17.12.2020

Stay at home

FID Marseille
Das ist ein Publikum – und was für eins!
(Foto: FID Marseille)

Im Angesicht der zweiten Welle ein paar Gedanken über das Streamen, das Zoomen, das Kino

Von Dunja Bialas

Auch wenn wir jetzt alle wieder zuhause herum­sitzen und es sich so gar nicht danach anfühlen will: die Zukunft beginnt jetzt. Die zweite digitale Welle bricht wie ein Tsunami über uns herein, umfasst all unsere Lebens­be­reiche. Längst haben wir uns daran gewöhnt, Fernsehen nicht mehr linear zu prak­ti­zieren und selbst die »Tages­schau« mit einer Verspä­tung von fünfzehn Minuten mittels der guten alten Kassetten-Rewind-Funktion im Stream abzurufen. Filme, die wir im Kino verpasst haben oder die dort gar nicht zu sehen waren, gucken wir in Media­theken oder auf Strea­ming­platt­formen wie Mubi, Netflix oder Amazon. Das verschafft uns hyper­mo­dernen, gestressten Kreaturen entspannte Erleich­te­rung, weil wir jetzt (fast) nichts mehr verpassen, film­tech­nisch zumindest. Und jetzt »zoomen« wir auch noch, verlagern unser soziales Leben in die Flatness der angeb­li­chen Begeg­nungen. Home­of­fice, Zoomen, Streamen: Das ist der Dreiklang der sich digi­ta­li­sie­renden Existenz.

Vorbe­reitet wurde neben der perma­nenten Verfüg­bar­keit unserer Arbeits­kraft die Verfüg­bar­keit des Bewegt­bilds durch die erste digitale Welle, als die Kinos zu digitalen Abspiel­stätten umgerüstet wurden. Vorbei war die Faszi­na­tion des analogen Film­ma­te­rials, vorbei der sagen­hafte Ruf eines Licht­spiel­thea­ters, wenn es in den Besitz einer bestimmten Filmkopie gelangen konnte, auch die Diskus­sion um die Aura des Films – ein Kunstwerk im Zeitalter seiner Repro­du­zier­bar­keit und damit nach Walter Benjamin also ohne Aura, oder etwa nicht? – brach einfach ab. Es gab keinen Grund mehr, sich darüber den Kopf zu zerbre­chen. In Anbe­tracht der immer digitaler und damit auch funk­tio­naler, effi­zi­enter und abstrakter werdenden Welt war die Diskus­sion um Aura obsolet geworden.

Wirkten die Kino­be­treiber bei der ersten digitalen Welle noch eifrig mit, indem sie eigen­händig ihre Projek­toren auf den Müll warfen, und die Kopien gleich hinterher, kommt jetzt das böse Erwachen ange­sichts der zweiten digitalen Welle. Jetzt ist plötzlich die Rede von der notwen­digen Um- oder Zurüstung der Kinos zu einem virtu­ellen Kinosaal. In diesen sollen dann die Besucher »gehen«, wenn die Kinos gerade mal wieder geschlossen haben, oder eine Erwei­te­rung des regulären Programms in Empfeh­lung der Kino­be­treiber sein, die dann als Kuratoren wirken. Warum nicht. Den Big Streamern will man jeden­falls nicht die Kultur­ho­heit über­lassen. Das »Kino3« im Filmhaus Nürnberg gibt einen Vorge­schmack auf »Cine­mal­overs« (eine Initia­tive des Haupt­ver­bands Cine­philie und des Bundes­ver­bands Kommunale Kinos), beides Projekte, die noch genau zur rechten Zeit den Fuß in die Tür kriegen wollen.

Aber gräbt sich das Kino mit solchen Initia­tiven nicht zum zweiten Mal das Wasser ab? Auch Jörg van Bebber von Drop-out Cinema bereitet gerade eine digitale Abspiel­stätte seines Verleih­pro­gramms für »Filme ohne Verleih« vor, wie es auf der Website der Genos­sen­schaft heißt. »Gerade im Zeichen der Digi­ta­li­sie­rung steht die Kino­kultur vor großen Heraus­for­de­rungen«, heißt es dort. Gefragt wird: Wie kann man die Vorteile der Digi­ta­li­sie­rung für eine span­nen­dere Kino­kultur nutzbar machen? Und: Wie können Kultur­kinos mehr Publikum an sich binden?

