in einem einzigen Monat! Und das mitten im Sommer, in einer Zeit, wenn die Menschen schon des Wetters wegen lieber draußen an der Sonne und an der frischen Luft sind, und nach dem Kneipen-Lockdown es auch erstmal wieder genießen werden, im Bier­garten und im Restau­rant sitzen zu dürfen. Außerdem buhlt noch die Fußball-Euro­pa­meis­ter­schaft um Zuschauer.

Kann das gutgehen?

Und was für Filme! Der neue ziemlich gute Xavier Dolan (Matthias & Maxime). Die unge­wöhn­liche, sehr stilvolle und eigen­sin­nige Jack-London-Verfil­mung Martin Eden. Henrika Kulls Berlinale-Geheimtip-Renner Glück, ein über­ra­schender, sehr sinn­li­cher Film. Orphea von Alexander Kluge und Khavn de la Cruz – schon allein wegen Lilith Stan­gen­berg ein Muss. Thomas Vinter­bergs großar­tiger Film Der Rausch. Samirs Baghdad in my Shadow; Daniel Brühls Nebenan; Radu Judes Berlinale-Sieger Bad Luck Banging Or Loony Porn; Das Mädchen und die Spinne von Ramon und Silvan Zürcher, in seiner Beschei­den­heit einer der unge­wöhn­lichsten Filme des letzten Jahres; der neue François Ozon-Film Sommer 85 und schließ­lich Cate Short­lands Super­helden-Film Black Widow mit Scarlett Johansson und Florence Pugh und vieles vieles mehr.

Im August geht es dann so ähnlich weiter, neben Dominik Grafs Fabian oder Der Gang vor die Hunde und Michel Franco’s New Order kommen Woche für Woche mindes­tens 2-3 weitere Filme, wegen denen man unbedingt ins Kino gehen sollte.

Das wird nicht gutgehen! Dem Kino droht der Kollaps. Das Kino wird an sich selbst und an seinen Filmen ersticken. Ein Selbst­mord aus Angst vor dem Tode.

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Denn diese Filmtitel sind es ja nicht allein. Natürlich werden sie sich alle gegen­seitig kanni­ba­li­sieren in der Wahr­neh­mung durch das Publikum, im Kampf um verkaufte Tickets an der Kinokasse, und schon um Leinwand-Plätze in den Kinos. Natürlich ebenso, wenn es um Plätze für Film­kri­tiken geht. In den ohnehin schon schrump­fenden Kultur-Teilen der in Bedrängnis geratenen Tages­zei­tungen können so viel gute Filme auch beim besten Willen gar nicht adäquat bespro­chen werden. Im Radio immerhin gibt es noch relativ viele Plätze und Aufmerk­sam­keit, aber auch keines­wegs genug.

Was aber auch noch hinzu­kommt: Im Juli finden die Film­fest­spiele von Cannes statt. Sie werden in den Medien mehr Platz einnehmen als jeder noch so attrak­tive normale Kinostart. Bereits gute zwei Wochen nach dem Ende der Film­fest­spiele von Cannes geht das nächste A-Festival los, die Film­fest­spiele von Locarno Anfang August. Und wieder gute zwei Wochen danach beginnt Venedig. Es kommt Schlag auf Schlag. Mitte September, wenn Venedig dann gerade vorbei ist, beginnt San Sebastian. Parallel auch noch Toronto, das zumindest als Filmmarkt wichtig ist, und das von den deutschen Medien seit Jahren über Gebühr abgedeckt wird.
Vor allem aber gibt es zur gleichen Zeit noch viele andere gute inter­na­tio­nale und nationale Film­fes­ti­vals: Sarajevo, Ludwigs­hafen, Oldenburg und Hamburg, alles bis Anfang Oktober.

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Zugleich kommen mit diesen Film­ti­teln auch die noto­ri­schen Meckerer wieder aus ihren Lockdown-Löchern und erheben ihre Stimmen: Für diese selbst­er­nannten Publi­kums­ver­steher sind die aller­meisten dieser ganzen Titel »publi­kums­fern«. Nicht früh genug kann es endlich wieder den nächsten ameri­ka­ni­schen Block­buster geben, den nächsten Krach-Zack-Bumm-Super­helden-Film, die nächste Apoka­lypse in der Welt­ret­tung mit Explo­si­ons­kas­kaden.

