06.05.2021

Solidarität als Störung

Was wahrscheinlich passiert wäre, wäre ich nicht zuhause geblieben
Im Shutdown-Modus: Willy Hans mit Was wahrscheinlich passiert wäre, wäre ich nicht zuhause geblieben
(Foto: Kurzfilmtage Oberhausen / Spengemann, Eichberg, Goldkamp, Hans)

Die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen warten in ihrer zweiten Online-Ausgabe mit neuen Wettbewerben, großen Profilen und einem Thema auf, das dem Zeitgeist auf die Sprünge hilft

Von Dunja Bialas

Eigent­lich sollte es diesmal wie immer sein. Oder fast. Als Festi­val­leiter Lars Henrik Gass im September letzten Jahres einen neuen Online-Wett­be­werb ausrief und damit sein Programm signi­fi­kant erwei­terte, dachte er an eine Ergänzung zu den Kurz­film­tagen in den Ober­hau­sener Kinos. Die Erfahrung, die er letztes Jahr mit der Corona-Online-Ausgabe gemacht hatte, war sehr gut, mit erhöhten Besu­cher­zahlen und einer gestei­gerten Aufmerk­sam­keit durch den neuen Festival-Channel: das ganze Jahr über Talks und Streams, mit neuen Inhalten kommt auch neue Reich­weite. Wo alles neu ist, abstra­hiert sich der Ort des Festivals zum virtu­ellen »Ober­hausen«, das mehr und mehr zur Marke wird. Während niemand mehr in die Ruhrpott-Stadt pilgert. Zur Zeit zumindest.

Aber: Es wird wieder gestreamt! Corona sei dank. Die Unter­schei­dung zwischen Online- und Kino-Wett­be­werb ist zumindest jetzt in der Rezeption obsolet, kann aber für die Zukunft im Kopf behalten werden. Denn der Online-Wett­be­werb soll bleiben. Welche Filme dann in welchen Wett­be­werb kommen, entscheidet nicht zuletzt ihr Premie­ren­status. Das Folgende bitte immer schneller lesen: Im Online-Wett­be­werb genügt die deutsche Premiere für den inter­na­tio­nalen Wettbwerb, der deutsche Wett­be­werb kommt sogar ganz ohne Premiere aus. Für den Wett­be­werb, der nur vor Ort in den Kinos zu sehen ist, wird mehr Exklu­si­vität verlangt, da muss es dann die inter­na­tio­nale Premiere für den inter­na­tio­nalen Wett­be­werb und die deutsche für den deutschen Wett­be­werb sein. Alles klar?

Digi­ta­li­sie­rung als Demo­kra­ti­sie­rung

Wie auch schon letztes Jahr sind nun also alle Filme online abrufbar, auch die mit den stren­geren Zugangs­vor­aus­set­zungen. Und dies weltweit. Gass ist gegen Geoblo­cking. In seinem Eröff­nungs­talk in der leeren Lichtburg, sonst immer bis in die oberen Ränge gefüllter zentraler Spielort der Kurz­film­tage, spricht er vom Effekt der »Demo­kra­ti­sie­rung«, den das Streamen auf Festivals habe. Im Online-Modus würden die Filme im Prinzip jedem zugäng­lich werden. Das stimmt: Weder braucht es Reisepass noch Budget, ein guter Inter­net­an­schluss und höchstens 15 Euro für den Festi­val­pass – was extrem billig ist – genügen. Zumindest Online-Ober­hausen hat den Nimbus des Elitären abge­streift. Die Kurz­film­tage können nämlich durch seinen intel­lek­tu­ellen Leiter und eben­sol­chen Fach­be­su­chern auch wie eine unzu­gäng­liche und nerdige Bubble wirken.

Mit dem globalen Stream igno­rieren die Kurz­film­tage jedoch beharr­lich den Konsens der deutschen Online- oder hybriden Festivals, nur geoge­blockt »auf Sendung« zu gehen. Ober­hausen mani­fes­tiert nun mal seinen Anspruch, das weltweit wich­tigste Kurz­film­fes­tival zu sein. Nicht ausge­schlossen, dass andere Festivals durch die höhere Filmzahl und die feste Veran­ke­rung des Streamens im Konzept tatsäch­lich bedrängt sein könnten. Womit sich die letztes Jahr aufge­wor­fene Frage nach der Verdrän­gung kleinerer Festivals durch die großen Pole-Position-Streamer wohl auch in Zukunft stellen wird.

