01.03.2020
70. Berlinale 2020

Komplexes Kleinod

The Trouble with beeing born
The Trouble with beeing born: Elaborierter, popcornbefreiter Futurismus
(Foto: Berllinale | Sandra Wollner)

Sandra Wollners The Trouble with Being Born geht der Frage nach, was Erinnerungen sind und wie wichtig sie für uns sind, wie sehr sie uns als Menschen definieren

Von Sedat Aslan

Sandra Wollner setzt an den Beginn ihres Filmes The Trouble with Being Born, der in der neuen Sektion »Encoun­ters« läuft, das Bild eines leblos im heimi­schen Swim­ming­pool trei­benden zehn­jäh­rigen Mädchens. Der besorgte Vater fischt es aus dem Wasser. Elli, so heißt das Mädchen, wird mittels eines elek­tro­ni­schen Device wieder­her­ge­stellt – sie ist ein Androide. Model­liert nach der echten Elli, die vor 10 Jahren verschollen ist, und program­miert mit Erin­ne­rungen, die Asso­zia­tionen bei Ellis Vater auslösen. Die Mutter ist nicht mehr da, Elli und ihr »Vater«, Georg ist sein Name, sind allein. Sie gehen, nennen wir es mal so, unüblich leiden­schaft­lich mitein­ander um – es ist wie eine Lolita-Geschichte im digitalen Zeitalter. Elli wird später zu Emil werden, ein ewig junger Bub bei seiner ergrauten Schwester.

So etwas hat man selten im Kino gesehen. The Trouble with Being Born ist ein Film über Pädo­philie, Inzest, vermisste und verun­fallte Kinder, nie verwun­denen Schmerz, die Schwie­rig­keit des Loslas­sens, die Flüch­tig­keit und Austausch­bar­keit von Erin­ne­rungen und die mensch­liche Hybris – und doch über nichts von alledem. Sandra Wollner erhebt die Irri­ta­tion zum Prinzip, tut dies aber auf eine verfüh­re­ri­sche Weise. Der Film läutet an lauter kleinen Glöckchen im Ober­s­tüb­chen, lädt zur Ausein­an­der­set­zung mit ihm ein, ohne einem eine einzig richtige Lesart vorzu­schreiben. Die wunder­bare Kamera von Timm Kröger tut ein übriges, Standort der Kamera und die Kompo­si­tionen zeigen, dass hier ein Könner am Werk ist, wie er das 4:3-Format einsetzt, erzeugt die Asso­zia­tion eines Foto­al­bums, außer der Bild­geo­me­trie sind es aber auch diese tief im Unter­be­wusst­sein veran­kerten flüch­tigen Momente, wie der Gang durch den heimi­schen Garten oder der durchs Wasser verzerrte Blick auf den Boden des Pools.

Die Androiden in Wollners Film sind gespens­tisch, dies wird erreicht durch Sili­kon­masken, die der Schau­spie­lerin Lena Watson (ein Künst­ler­name), ein unbe­hag­lich-realis­ti­sches Äußeres verleihen. Es sind aber auch in anderem Sinne Gespenster. Sie sind Geister vergan­gener Exis­tenzen und Erin­ne­rungen. Hier wird ein elabo­rierter, popcorn­be­freiter Futu­rismus gepflegt, der ganz auf uns selbst als Menschen der Jetztzeit verweist. Es finden sich Anklänge an entspre­chende Vertreter des Science-Fiction-Kinos, etwa Blade Runner, A.I. und Ex Machina. Analog zu Philip K. Dicks Roman »Do Androids Dream of Sheep?«, der die Vorlage zu Ridley Scotts Klassiker ist, könnte man fragen: Haben Roboter auch Menschen­rechte? Elli/Emil wird als emotio­nales Gefäß und physi­sches Spiel­ob­jekt von Menschen miss­braucht, deutet im Film aber an, so etwas wie eigenes Handeln und Denken zu besitzen. Am Ende wird aufge­worfen, inwiefern tief sitzende Erin­ne­rungen deter­mi­nie­rend für unser Leben sind, ein unaus­weich­li­ches Narrativ erzeugen können.

Dies sind nur einige der Fragen, die sich aus diesem komplexen Kleinod ergeben. Sandra Wollner ist gleich mit ihrem Abschluss­film visuell und narrativ ein großer Wurf gelungen, der nahelegt, dass die Regis­seurin im europäi­schen Kino in Zukunft eine wichtige Rolle einnehmen wird.