Dabei ist es gut, dass nicht jeder US-Block­buster gleich im ersten Monat in die deutschen Kinos gekübelt wird. Es hieße auch, die Zuschauer zu unter­schätzen, wenn man glaubt, dass sie nur in neue ameri­ka­ni­sche Fast-Food-Ware gehen wollten. Von der gibt es ja trotzdem genug auf der Start­liste.

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Parallel dazu die nächste Diskus­sion. Sie ist alles andere als neu: Die unbe­frie­di­genden Pandemie-Konzepte. Die Beschrän­kungen, die die Kinos einst­weilen daran hindern, wieder »back to normal« zu gehen und so Kino zu machen wie vor dem März 2020.

»Wie vor dem März 2020« heißt aber auch: So transusig, konser­vativ und vor allem lang­weilig.

Es ist ja alles richtig: Kinos haben sich als sichere Orte erwiesen, und man hätte die Kinos über den ganzen Lockdown hinweg mit ein bisschen guten Willen offen halten können. Aber werfen wir doch nicht mit Nebel­kerzen!

Den Kinos geht es nicht so schlecht wie den meisten anderen in der Branche.

Viele Kinos ruhen sich auf den bequemen Corona-Hilfs­maß­nahmen aus und verwei­gern sich nach wie vor der Wiedereröff­nung. Das ist ein unhalt­barer, grund­sätz­lich falscher Zustand!

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Es läuft etwas grund­sätz­lich falsch, wenn es sich für ein Kino mehr lohnt, geschlossen zu bleiben als mit halber Zuschau­er­zahl zu öffnen.
Man soll den Kinos wie der ganzen Film­branche Subven­tionen geben, und im Zwei­fels­fall immer mehr, als sie schon bekommen. Das ist nicht die Frage. Aber wahr ist auch, dass die Subven­tionen, die es schon gibt, offen­sicht­lich falsch verteilt werden.
Offen­sicht­lich wird der Lockdown subven­tio­niert und die Öffnung nicht. Das muss sich grund­sätz­lich ändern. Man soll den Kino­be­trei­bern Subven­tionen geben, aber man sollte sie ihnen nur dann geben, wenn sie bereit sind, zu öffnen. Wenn sie Jobs schaffen, und seien es nur schlecht bezahlte Minijobs. Und wenn sie den ebenfalls subven­tio­nierten Verlei­hern und den ebenfalls subven­tio­nierten Film­pro­du­zenten wenigs­tens ein bisschen Geld zurück­zahlen.

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Statt­dessen erscheint seit 15 Monaten auf allen denkbaren Medien ein Kino-Kitsch-Beitrag nach dem anderen. Wenn ich lese, was da so alles über das Kino geschrieben wird und wurde, dann wird mir schlecht.

Diese schmie­rige Senti­men­ta­lität, diese Verklä­rung von Unglück, mieser Laune und Pedan­terie, von schlechtem Geschmack, Zuschau­er­ferne und Zynismus. Das Kino lebt, ja! Aber es lebt nicht wegen der Kino­be­treiber, sondern meistens trotz ihnen. Natürlich gibt es viele, viele Enga­gierte; viele Einzelne, die jede Unter­stüt­zung verdienen und nicht nur, weil sie kämpfen, nicht nur, weil sie gute Ideen haben, sondern viel­leicht auch, weil sie einfach viel Arbeit, Schweiß und Fleiß in ihr Kino stecken, weil sie ein gutes Programm machen, weil sie ihr Publikum pflegen.
Sofort könnte ich hier nun eine lange Liste solcher Kinos folgen lassen.

Aber bitte! Kann irgendwer mit gutem Gewissen behaupten, dass diese enga­gierten Kino­be­treiber die Mehrheit ihrer Branche ausmachen? Keines­falls. Im Gegenteil: Kein Bereich der Film­branche, zumindest der in Deutsch­land, ist derart altmo­disch, verknöchert und rück­wärts­ge­wandt wie die Szene der Kino­be­treiber. Das sollten wir hinter dem ganzen Schmuh, der Corona-Rhetorik und dem ganzen Gejammer über die schlechte Lage der Kinos nicht vergessen, sondern auch einmal offen ausspre­chen.