Kultur­po­litik und Film­dis­kurs

Den Ruf als weltweit bedeu­tendstes Kurz­film­fes­tival verdankt Ober­hausen den unter­schied­li­chen Akteuren seiner Geschichte, die es kultur­po­li­tisch für neue Wege zu nutzen wussten. Die jetzt schon zum 67. Mal statt­fin­denden Kurz­film­tage konnten in der Vergan­gen­heit etliche Pflöcke in die Kultur­land­schaft schlagen. Der Gründer Hilmar Hoffmann brachte 1954 mit seiner Idee der »Kultur für alle« den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Gedanken der Zugäng­lich­keit jenseits von Bildungs­klassen auf, das Ober­hau­sener Manifest rief 1962 den neuen deutschen Film aus und trug durch die revo­lu­ti­onäre Strahl­kraft maßgeb­lich zum welt­weiten Ruhm des Festivals bei. Lars Henrik Gass, seit 1997 Leiter des Festivals, hat aus der Beob­ach­tung, dass sich die inter­es­santen Filme immer mehr aus dem Kinoraum zurück­ziehen (etwa weil sie der kommer­zi­ellen Markt­me­chanik nicht gehorchen) eine viel rezi­pierte Theorie zum Kino entwi­ckelt mit der wichtigen Forderung der »Musea­li­sie­rung«, also kultur­ge­för­derte Film­häuser ähnlich den kommunal oder staatlich finan­zierten Museen zu instal­lieren. Last not least wurde die Woche der Kritik Berlin 2015 während der Kurz­film­tage ins Leben gerufen. Revo­lu­tionen nehmen ihren Anfang in Ober­hausen.

Jenseits kultur­po­li­ti­scher Anliegen wird auf den Kurz­film­tagen aber natürlich auch intensiv über den Film nach­ge­dacht. Auch die Online-Ausgabe eröffnet einen Diskus­sions- und Diskurs­raum mit Live-Gesprächen mit den Filme­ma­cher*innen, außerdem gibt es einen Festi­vals­pace für zwanglose und, ja, inter­ak­tive Treffen.

Der Online-Wett­be­werb: Trans­ge­nera­tionen

Bis zum Dienstag waren ausschließ­lich die Beiträge des Online-Wett­be­werbs (OWB) zu sehen, deutlich vom übrigen Festi­val­pro­gramm abgesetzt. Erst seit Mittwoch läuft der fürs Kino gedachte deutsche und inter­na­tio­nale Wett­be­werb in eng gezurrten Zeit­fens­tern, die eine Kino­vor­füh­rung simu­lieren (bis 10. Mai). Eine quali­ta­tive Unter­schei­dung von Online- und Kino-Wett­be­werb gibt es jedoch nach der Sichtung der ersten Programme wohl nicht. Die Online-Filme können mit den Ober­hausen-Standards mithalten; sie sind jung, expe­ri­men­tell, oft doku­men­ta­risch, niemals ober­fläch­lich unter­haltsam. Und immer auf der Suche nach etwas Neuem, Beson­derem, Anderem.

So ist im deutschen OWB Willy Hans’ auf 16mm gefilmter Was wahr­schein­lich passiert wäre, wäre ich nicht zuhause geblieben eine witzig-ironisch-lakonisch-melan­cho­li­sche Antwort auf unseren Shutdown-Modus. Fünf Frauen und Männer hängen in einer Wohnung ab, wärmen ihre Füße an der Heizung, sitzen auf abge­wetzten Sesseln und reden über das, was sie beschäf­tigt: »trans­ge­nera­tio­nelle Vererbung von Trauma und Schuld« und »anti­vi­rale Wirk­stoffe und deren Neben­wir­kung«. Es wird geplau­dert, unter­schwellig auch viel gelästert, aber wichtig ist dann doch vor allem, wie man eine Flasche Rotwein ohne Korken­zieher öffnet. Der »comple­tely safe space« des Innen­raums ist dann auf einmal gar nicht mehr so safe. Kame­ra­mann Paul Spen­ge­mann filmt im Close-up, verengt den Innenraum auf grob­kör­nige, sehr lebendige Portrait­auf­nahmen, anders als die, die uns heute als frozen Zombies im Zoom verfolgen. Draußen werden Autos zertrüm­mert. Es ist Curfew, ein Zustand mindes­tens wie in Kreuzberg am 1. Mai oder wie in Giesing, wenn die 1860er ins Stadion einziehen. Drinnen gehen derweil die banalen Gespräche weiter, ein Seelen­zu­stand unserer Zeit.

Im inter­na­tio­nalen OWB stach das Werk einer expe­ri­men­tellen Filme­ma­cherin heraus, zu der man sich sofort ein »Profil«, eine der Sektionen der Kurz­film­tage, wünschen würde. Vivian Ostrovsky ist eine in Paris lebende Expe­ri­men­tal­fil­me­ma­cherin und Wegbe­glei­terin von Chantal Ackerman und Sonia Wieder-Atherton. Son Chant ist ein flüch­tiges Doppel­por­trait der Filme­ma­cherin und der Cellistin, die über die Video­ak­ti­vistin Delphine Seyrig zusam­men­ge­funden hatten. Die rauchige Stimme von Ackerman, das Cello­spiel von Wieder-Atherton, dazu viele Film­aus­schnitte erstellen eine kalei­do­sko­par­tige Film­phi­lo­so­phie.

