20.05.2021

Möglichkeiten starker ästhetischer Störungen

Dea Fortunata
Die heilige Filmfamilie kann sich wieder versammeln. Hier: Dea Fortunata, der bei »Cinema! Italia!« gezeigt wird
(Foto: Cinema! Italia!)

Das Werkstattkino und das Theatiner machen in München den Auftakt mit den Kino-Öffnungen. Jetzt wagt auch das DOK.fest den Schritt in den Präsenzmodus und zeigt den Gewinner des Online-Publikumspreises im City, Rio und Maxim

Von Dunja Bialas

Viel wurde über das Kino gesagt, um es in der Zeit exzes­siven Streamens gegen die Couch auszu­spielen. Es biete »Begeis­te­rung, Glück, Gemein­schaft« (Kino­kon­gress 2021, hier unser Bericht), sei »Erleb­nisort mit eroti­scher Kompo­nente« (Matti Bauer, Initiator von »Wir lieben Kino«) oder Begeg­nungsort der Stadt­ge­sell­schaft, an dem demo­kra­ti­sche und kultu­relle Diskurse statt­finden (die Autorin). Auf dem Sofa findet jedoch nicht nur die Verein­ze­lung des Indi­vi­duums statt, es drohen wohl auch die Verrohung der Umgangs­formen, Radi­ka­li­sie­rung und allge­meine Unaus­ge­gli­chen­heit, wie jüngst die Aufregung um #alles­dicht­ma­chen gezeigt hat. Das Kino hat außerdem natürlich die Vorzüge des Hightech-Dispo­si­tivs (»gut Licht, gut Ton«), das mit bekannten Claims beworben wurde: »Kino wie noch nie« und »Kino – dafür werden Filme gemacht«.

Gerade weil Corona uns einer­seits so verein­zelt, ande­rer­seits aber auch die Grenzen der Indi­vi­du­al­ge­sell­schaft west­li­cher Prägung vorge­führt hat, lohnt es, sich auf einen Grund­ge­danken des Kinos besinnen, um zu verstehen, weshalb das Kino als Publi­kums­ver­an­stal­tung heute so »unmöglich« erscheint und im Heran­nahen unsicht­barer Corona-Aerosole als so »gefähr­lich«.

So schrieb der Film­kri­tiker Rudolf Harms 1926 über das Kino:

»Der Film als Kollek­tiv­kunst strebt unmit­telbar nach Stätten des Massen­be­suchs. Kenn­zei­chen einer jeden Kollek­tiv­kunst ist, dass sie Massen zum gleichen Zwecke der ästhe­ti­schen Aufnahme ein und desselben Kunst­ge­gen­standes vereinigt. Dadurch pflegt sie Möglich­keiten starker ästhe­ti­scher Störungen für das Einzel­in­di­vi­duum in sich zu tragen.«

Jetzt öffnen bei einer Inzidenz von unter 50 in München die ersten Kinos. Das Werk­statt­kino hat Vorrei­ter­rolle über­nommen und macht bereits seit Dienstag Programm. Der Auftakt kommt mit Ruben Brandt, Collector, einem wahn­wit­zigen Zeichen­trick des unga­ri­schen Malers Milorad Krstić.

Werk­statt­kino: Kunstraub, Joe Dante und Jack Arnold

Ruben Brandt, Collector führt Kunstraub als thera­peu­ti­sche Maßnahme vor: Der fiktive Kunst­sammler Ruben Brandt will mit Gemälden seine inneren Dämonen besiegen. Aus den wich­tigsten Museen und Privat­samm­lungen der Welt lässt er Werke alter und neuer Meister stehlen, um seinen Albtraum­bil­dern ein Ende zu setzen. In einer fiebrigen Pop-Collage vermi­schen sich die Stil­rich­tungen und Geis­tes­strö­mungen des letzten Jahr­hun­derts mit Kult­filmen von Alfred Hitchcock und Quentin Tarantino, mit Termi­nator und Rambo.

In der Spät­vor­stel­lung zeigt das Werk­statt­kino Schätze von Joe Dante und Jack Arnold, die genauen Titel bitte beim Kino erfragen. Da kann man auch gleich einen Platz reser­vieren (089 / 260 75 20). Neu ist: Wegen der Einlass-Präli­mi­na­rien unbedingt 15 Minuten vorher da sein!