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Unglaub­lich viel wurde in den letzten 15 Monaten, nicht nur an dieser Stelle, sondern eigent­lich überall, über die armen, armen Kino­be­treiber geschrieben, die so sehr unter der Pandemie gelitten haben, obwohl sie die Einzigen waren, die vom Staat vernünftig entschä­digt wurden – im Gegensatz zu den Filme­ma­chern selber, (die in der ganzen Chose immer noch die einzigen Künstler sind), und im Gegensatz zu den Verlei­hern, die niemand entschä­digt hat.

Die armen Kino­be­treiber, die natürlich auch die letzten 15 Monate so wie die 15 Jahre davor nicht dazu genutzt haben, sich mal zu überlegen, wie sie die nächsten 15 Jahre eigent­lich überleben wollen, und was man dafür für Ideen haben könnte. Wie ein eigener Inter­net­auf­tritt aussehen könnte, eine dritte Leinwand, wie die Kommu­ni­ka­tion mit dem Teil des Publikums abläuft, das noch nicht das Renten­alter erreicht hat, wie man neue Zuschau­er­gruppen ins Kino locken könnte.

Und dann gibt es die Funk­ti­onäre und Verbands-Appa­rat­schiks eben dieser Kinos, die auch seit etwa 15 Jahren die gleichen Antworten haben, die sie in den letzten 15 Monaten gegeben haben, obwohl sie schon vor 15 Jahren falsch oder zumindest beschränkt waren: 1. Digi­ta­li­sie­rung von allem, das nicht bei 3 auf dem Baum ist; 2. die Sitze müssen besser werden und die Möbel moder­ni­siert; und 3. muss es natürlich weniger Filme geben, vor allem weniger Filme aus Deutsch­land.

Aber das Kino wird dadurch nicht zu retten sein! Es wird durch diese Kinos nicht zu retten sein, und schon gar nicht durch diese Kino­be­treiber. Wenn die letzten 15 Monate irgend­etwas gezeigt haben, dann, dass der Ort Kino nicht in der Lage ist, sich wie Münch­hausen selbst aus dem Sumpf der langsamen Vernich­tung zu ziehen.

Die Rettung des Kinos, des Ortes, den wir alle lieben und lebendig erhalten sehen wollen, wenn es denn überhaupt irgend­eine Rettung geben sollte, wird von außen kommen. Sie wird entweder von einer Kultur­po­litik kommen, auch wenn diese in den letzten 15 Monaten alles dafür getan hat, den letzten Respekt, den manche vor ihr noch hatten, zu verspielen. Oder die Rettung des Kinos wird von Film­schaf­fenden kommen und von jenen, die Filme woanders zeigen, auf Streaming-Platt­formen und auf Film­fes­ti­vals. Die Rettung des Kinos wird von Filme­ma­chern kommen und von Film­händ­lern und von Film­ku­ra­toren. Oder viel­leicht auch nicht. Viel­leicht reichen Nostalgie und Cine­philie doch am Ende nicht aus.

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An den grund­sätz­li­chen Problemen ändert all dies übrigens gar nichts. Sie hat schon vor einem Jahr Lars Henrik Gass recht präzis in einem nach wie vor lesens­werten Gespräch beschrieben, das ich damals mit ihm für den Film­dienst geführt habe.

Vor zwei Wochen legte nun Daniel Sponsel nach, ebenfalls im Film­dienst, ebenfalls in einem Interview, das ich dort mit ihm geführt habe.

Bei allen Unter­schieden in den Stand­punkten der beiden Festi­val­leiter gibt es auch Gemein­sam­keiten. Die aller­wich­tigste, die sich jeder und nicht nur jeder Filme­ma­cher und Kino­be­treiber und nicht nur jeder Förderer und Film-Politiker, sondern auch jeder Film­lieb­haber hinter die Ohren schreiben muss: Das Kino, wie wir es kannten, wird auf die Dauer so nicht überleben.