Poem und Apoka­lypse: Melika Bass

Das »Profil« im Online-Programm galt der ameri­ka­ni­schen Künst­lerin Melika Bass. Turn the Garden (2016) montiert Amateur-Aufnahmen namen­loser Familien aus mehreren Jahr­zehnten, die aus dem Chicago Film Archive entstammen. Das Found-Footage-Material umspannt Schwarz­weiß­auf­nahmen von Beginn des letzten Jahr­zehnts, eine bäuer­liche Familie, die Aufnahmen zeigen analoge Vorführ-Artefakte. Dann kommen die 50er Jahren mit den Wohl­stands­em­blemen, der Likör auf der Couch, das Auto vor der Tür, der Hund darf die Hand abschle­cken. Dann ein Wechsel in die Farbe, man sieht eine bemühte Faschings­feier, während draußen, Schnitt, anderes Material, schwarz­weiß, eine Siedlung brennt. Ein beklem­mend eindring­li­ches und auch apoka­lyp­tisch anmu­tendes Poem, das ein ganzes Jahr­hun­dert skizziert, und das man wie so viele andere Filme auch auf der großen Leinwand hätte sehen wollen.

Oder Waking Things (2011). Wegen seiner langsamen, dunklen Einstel­lung nur bedingt für den Stream geeignet, entfaltet sich die detail­reiche Fantasie von einem Paar, das abge­schieden in einer Hütte in der (post­apo­ka­lyp­ti­schen) Wildnis lebt. Ein Festmahl wird zube­reitet, archaisch und elementar, Brot geknetet, eine Zwiebel geschält. Waking Things ist ein Film der Gesten – der Hände, der Füße –, der Natur und überhaupt des Körper­haften, Substan­ti­ellen. Ein so sinn­li­ches wie unheim­li­ches Stilleben.

Soli­da­rität als Störung

In den nächsten vier Tagen wird es mit dem »Kino­pro­gramm« weiter­gehen. Darin enthalten sind zwei weitere Wett­be­werbe, inter­na­tional und deutsch, drei weitere »Profile«, die der tsche­chi­schen Künst­lerin Marie Lukáčová, dem belgisch-kongo­le­si­schen Rapper Baloji und der finni­schen Video­künst­lerin und Foto­grafin Salla Tykkä gewidmet sind. Lohnens­wert ist auch das »Thema« »Soli­da­rität als Störung«, das, bereits 2019 fest­ge­legt, dieses Jahr endlich abge­halten wird, eine Fort­set­zung soll im nächsten Jahr kommen. »Soli­da­rität als Störung« ist ein Film­pro­gramm zum »revo­lu­ti­onären Potenzial der Soli­da­rität«. Einer der Ausgangs­punkte sind die Filme der »Schwarzen Welle«, die im Jugo­sla­wien der 1960er Jahre entstanden sind. Es geht um die Sicht­bar­keit von Auslän­dern, um Film als Inter­ven­tion und um Modelle soli­da­ri­schen und parti­zi­pa­tiven Filme­ma­chens. Das klingt auch sehr heutig – die Filme gehen bis ins Jahr 2020 hinein.

Bereits zu sehen war der doku­men­ta­ri­sche Arbeiter-Schwank Ljubav (R: Vlatko Gilic, Jugo­sla­wien 1972) von einem Brücken­ar­beiter, der von seiner Frau zum Picknick im Grünen abge­or­dert wird. Aus unend­li­cher Baustel­len­höhe folgt er ihrem Ruf, klettert die Himmels­leiter hinab zu seiner Frau, die auf einem Bret­ter­ver­schlag sorg­fältig Tisch­decke, gebra­tenes Huhn und ein Getränk, das gefähr­lich nach Sliwowitz aussieht, ausbreitet. Über ihnen die mächtige Baustelle. Hier kodiert sich mehrfach die Störung durch Soli­da­rität: das Essens­ge­lage ist eine Störung im prole­ta­ri­schen Werk, die Frau sorgt sich um ihren Mann, zieht ihn aber auf die Seite des Müßig­gangs. Dieser ist unruhig, schaut immer wieder zur Baustelle – und klettert, nach dem soli­da­ri­schen Akt, seiner Frau beim Essen Gesell­schaft geleistet zu haben, zurück zu seinem Tagwerk.

Das Thema, die »Soli­da­rität als Störung«, das sagt uns dieser Film, muss man – in einer Zeit des »Impfneids«, der vulnerablen Alten, der zurück­ste­ckenden Jungen, des vor Corona besonders zu schüt­zenden Preka­riats und einer zunehmend parti­ku­laren Gesell­schaft – gar nicht so sehr als sich beschei­denden Altru­ismus verstehen. Im Programm finden sich Filme, die Störung auch als Verstö­rung insze­nieren, und hinter­sin­nige Moritaten, die den platten Mora­li­sie­rungen unserer Zeit einen wohl­tu­enden Tritt in den Hintern verpassen.