Theatiner: Charles Aznavour, Bruno Ganz und italie­ni­sche Filme

Am Freitag öffnet als zweites Münchner Kino das Theatiner. Es startet mit einem dem denk­mal­ge­schützten Ambiente und fran­co­philen Kino würdigen Film und zeigt Aznavour by Charles. Der Film besteht zur Gänze aus 16mm-Aufnahmen des fran­zö­si­schen Chan­son­niers, gedreht im Laufe von Jahr­zehnten, auf etlichen Reisen und im Durchgang fast ebenso vieler Ehefrauen, auf einer Kamera, die ihm Edith Piaf geschenkt hat. Eine private Sicht von Aznavour auf die Welt, die der Musikfilm-Produzent und Aznavour-Vertraute Marc di Domenico kompi­liert hat. Schau­spiel-Ikone Romain Duris spricht den Off-Kommentar, der aus Tage­buch­no­tizen und Inter­views mit Aznavour gewonnen wurde.

Außerdem zeigt das Theatiner den letzten Film mit Bruno Ganz. Winter­reise des Dänen Anders Øster­gaard ist ein in Teilen fiktio­na­li­sierter Doku­men­tar­film, in dem er Bruno Ganz den Vater seines doku­men­ta­ri­schen Prot­ago­nisten Martin Goldsmith spielen lässt. Goldsmith ist ein ameri­ka­ni­scher Radio­mo­de­rator, dessen Eltern vor Nazi-Deutsch­land in die USA flohen. Der Sohn will die Geschichte seiner Eltern rekon­stru­ieren, über die sie nie reden wollten, und arbeitet sich dabei auch an seinem Vater ab, der stets wie ein mächtiges Monument geschwiegen hat (Sonntag, 14 Uhr).

Das verlän­gerte Pfingst­wo­chen­ende entführt auch die, die nicht an den Gardasee fahren, nach Italien. Die Festi­val­tournee »Cinema! Italia!« war bereits für den November geplant, als die Kinos jäh geschlossen wurden. Umso leichter lässt sich das Programm jetzt wieder­be­leben. Insgesamt sechs italie­ni­sche Filme von 2019 werden gezeigt. Hier das Programm.

DOK.fest: Publi­kums­preis im City, Maxim und Rio

Nicht laut genug kann man dieser Tage das DOK.fest München loben (hier geht es zu unserem Special). Es reagiert auf die verän­derte Kino­si­tua­tion und zeigt spontan den Gewin­n­erfilm des Publi­kums­preises auf der großen Leinwand im Kinosaal. Spiel­stätten sind die Part­ner­kinos City Kinos, Neues Maxim und Rio Film­pa­last. Alle drei Kinos spielen konzer­tiert am Samstag, dem 22.5., um 20:00 Uhr. Die Liste der nomi­nierten Filme findet sich hier, entschieden wird am Freitag Mittag.

Die City Kinos und das Neue Maxim haben die Zeit der Corona-Schließung genutzt und renoviert, teilweise auch Sitz­reihen ausgebaut, um von vorne­herein den coro­na­kon­formen Sitz­kom­fort (Abstand: 1,5 m) zu gewähr­leisten.

Damit besteht die reelle Chance, dass eingelöst wird, was Harms 1926 für das Kino forderte:

»Der einmal notwen­dige Kollek­tivbau soll eine möglichst erhöhte leibliche Losgelöst­heit gewähr­leisten. Insofern handelt es sich: um die Verhin­de­rung eines In-Aktion-Tretens der 'niederen' Sinne und der daraus folgenden Leib­lich­keits­emp­fin­dungen durch bequeme Sitz­ge­le­gen­heit, entspre­chende Raum­ven­ti­la­tion sowie um eine bewusste Diri­gie­rung auch der höheren ästhe­ti­schen Sinne – Gesicht und Gehör – in einer ganz bestimmten Richtung.«

Mit hand­ver­le­senen und durch­dachten Programmen startet die neue Kino­saison in München jetzt genau in die richtige Richtung: als Feier des Kinos als Möglich­keit will­kom­mener ästhe­ti­scher Störung.