Entschei­dend ist das Bekenntnis zum Kino. Das Kino, diese prekäre Kultur­stätte, die manche gerne ihrer Musea­li­sie­rung übergeben würden, wird von den Initia­tiven wie »Cine­mal­overs« und »Drop-out Cinema« an erste Stelle gesetzt. Die digitale Umrüstung ist anders als bei den großen Streamern kein Angriff des Digitalen auf die analoge Wirk­lich­keit, die möglichst ausge­schaltet sein will, damit mehr Leute zuhause auf dem Sofa sitzen bleiben und glotzen können. Bei Netflix beispiels­weise, dem Markt­führer in Deutsch­land, wachsen die Abon­nen­ten­zahlen weltweit in drei­stel­lige Millio­nen­höhe, allein für Deutsch­land progno­si­ti­ziert Digital TV Research für Ende des Jahres über 11 Millionen Abon­nenten. Der Gewinn liegt jetzt weltweit bei 789 Millionen US-Dollar, meldet netfli­xin­vestor.com im Oktober 2020. Vorbei also die Zeiten, als Netflix an der schwarzen Null vorbei­schrammte, weil der Gewinn zur Gänze in neue Projekte gesteckt wurde.

Streaming und Kino­be­such müssen jedoch einander nicht ausschließen, das haben Studien aus der Zeit vor Corona deutlich gemacht. Es können sich gute Synergien entwi­ckeln, betont auch Kino­be­treiber Thomas Kuchen­reu­ther im artechock-Interview. Und ange­sichts des teilweise doch sehr mittel­präch­tigen Film­an­ge­bots könnten (und sollten) die Kino­be­treiber und Verleiher von der im Netz ange­bo­tenen Vielfalt sogar noch lernen.

Das alles sind gute und richtige Entwick­lungen, auch hier bei »artechock« werden wir davon erfasst – auch wenn es uns Cineasten, die am liebsten im Kino in der dritten Reihe sitzen, in der Seele weh tut. Aber auch wir sehen gute Gründe für einen notwen­digen Neustart des Kinos, der nach ganz anderen Modellen verlangt.

Welche Modelle die richtigen sind, können wir nur auspro­bieren, und mit ihnen werden wir uns in der nächsten Zeit zumindest in Gedanken befassen. Auf jeden Fall sollten wir weder den großen Konzernen die Markt­macht über­lassen, noch können wir den Gang und den Wandel der Zeit aufhalten. Eine voll­s­tän­dige Rückkehr in die Kinos wird es wohl nicht mehr geben, dafür haben die Ereig­nisse 2020 zu sehr als Kata­ly­sator gewirkt: In diesem verflixten Corona-Jahr sind die Kinos jetzt fünf lange Monate geschlossen gewesen und immer noch auf unab­seh­bare Zeit zu.

Aber selbst wenn das Kino auf lange Sicht eine andere Rolle in unserem sozio­kul­tu­rellen Dasein führen wird, worauf sich das ganze kultu­relle System einstellen werden muss, bleibt eines gewiss: Das Publikum eines Films ist mehr als der einsame Streamer auf der Couch. Publikum bedeutet wörtlich Öffent­lich­keit, Gemein­schaft von einander unbe­kannten Menschen. Auch wenn es eine viel geäußerte Platitüde sein sollte, es stimmt: Im Kino werden gemeinsam Emotionen durchlebt, gemeinsam Geschichten durch­litten, gemeinsam dem Unbe­kannten und Fremden begegnet (wahlweise nach Sigmund Freud und C.G. Jung). Das Kino ist glei­cher­maßen Ort und Höhle von Horror und Science-Fiction, von Romance und Gangs­ter­film. »Loving the Alien«, der Titel eines Film­kon­gresses, der 1997 in Berlin stattfand, war treff­si­cher xenophil und phil­an­throp.

Der gesell­schafts­bil­dende Stel­len­wert der Kultur wird in unserem kultur­feind­li­chen Land jedoch kaum wert­ge­schätzt, »höchstens mit dem Mund«, wie man so schön sagt, wenn Floskeln und Leer­for­meln fallen, um den Wert der Kultur zu benennen. In Frank­reich hätte man hingegen in diesen Tagen fast die Kinos und Theater wieder aufge­macht, obwohl immer noch Ausgangs­sperre herrscht. Der Besuch einer Vorstel­lung hätte als triftiger Grund gegolten, das Haus zu verlassen.

Das stelle man sich mal für Deutsch­land vor. Jetzt aber hat sich auch in Frank­reich die Corona-Chart wieder sehr ungünstig entwi­ckelt, die Kinos und Theater bleiben nun doch zu.

Das Motto für alle lautet daher weiterhin: Stay at home.

Und so lange wir zuhause bleiben müssen, denken wir eben weiter über den Sinn von allem nach. Über den Sinn von Arbeit, Liebe, Kino. Und auch über den Sinn von Home­of­fice, Zoomen, Streamen.